Читать книгу (Des)escribir la Modernidad - Die Moderne (z)erschreiben: Neue Blicke auf Juan Carlos Onetti - Группа авторов - Страница 6
I.
ОглавлениеIn einer der prominentesten Ekphrasen der Literaturgeschichte, der homerischen Beschreibung des kunstvollen Achilles-Schildes (Il. 18, 468-608), flöten zwei unbedarfte Hirten ihre Herden mitten hinein in einen epischen Kontext – mit zu erwartendem Ausgang (vv. 520-529), denn was weiden Viehhüter auch auf einem Schlachtfeld? Später wird dann ein (Boten-)Hirte in der 'euripideischen' Rhesos-Tragödie (vv. 264-341) von Hektor darauf aufmerksam gemacht werden, gerade fehl am kriegerischen Platze zu sein – allein, dieses Mal ist es der überhebliche Heros, der den Zusammenhang eingangs verkennt.1 Gleichwohl, in beiden Fällen, Epos und Tragödie, mischt sich humiles Personal (Hirten) in eine sublime Textur (Epos / Tragödie) (hin)ein;2 und in beiden Fällen wird diese generische 'Transgression' explizit gemacht – mal ekphrastisch, mal szenisch vermittelt.
Wenn nun im 3. Jahrhundert vor Christus der Ahn der Hirten-Dichtung Theokrit in seinen Idyllen Hirten hexametrisch 'losflöten' lässt (eid. I etc.), wird ein traditionell episches Versmaß 'bukolisiert', was dann Vergil in seinen Bucolica nicht minder kunstgerecht weitertreiben wird, wie gerade die recusatio aus der sechsten Ekloge (vv. 1-12) bestätigt. Ohne hier auf diese bis in die Frühe Neuzeit bedeutsame Kontrastierung von epischer Gewalt und hirtlicher Stärke eingehen zu können,3 soll es hinreichen, mit den zwei 'klassischen' hirtlich-heroischen (Achilles-Schild / Hektor) Aufeinandertreffen auf ein poietisches Kontrastpotential hingewiesen zu haben, das man auch im Sinne metafiktionaler Diskrepanz begreifen könnte.
Ebendiese, so wird hier am Beispiel einer Erzählung Juan Carlos Onettis zu zeigen sein, wahrt bis in unsere Zeit ihre reflexive dýnamis, was wiederum viel mit einer bereits aristotelisch (poet. 9, bes. 1451a36-1451b33) konzedierten poietischen Kontingenz (d.h. Auch-anders-Möglichkeit) zu tun haben könnte, wonach Dichter probables (eikós) bzw. optatives (génoito) Potential (dynatá) von Welt, Geschichtsschreiber hingegen Gewisses (mén) eröffneten. Und spätestens wenn literarische Fiktion, wie zum Beispiel Onettis La vida breve (1950) vollführte, 'fictiologisch' agiert – sprich: ihren eigenen lógos narrativ behandelt, macht sie damit nicht nur ihre eigene Gewirktheit ausdrücklich, sondern auch das ihr eigene Möglichkeitsvermögen samt Potentialis. Zumal, wie Wolfgang Iser bereits eruiert hat,4 es gerade Kennzeichen literarischer Fiktionen ist, dass sie in der Regel ihren Modus des Als-ob selbst anzeigen (im Unterschied etwa zu anderen Fiktionen). Doch was passiert, wenn literarische Figuren gleichsam ihr eigenes Als-ob ausklammern und beginnen, andere literarische Figuren aus ihrer Welt(‑Fiktion) zu vertreiben? Dieser Frage soll nunmehr am konkreten Beispiel Onettis nachgegangen werden.5