Читать книгу Das geistige Straßburg im 18. und 19. Jahrhundert - Группа авторов - Страница 11
II.
ОглавлениеDas Bühnenwerk ist jedoch nicht nur aus bibliophiler oder buchwissenschaftlicher Perspektive, sondern auch im Hinblick auf Fragen nach seiner Einordnung in einen Traditionszusammenhang sowie einen entstehungsgeschichtlichen Kontext interessant. So weicht bereits seine Bauform von den hergebrachten drei- bzw. fünfaktigen Komödientypen ab: Das Stück gliedert sich in vier Akte, die „Handlungen“ genannt werden; sie sind ihrerseits in zehn bzw. neun Auftritte unterteilt. Es treten elf namentlich benannte Personen auf, sowie „[e]inige Geister“ und „[e]inige Musicanten“, die das vorangestellte Dramatis personae verzeichnet.1 Der „Schau-Platz ist zu Straßburg“;2 neben dem nicht weiter lokalisierten Haus des Spenglermeisters sowie Straßen und Plätzen in dessen Umgebung wird im zweiten Akt der „Baarfüsser Platz“ erwähnt.3 Seinen Namen verdankt dieser Platz einem anliegenden Franziskanerkloster, eine Umbenennung in „Waffenplatz“ erfolgte bereits im 17. Jahrhundert, im 19. Jahrhundert diejenige in „Kléberplatz“. Der „groß[e]“ aber „irregular[e]“ Platz, wie Johann Christian von Kölichen in einer Reisebeschreibung des Jahres 1723 herausstellt, behielt umgangssprachlich jedoch seine anfängliche Bezeichnung.4 Hier wurden im Verlauf der Jahrhunderte verschiedene Märkte abgehalten, so dass die in dem Stück gemachte Angabe „Gerümpel Marck“ durchaus den historischen Gegebenheiten entspricht.5 Der Begriff bezeichnet, wie das Wörterbuch der elsässischen Mundarten festhält, „unbrauchbare[n] od. sonst überflüssige[n] Hausrat, durcheinander geworfene Gegenstände oder Waren von geringem Werte“.6
Ebenfalls vorangestellt findet sich ein „Vorbericht“. Dieser Paratext behauptet, dass die nachfolgenden „Erzehlungen von dem vermeinten Polter-Geist in deß Spenglers Haus […] keine Erdichtung“ seien, „sondern eine wahrhafftige Geschicht“.7 Ob die dramatische Darstellung des Autors einer historischen Wahrheit entspricht oder ihrerseits eine Fiktion ist, welche die Funktion hat, dem Bühnengeschehen durch behauptete Authentizität Glaubwürdigkeit und Gewicht zu geben, muss unentschieden bleiben, da es bisher nicht gelungen ist, Dokumente aufzufinden, welche die Ereignisse als historisch belegen. Im „Vorbericht“ heißt es hierzu:
Diese Begebenheit hat sich Anno 1722. im Augusto und zu Anfang desß Septembris ereignet. Worauf man nach vorhergehenden Anzeigungen besagten N.N. eingezogen / welcher auch in der Hinwegführung auf eine curiöse Weise / wie hier erwehnet wird / seiner Wacht allerdings entwischet. Nach einer Zweymonatlichen zimlich harten Einhafftirung ist ihm das Urtheil gefället worden / daß er auf den Lasterstein / mit einem um den Hut geheffteten Zettel worauf dieser Titul böser Bub der den Geist agieret / geschrieben war / stehen / und er auf fünff Jahr auß dem Straßburgischen Territorio verwiesen seyn soll / welches auch Sambstags den 14. Novembris Nachmittag an ihm vollzogen worden.8
Der 14. November 1722 war tatsächlich ein Samstag. Ebenfalls gab es im Straßburg dieser Jahre einen Lasterstein, also einen „(erhöhte[n]) Stein, der zur Ausstellung und Züchtigung eines Rechtsbrechers dient[e]“; diese öffentliche Zurschaustellung wurde nach damaliger Rechtsauffassung „als milderes Strafmittel gegenüber dem Pranger angesehen“.9 Johann Andreas Silbermann, ein Spross der berühmten, elsässischen Orgelbauerfamilie, berichtet von der Lage und Funktion der Stätte in seiner historischen Darstellung der Stadt Straßburg:
Endlich ist noch des zu unsern Zeiten an der Münz gestandenen Laster-Steins zu gedenken, worauf die Verbrecher, durch die sogenannten Fausthämmer oder Gerichtsdiener gestellt wurden. Dieser Stein ist 1738, als das Münz-Gebäude abgebrochen worden, auch da weggekommen, und an dessen Statt an der Pfalz die unterste Staffel beym Hals-Eisen zu gebrauchen verordnet worden.10
Aber nicht nur der „Vorbericht“, auch der Titel des Werkes verdeutlicht, dass nicht die Geschichte eines tatsächlichen und „bösartige[n] Geist[es], welcher sich in dem Hause mit Poltern und Lärmen hören läßt“, erzählt wird, sondern von einer Täuschung und Irreführung berichtet werden soll, die von einer Figur in der Absicht herbeigeführt wird, an anderen Figuren einen Betrug zu begehen.11 So ist der Nennung der Titelfigur die Erläuterung „[d]er eingefleischte Polter-Geist“ nachgestellt. Das Partizipium ‚eingefleischt‘ war bereits im 18. Jahrhundert nur „in figürlicher Bedeutung üblich“, wie Johann Christoph Adelung erläutert: „Ein eingefleischter Teufel, ein Teufel in menschlicher Gestalt, ein Teufel der Boßheit nach; außer welcher Redensart dieses Wort nicht mehr vorkommt.“12 Daher weist der Titel zum einen das doppelte Spiel aus, das in dem Stück zur Darstellung kommt, und lässt zum anderen das Tückische und Hinterhältige hinter den aufgeführten Handlungen anklingen.
Die Titelei ist jedoch in anderer Hinsicht nicht so eindeutig, wie dies zunächst den Anschein hat: Einerseits kann im Werktitel eine Nominalphrase erkannt werden. In diesem Fall ist „Pancratz“ als Name einer Figur zu lesen, der um den erläuternden Zusatz „Der eingefleischte Polter-Geist“ erweitert ist. Dies ist die Lesart, die seit Gottscheds Nöthigem Vorrath verbreitet ist. Der Leipziger Aufklärer modifiziert die Schreibung des Titels daher konsequenterweise in „Pancratz, der eingefleischte Polter-Geist“, stellt dem Namen also ein Komma nach und schreibt das Relativpronomen „der“ klein.13
Andererseits ist der Name „Pancratz“ nicht in jener Frakturschrift gesetzt worden, die für den gesamten Band ansonsten Verwendung gefunden hat, sondern in einer Antiqua. Diese typographische Hervorhebung folgt zwar den Konventionen der Zeit, eröffnet aber zugleich die Möglichkeit, den Namen als (freilich pseudonyme) Verfasserangabe zu verstehen. Diese Lesart gewinnt durch die zweite Zeile der Titelei an Plausibilität, denn sie beginnt mit einer Majuskel („D“).
Dass Pancratz eine in dem Schauspiel auftretende Figur ist („deß Spenglers Gesell“, wie das Dramatis personae verzeichnet14), läuft dieser Deutung nicht notwendig zuwider. Vielmehr verleiht die Gleichsetzung des (seine Identität ohnehin verschleiernden) Verfassers mit der zentralen Figur des Stückes dem Bühnengeschehen eine größere Attraktivität. Die im Vorbericht behauptete Authentizität des Geschehens würde in diesem Fall durch die Kongruenz von Autor und Figur zusätzlich unterstrichen. Und dass der vorangestellte Paratext den Namen des Gesellen mit dem Hinweis „Nullum nomen“ („N. N.“15) verbirgt, erweckt die weitergehende Neugier des Lesers. Aufgrund fehlender Quellen, welche die Verfasserschaft des Werkes bezeugen könnten, ist im Hinblick auf diese dargelegten Sachverhalte jedoch keine abschließende Einordnung möglich.
Somit verdeutlichen bereits die Anlage des Titels und des Vorberichts, dass das Schauspiel nicht von einem Poltergeist handelt, sondern von einer Figur, welche die Existenz eines solchen Geistes behauptet und die Leichtgläubigkeit anderer für eigene Zwecke nutzt, um auf diese Weise Schaden anzurichten. Das Bühnengeschehen gewinnt seine Spannung (und Komik) also weniger aus der (wie denkbar: effektvollen) Darstellung einer Geistererscheinung, deren fiktionsimmanente Realität beteuert wird, sondern aus der Art und Weise, wie die Täuschung im Figurenspiel enthüllt wird.