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Der Sozialistische Realismus und die Frage: Wie sollen wir malen?

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Eine Schlüsselszene im Sommer 1953 in Leipzig beleuchtet schlaglichtartig Sittes Dilemma, seine ständige Suche nach einer Antwort auf die Frage: „Wie sollen wir malen?“ Der Volksaufstand am 17. Juni 1953, der, trotz der schnell ausgegebenen Losung, es handele sich um einen aus dem Westen gesteuerten faschistischen Putsch, tiefgreifende Irritationen auf allen Funktionärsebenen ausgelöst hatte, führte auch in der Leipziger Bezirksleitung des Künstlerverbandes zu Panik und Irritation. In der Tagesordnung der Sitzung vom 3. Juli 1953 tauchten der 17. Juni und der Neue Kurs zwar mit keinem Wort auf, im Protokoll heißt es aber: „Kollege Warnecke teilt mit, daß einige Kollegen ihn im Büro fragten, wie sie nach dem neuen Kurs der Regierung jetzt malen sollen.“ Die Antwort: „Nach den Äußerungen des Kollegen Münze sollen wir den Begriff sozialistischer Realismus nicht mehr popularisieren. Eine konkrete Anleitung ist jedoch nicht gegeben worden.“3

Die Bemerkung ist symptomatisch für die wellenartig an- und abschwellenden Debatten um den Sozialistischen Realismus seit der von dem sowjetischen Kulturoffizier und Germanisten Alexander Dymschitz (1910–1975) im November 1948 begonnenen Kampagne gegen „die formalistische Richtung in der deutschen Malerei“.4 Diese Frage blieb unbeantwortet, weil es eine politische Frage war, die von den jeweiligen Kurswechseln der Parteipolitik zwischen Tauwetter und Repression abhing, und keine ästhetische Frage. Der Sozialistische Realismus ist also kein Stil, sondern eine politische, d. h. parteiliche Einstellung des Künstlers zur Wirklichkeit, die ihm von der Partei vorgegeben wird und deren kollektive Weisheit unfehlbar ist. Ministerpräsident Otto Grotewohl (1894–1964) erklärte in einer Rede 1951 über Die Kunst im Kampf für Deutschlands Zukunft: „Literatur und bildende Künste sind der Politik untergeordnet. […] Die Idee in der Kunst muß der Marschrichtung des politischen Kampfes folgen. Denn nur auf der Ebene der Politik können die Bedürfnisse der Werktätigen richtig erkannt und erfüllt werden.“5

Mit seiner Zeichenkunst hatte Sitte sich einen exakten Abbildrealismus erarbeitet. Aber die Verabsolutierung des Details gilt als Naturalismus, denn das bloße Faktum ist erst der Rohstoff für den Künstler. Im Gegensatz zum „objektivistischen“, den bloßen Tatsachen verhafteten „bürgerlichen“ Naturalismus soll der Sozialistische Realismus die Realität, auch die historische, aus einer sozialistischen Perspektive widerspiegeln. Was aus der Fülle der Erscheinungen wesentlich und „typisch“ ist, entscheidet in letzter Instanz die Partei. Daher sieht das geschulte Auge des Zensors sofort die richtige oder falsche politische Einstellung des Künstlers zur Wirklichkeit. Der Künstler ist aufgefordert, durch das Studium der marxistisch-leninistischen Weltanschauung zu lernen, immer das jeweils Richtige und Typische zu sehen und zu erkennen. Dafür gab es Kurse in Parteihochschulen, die sogenannte „Rotlichtbestrahlung“, von der Willi Sitte allerdings verschont blieb.6

Sozialistischer Realismus ist eine inszenierte Wirklichkeit, ein Wunschbild, eine ins Hier und Heute projizierte Sicht der Vergangenheit (z. B. von der Märzaktion 1921 im Leuna-Werk, S. 409) oder eine Antizipation der Zukunft (Leuna 1969, S. 411). Da die Kriterien des Sozialistischen Realismus, die Maxim Gorki (1868–1936) in seiner Rede auf dem Ersten Allunionskongress der Sowjetschriftsteller (17.–19. August 1934) in Moskau entwickelte – Primat der Politik über die Kunst und die Realität, parteiliche Definition der Wahrheit, Optimismus, Perspektive und Volksverbundenheit – außerkünstlerische sind, konnte die Doktrin später ohne weiteres von der Literatur auf die bildende Kunst, Musik, Architektur und den Film übertragen werden. Es geht um ein politischtheologisches, nicht um ein künstlerisches Projekt. Willi Sitte konnte sich dabei nie sicher sein, ob er beim Abbilden der Wirklichkeit auch das – aus Sicht der Partei – für die zukünftige Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft Typische, nämlich die richtige politische Linie getroffen hatte. Wollte Sitte in der DDR als Maler Erfolg haben, musste er sich also dem unerforschlichen Willen der Partei bedingungslos unterwerfen. Diese Ausrichtung der malerischen Praxis auf eine äußere objektive Instanz blieb für ihn eine Herausforderung, der er sich lange zu entziehen suchte, letztendlich aber unter Anleitung führender Genossen wie Horst Sindermann (1915–1990) unterwarf. Einerseits beteuerte Sitte: „Ich selber bin nie – um auf meine Realismus-Version zu kommen – davon ausgegangen, wie die Welt zu sein habe, sondern wie sie ist.“ Andererseits „wollte ich mit der Abbildung von Realität auch eine Utopie vermitteln.“7

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