Читать книгу (Des)escribir la Modernidad - Die Moderne (z)erschreiben: Neue Blicke auf Juan Carlos Onetti - Группа авторов - Страница 19
I.
ОглавлениеDas fiktive Santa María bildet einen eigenen Kosmos innerhalb von engen Grenzmauern im ɶuvre von Onetti, es ist als Schauplatz auf die frühen wie auf die späten cuentos, auf die Kurzromane und auf La vida breve verteilt und führt durch den Eigennamen unmittelbar zurück in die Gründungszeit des spanischen, katholischen Ur-Kolonialreichs, die sich an die Entdeckungsfahrten des späten 15. Jahrhunderts anschloss. Sind in den ersten cuentos noch Orte und Städte wie Buenos Aires oder Montevideo explizit genannt und identifizierbar wie in "Avenida de Mayo-Diagonal-Avenida de Mayo", einem cuento aus dem Jahr 1933, so wird sich der Leser alsbald hauptsächlich in Santa María wieder finden, einem fiktiven Ort, an dem sich vorwiegend weibliche Geisterwesen1, zwielichtige Geschäftsmänner, geflüchtete Nationalsozialsozialisten, Künstler, Therapeuten verschiedener Glaubensrichtung und aus der Literaturgeschichte wieder auferstandene Gestalten treffen. Santa María wird in der Mehrzahl der Onetti'schen cuentos als ein Ort konstruiert, der bald den Hintergrund und Schauplatz der Handlung bildet – La muerte y la niña2 –, bald einen entlegenen Sehnsuchtsort darstellt – "Matías el telegrafista" (1970) – und deren Schöpfungsgeschichte in La vida breve beginnt. Diese unmerklich wankende Unbestimmtheit des Ortes ist verbunden mit einer Vielzahl auffällig archaischer und historischer Narrative der neuzeitlichen Besiedlung, des religiösen Gehorsams oder des vorkapitalistischen Tauschhandels in den Erzählungen und im Gesamtwerk von Onetti, die der fiktiven Welt seiner Sanmarianer in der Art einer literarischen Memorisierung den Charakter des Abenteuers gibt und damit die neuzeitlichen Entdeckungs- und Eroberungsfahrten des späten 15. Jahrhunderts und des 16. Jahrhunderts in einem Pastiche mitführt. Das Onetti'sche Santa María ist auch der eine allen Schiffsflotten gemeinsame Bauch, in dem eine Bevölkerung von Seefahrern von Spanien in eine neue Welt gezogen war. Santa María erfährt in den cuentos von Onetti die Darstellung seiner Gründung, eine Blütezeit und einen Verfall, bis sie als Reste einer Ruinenstadt verschwindet und als Legende, als Mythos zurückbleibt und darin dasselbe Schicksal erfährt wie die Santa María des Kolumbus.
Die zunehmend verwirrende, und wenig kohärente Beschreibung von Santa María kann als ein intendiertes Spiel auf der Ebene der Narration verstanden werden, das auf die Fiktionalisierung von Orten selbst zurückgeht. Zwischen den wenigen Randbemerkungen und reinen Erwähnungen eines Ortsnamens ist Santa María ausführlicher in der Erzählung "La novia robada" (1968) beschrieben, in der es gleichzeitig den Stillstand ("En Santa María nada pasaba" NRo, 179), ein Land ("Nombre del país en que nació" ibid., 199) und den Todesort der Protagonistin ("Lugar de defunción" ibid.) markiert. Gegen das in "La novia robada" düstere Ortsklima, in das der Leser miteingeschlossen wird, ist Santa María in "Matías el telegrafista" der Heimathafen und Wohnsitz des Protagonisten und Funkers, den seine Arbeit über das Meer nach Hamburg führt und ihn in St. Pauli festhält. Santa María stellt sich an dieser Stelle im Werk von Onetti nun völlig verwandelt dar und repräsentiert in "Matías el telegrafista" den unerreichbaren anderen Ort, anstatt eines unüberwindbar eingegrenzten Dorfschicksals. In La vida breve wird die fiktive Stadtgeschichte von Santa María von ihrer Gründung und ihrem Aufbau her erzählt und beginnt sich darzustellen als "ciudad de provincia sobre cuya plaza principal daban las dos ventanas del consultorio de Díaz Grey" (VB I, cap. II, 432). 1956, in "Historia del caballero de la rosa y de la virgen encinta que vino de Liliput", wurde Santa María von den Protagonisten verlassen, sie leben als Vertriebene, "en Las Casuarinas, desterrados de Santa María y del mundo." (HCa, cap. VI, 147) In "Justo el treintaiuno", 1964 erschienen, imaginiert der Protagonist3, wie Frieda von "su infancia y su adolescencia en Santa María, la historia de su expulsión, las caprichosas, variables evocaciones del paraíso perdido" erzählt (JTr, 174). Eine konsistente Perspektive auf die Onetti'sche Stadt ist nicht möglich und wird durch jedes weitere cuento verstellt.
Dabei gehen der Autor und die Erzähler in ihren Verfahrensweisen mit der Stadt ebenso vor wie mit ihren Figuren und wenden eine Technik disseminierender Verundeutlichung und Dekomposition an, indem konkrete Merkmale bald ausgelassen, bald Details antagonistisch gegenübergestellt werden. Auch damit ist der Leser vertraut, dass nämlich ausführliche Beschreibungen von Figuren als Personen ausgelassen werden, dass keine inneren Entwicklungen von Charakteren geschildert werden und, im Falle von Santa María, auch keine raum- oder stadtsoziologisch dingfeste Beschreibung einer Architektur, einer soziographischen Statistik der Bevölkerung oder einer klimatischen Atmosphäre festzuhalten sind. So ist auch Santa María zunächst ein fiktiver und aufgrund dessen ein ungenau auserzählter Ort, dessen Beschaffenheit, wenn überhaupt, im komparatistischen Vergleich fiktionalisierter Schauplätze zu anschaulichen Ergebnissen führt.4