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Warum es Sinn macht, schon mit 16 zu wählen Fina Girard, Klima- und Jugendstimmrechtsaktivistin

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Das Basler Rathaus ist rot, zinnoberrot. Klar, nennt man es also «Roothus», dachte ich, wenn mich meine Eltern als Kind jeweils zum Abstimmungslokal mitnahmen. Die lange Schlange kurz vor zwölf am Sonntagvormittag, verbunden mit dem besonderen Nervenkitzel, ob wir es noch rechtzeitig zur Wahlurne schaffen, und mit der leisen Vorfreude auf das Schöggeli, das mir eine freundliche Wahlhelferin zustecken würde: Wahlsonntage waren aufregend und sind mir darum bis heute sehr in Erinnerung geblieben.

Ich hatte das grosse Glück, dass mich meine Eltern mit meinem Interesse für das politische Geschehen ernst genommen haben. Auf dem Schulweg studierte ich als Primarschülerin die bunten Wahlplakate und entzifferte mühselig die grossen Lettern. Sie schienen wichtig zu sein, tauchten sie doch plötzlich an allen Ecken und Enden der Stadt auf, um bereits bald darauf wieder zu verschwinden und erst in ein paar Monaten wieder aufzutauchen. Zu Hause angekommen, löcherte ich meine Eltern am Küchentisch mit Fragen. Nie bekam ich dabei ein: «Das verstehst du noch nicht», nie ein: «Das ist eine Sache der Erwachsenen» zu hören. Zugegeben: Ich gähnte zwar manchmal verstohlen, wenn mein Vater geduldig versuchte, mir eine Finanzreform zu erklären. Aber mir wurde erklärt, wonach ich fragte, und ich wusste, dass auch ich eines Tages mein Stimmcouvert in die Urne legen darf, im roten Basler Rathaus. Mein Interesse für Politik und Gesellschaft hat mich seither nie losgelassen.

Ich gehöre zur Generation Klimastreik. Als ich an einer grossen Klimademo am 2. Februar 2019 Flyer mit den Demoparolen verteilte, hatte ich Tränen in den Augen. Von allen Richtungen strömten Junge, Alte, Familien und Freundesgruppen auf den Barfüsserplatz, unter ihren Armen und auf ihre Gepäckträger hatten sie bunte Plakate geklemmt. Es fühlte sich befreiend an, mit den eigenen Sorgen und Hoffnungen nicht mehr allein zu sein. Die Klimastreiks haben niemanden kaltgelassen, besonders nicht diejenigen unter 18.

Jede und jeder, ob begeistert oder kritisch, bildete sich eine Meinung dazu, und in Schulhöfen und am heimischen Küchentisch wurde über den Klimawandel und den Sinn und Zweck der Streiks diskutiert. Gleichzeitig twitterten namhafte Politikerinnen und Politiker darüber, ob die Klimastreikenden sich nicht lieber in einer Partei engagieren sollten, anstatt die Schule zu schwänzen. Klimastreikenden, die bereits Mitglied einer Partei waren, wurde wiederum vorgeworfen, eine angeblich naive, hysterische Jugend zu instrumentalisieren. An den Sitzungen des Klimastreiks lachten wir manchmal etwas verzweifelt über diese paradoxen Vorwürfe.

Mir und vielen anderen Jugendlichen ging es ähnlich: Wir waren perplex und fühlten uns machtlos. Irgendetwas schienen wir ja richtig gemacht zu haben: Die Klimabewegung erhielt in der Bevölkerung überraschend viel Zuspruch und dominierte die Medien über Wochen. Dennoch schienen unsere Forderungen in ihrer Dringlichkeit nicht zu denen vorzudringen, an die sie gerichtet waren: Parlamente, deren Mitglieder ein Durchschnittsalter von über 50 Jahren haben, fällen kaum Entscheide, die über den Zeitrahmen bis zur nächsten Wahl hinaus Wirkung tragen. Junge Themen fristen ein Nischendasein und stehen auf der politischen Agenda weit unten.

Es war und ist also eine logische Schlussfolgerung aus der Politisierungswelle der Klimastreiks: Die Jugend kann und muss bei politischen Entscheiden mitbestimmen. Ist es denn nicht die Aufgabe einer Demokratie, die gesamte Bevölkerung zu Wort kommen zu lassen und sie in ihren Parlamenten zu vertreten?

Die Vorstellung, dass meine Grossmutter 44 Jahre alt werden musste, bis sie zum ersten Mal an einer nationalen Abstimmung teilhaben konnte, macht mich daher immer wieder sprachlos. Meine Grossmutter war kein Heimchen am Herd, das sich nicht um Politik scherte. Neben ihrem langjährigen Engagement als Pfarrfrau für das gesellschaftliche Leben einer Landgemeinde, natürlich unentgeltlich, zog sie fünf Kinder gross. Hunderttausenden starken Frauen wie ihr trauten die Herren dieses Landes jedoch nicht zu, sich eine eigene Meinung bilden zu können und diese auch zu vertreten. Ich weiss, dass ich es der unermüdlichen Arbeit von Generationen oft vergessener, aber unglaublich mutiger Frauen zu verdanken habe, dass ich heute als junge Frau so selbstverständlich am politischen Geschehen teilnehmen kann. Unsere Demokratie dürfen wir keineswegs für selbstverständlich nehmen. Sie ist das Ergebnis jahrhundertelanger Arbeit. Unsere Demokratie ist kostbar und muss bewahrt werden. Das Interesse an der Politik und damit die Freude am politischen Mitgestalten müssen darum stets an die nächste Generation weitergegeben werden. Wählen und Abstimmen sollte eine Plattform für Austausch und Mitgestaltung sein, die auch uns Jugendlichen offensteht. Politiker*innen fahren jedoch fort, uns kleinzureden, während uns gleichzeitig bereits mit 16 Jahren zugetraut wird, wegweisende Entscheidungen in Ausbildung und Berufswahl zu treffen. Das Teilnehmen an politischen Entscheiden, die unser Leben langfristig beeinflussen können, wird uns dagegen untersagt.

Mit der Senkung des Stimmrechtsalters auf 16 Jahre könnten Jugendliche auf ihrem Weg zu aktiven Stimmbürger*innen begleitet werden. Denn unser jetziges Bildungssystem lässt uns Jugendliche in politischen Fragen alleine. Wer keine weiterführende Schule besucht, hat je nach Kanton das politische System der Schweiz im Unterricht kaum kennengelernt. Eine Studie erfasste 2017, dass die Hälfte aller Schweizer Jugendlichen das Gefühl hat, wenig bis gar nichts über die Schweizer Politik zu wissen.48 Das ist nicht der Fehler von uns Jugendlichen. Wer möchte, dass wir uns nach dem Erreichen der Volljährigkeit aktiv am politischen Geschehen beteiligen, muss uns von Beginn an ernst nehmen und Möglichkeiten zur Partizipation schaffen. Nur wer schon früh vermittelt bekommt, dass die eigene Meinung etwas zählt und wahrgenommen wird, hat langfristig Lust daran, sich zu engagieren.

Letzten Herbst bin ich volljährig geworden. Mein 18. Geburtstag fiel exakt auf den Tag der Nationalratswahlen am 20. Oktober 2019. Ich freute mich unglaublich auf meinen ersten Urnengang, telefonierte schon Monate zuvor mit dem zuständigen Amt, um nachzuhaken, ob ich denn auch wirklich bereits an meinem Geburtstag stimmberechtigt wäre. Erstaunlich, aber wahr: Auf dem Amt wusste man das zuerst nicht. Vermutlich war ich die Einzige, die jemals die Frage gestellt hat, ob man schon am Tag der Volljährigkeit abstimmen gehen darf.

Das geringe politische Interesse der Jugendlichen vor der «Generation Klimastreik» ist vielleicht das Ergebnis davon, dass sie in ihrer Jugend nie ernst genommen wurden. Die Millennials waren keine Wegbereiter für uns. Sie haben Vorurteile gegenüber Jugendlichen, wie «politisches Desinteresse» und «geringe Wahlbeteiligung» gefestigt. Dabei weiss ich, dass viele junge Menschen in der Schweiz heute, genau wie ich bis vor Kurzem, ungeduldig auf den Tag warten, an dem sie zum ersten Mal abstimmen dürfen. Ich wünsche mir, dass sie nicht auf ihren 18. Geburtstag warten müssen.

Mein Wahlcouvert lag schliesslich doch im Briefkasten. Am Sonntagmorgen radelte ich, wie früher mit meinen Eltern, zum Wahllokal in der Innenstadt. Stolz liess ich meinen Wahlzettel in die Urne gleiten, im zinnoberroten Basler Rathaus. Wie lange hatte ich diesen Moment herbeigesehnt.

Anmerkungen

48 www.dsj.ch/blog/politische-partizi pation-von-jugendlichen/wie-ticken-jugendliche-politisch-in-der-schweiz (abgerufen im April 2020) (abgerufen im April 2020)

50 Jahre Frauenstimmrecht

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