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VI.

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Neben dem abergläubischen Spengler, seinem Gesellen Pancratz, seiner Tochter und deren Verehrer ist Arlequin, „ein offentlicher Außschreyer“, wie das Dramatis personae mit Hinweis auf seine Funktion verzeichnet, die interessanteste Figur des Schauspiels.1 Er gewinnt ebenso wenig personale Eigenschaften wie die anderen Figuren; wie das solchermaßen zur typischen Allgemeinheit ausgeweitete Figureninventar im Hinblick auf Anlage und Konzeption der Figuren den Vorbildern des italienischen, spanischen und französischen Lachtheaters verpflichtet ist.

Gleichwohl hat die Gestalt in dem Straßburger Stück mit dieser Tradition lediglich den Namen gemeinsam: Arlequin ist kein naiver und bauernschlauer Typ, voller Fehler, jedoch gewandt, derb, lebenslustig und volksverbunden; stattdessen überbringt er Nachrichten, berichtet von Ereignissen, die außerhalb des Bühnenraumes stattgefunden haben und kommentiert das Bühnengeschehen. Indem er im fünften Auftritt des ersten Aktes erstmals allein vor das Publikum tritt und sowohl über das vermeintliche Erscheinen eines Poltergeistes in dem Haus des Spenglers räsoniert als auch über die Liebesgeschichte zwischen Angelica und dem Herrn Architectus, wird zudem die ihm zugeordnete Funktion sichtbar, die beiden parallelen Handlungen des Stückes miteinander in Beziehung zu setzen:

Die Gespenstereyen und die Jungferschafften seind zwey starcke Aequivoca; nur findet sich dieser merckliche Unterscheid bey beyden / daß es bey einem Theil viel stiller hergehet als bey dem andern. Dem sey nun wie ihm woll / deß Simplicius Hauß ist jetzund verschreyet; es mag eine Kunst / eine Betrügerey oder eine überirdische Macht seyn. Einige glauben / es stecke eine heimliche Liebes-Intrigue mit der Magd und der Tochter darhinter. Angelica ist nicht verwerflich. Die Natur stößt dem ersten Muthwillen bey ihr aus und hat sie schon dem gemeinen Gerücht nach etliche Vornehme / die ihr ihre Seuffzer wiedmen.2

Diese Funktion eines am Geschehen wesentlich unbeteiligten Boten korrespondiert mit dem Amt eines öffentlichen Ausschreiers, das ihn dem Gegen- bzw. Miteinander der anderen Figuren enthebt. So ist es folgerichtig, dass Arlequin den beiden Studenten, die nicht an die Existenz eines Poltergeistes geglaubt und stattdessen eine natürliche Ursache der Erscheinungen vermutet haben, schließlich davon berichtet, auf welche Weise Pancratz seiner Betrügereien überführt werden konnte:

Zu allem Glücke befande sich unter den Wächtern ein gleichfalls sehr geschwinder / der das flüchtige Gespenst noch ersahe; Dieser lieffe ihm aus allen Kräfften nach und erwischte ihn / damit hat diesem eingefleischten Polter-Geist nicht allein seinen verlassenen Rock wiederumb zugestellet / sondern ihm noch darzu einen steinernen Mantel angelegt.3

Dass Arlequin keine lustige Person ist, die durch ihr Ungeschick, ihre Triebhaftigkeit oder Gefräßigkeit Lachen evoziert, sondern als Bote figuriert, dokumentiert, wie Elemente der Commedia dell’arte im deutschen Theater der Zeit aufgenommen, überformt und verwandelt wurden. Die Figur hat die dramaturgische Signifikanz, die ihr in der italienischen Tradition erwachsen ist, eingebüßt und trägt lediglich noch deren Namen.

Ein weiteres Moment, das im Lachtheater des romanischen Kulturkreises ausgebildet worden ist und das auch im Polter-Geist eine dramaturgische Funktion hat, sind musikalische Einlagen in Form von Liedern. Bereits im Dramatis personae deutet sich dies an, da unter den auftretenden Figuren auch „[e]inige Musicanten“ genannt werden.4

Die Bedeutung, die den Liedern zukommt, zeigt sich beispielsweise im zweiten Auftritt des ersten Aktes. Hier enthüllt der Architectus in einem Monolog seine wahren Absichten; der sieben Mal wiederkehrende Refrain des Liedes, das er anstimmt, bringt diese auf die prägnante Formel: „Lieber ungetreu als todt.“5 Das Lied unterstreicht die inhaltliche Aussage, indem es durch den Gattungswechsel (von der ungebundenen Figurenrede zur gebundenen Form des gesungenen Liedes) die Aufmerksamkeit des Publikums erneut weckt.

Das Burleske und Komische, das bereits in diesem ersten Lied des Schauspiels aufscheint, ist in allen anderen Gesangseinlagen ebenfalls zu beobachten: Arlequin berichtet im fünften Auftritt des ersten Aktes davon, dass es sich ohne die Liebe besser lebt und empfiehlt bereits den ersten Anflug von Verliebtheit im Wein zu ertränken,6 Angelica trägt im achten Auftritt des ersten Aktes ein in jeder Hinsicht übertriebenes Gedicht des Herrn Architectus vor, das die Ernsthaftigkeit seiner Werbung unterstreichen soll, aber ironischer Weise genau das Gegenteil verdeutlicht,7 wie auch die Einlagen des neunten Auftritts des zweiten Aktes den hohen Ton der Liebeswerbung parodieren, was durch die Begleitung von Viola da Gamba, Viola da Gamba Basso und Flöte noch unterstrichen wird,8 Angelicas Lied im vierten Auftritt des zweiten Aktes ist ein ebenso ironisches Lob der Untreue9 und in den letzten beiden Auftritten des vierten Aktes veranschaulichen die abwechselnd von Laute, Guitarre, Theorbe, Leier und Dudelsack begleiteten Lieder das Unpassende des Paares, das sich gegen alle Wahrscheinlichkeit und Moral in einer unziemlichen Verbindung gefunden hat.10

Lediglich die Lieder im jeweils zehnten Auftritt des ersten und dritten Aktes widersprechen diesem Schema: Eine Reihe von „Geister[n] erscheinet und erhellet mit ihren Fackeln das Theater“.11 Ihr Gesang thematisiert einerseits menschliche Heimsuchungen (wie Mord, Krieg und Pestilenz), andererseits die Schrecken und das Unbegreifliche der jenseitigen Welt. Diese Inszenierung übernatürlicher Erscheinungen, deren Wahrheit textimmanent nicht in Frage gestellt wird, kontrastiert mit der Gestalt des Poltergeistes, der, wie eingangs gezeigt, bereits zu Beginn des Stückes als bewusste Täuschung enthüllt wird und so die Existenz von Kräften, welche die sinnlich wahrnehmbare Welt übersteigen, negiert.

Auf diese Weise veranschaulichen die „Gespenster von unterschiedenen abscheulichen Mißgestalten“,12 dass das Schauspiel nicht als ein inhaltlich oder formal geschlossenes Kunstwerk angelegt ist, sondern auf die Unterhaltung seines Publikums durch Effekte sowie überraschende Momente und Wendungen ausgerichtet ist. Zugleich wird sichtbar, dass die Motive, die auf den englischen Bühnen nach William Shakespeare verbreitet waren – wie eben das Auftreten übernatürlicher Erscheinungen (Hexen, Geister, Feen) –, durch wandernde Schauspieltruppen auch auf dem Kontinent bekannt wurden und schließlich Eingang in das deutschsprachige Theater des 17. und 18. Jahrhunderts fanden. Die ästhetische Signifikanz und gedankliche Programmatik, die ihnen im Werk Shakespeares zukommt, sind im Prozess dieser popularisierenden Bearbeitungen und Adaptionen allerdings der Präferenz für die Wirkung der Bühnenerscheinungen auf das Publikum gewichen.

Weil die Auftritte der Geister jeweils am Ende des letzten Auftritts eines Aktes stehen, können sie jedoch auch als Zwischenspiele gedeutet werden, welche die zeitlichen Pausen überbrücken, die für den Kulissen- und Kostümwechsel notwendig sind. In diesem Sinne sind die beiden Szenen nicht im Hinblick auf ihren möglichen Verweischarakter oder einen allegorischen Bezug zur Handlung des Polter-Geistes zu untersuchen, vielmehr sind sie ein weiteres Indiz für die Herkunft des Werkes aus dem Repertoire einer Wanderbühne. Hier waren Intermezzi allein aus dem Grund beliebt, weil sie die Möglichkeit eröffneten, dem Publikum auch solche Effekte oder schauspielerische Fähigkeiten vorzuführen, die im Hauptstück nicht dargeboten werden konnten.

Das Supplement, das dem Werk auf den Seiten 137 bis 151 beigegeben ist, ist ebenfalls in einem solchen Zusammenhang zu verorten, denn die launige Ballade über den „Wein-Jud Simon Gabriel“ steht in keiner inhaltlichen Beziehung zu den Handlungen des Polter-Geistes.13 Als ein derbes, ebenfalls possenhaftes Nachspiel gelesen, verweist der lyrische Monolog somit auch auf den Ursprung des Werkes im Repertoire einer Wandertruppe.

Das geistige Straßburg im 18. und 19. Jahrhundert

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