Читать книгу Sittes Welt - Группа авторов - Страница 21
Bekenntnis zum italienischen Realismo – Reise nach Italien
ОглавлениеIm gleichen Jahr 1951 fand anlässlich der III. Weltfestspiele der Jugend und Studenten für den Frieden eine von der Deutschen Akademie der Künste am Robert-Koch-Platz ausgerichtete Internationale Kunstausstellung statt. Unter einer Masse belangloser Werke sozialistisch-realistischer Provenienz aus 38 Ländern hingen dort Gemälde von Renato Guttuso (1911–1987), Giuseppe Zigaina (1924–2015), Armando Pizzinato (1910–2004) und Gabriele Mucchi (1899–2001). Die Malerei des italienischen Realismo war dort die einzige moderne und zugleich politische Kunstrichtung.
Vor dem Hintergrund der „Schönfärberei“ der sowjetischen Kunst, einer Malerei in „altakademischer und naturalistischer Manier“57 mit ihren „durch Ideologie überfrachteten Wunschvorstellungen“, welche „die bestehende Realität mit all ihren Widersprüchen“ aus dem Bild ausschloss und zugleich jeden individuellen Gestaltungswillen unterdrückte, überraschte den jungen Ost-Berliner Kunststudenten Ronald Paris (* 1933) an den Bildern der Italiener „eine neue leuchtende Farbkraft, eine unmittelbare Nähe aus dem wirklichen Erleben“. Vor allem in den Werken von Gabriele Mucchi fand er den überzeugenden künstlerischen Ausdruck innerer Wahrhaftigkeit.58
Ronald Paris erinnert sich vor allem an Das Bombardement von Gorla (auch Die Mütter von Gorla genannt) von Mucchi aus dem Jahr 1951, das in Ost-Berlin zu sehen war 8. Es thematisiert einen englisch-amerikanischen Luftangriff am 20. September 1944 auf eine Schule am Stadtrand von Mailand, bei dem 206 Kinder getötet wurden. Mucchi war damals Augenzeuge und half, Verwundete in das nächstgelegene Krankenhaus zu bringen. Das Gemälde zeigt eine Gruppe von Müttern, die ihre Kinder unter den Trümmern suchen.59 Im Sinne von Mucchis Definition eines realistischen Gemäldes als eines „Urteil[s] über die Wirklichkeit, die es darstellt“, das immer dialektisch sei,60 gibt das Gemälde einen tragischen Moment im antifaschistischen Kampf wieder. In den Amerikanern und Engländern sahen die Widerstandskämpfer, die Mucchi zusammen mit seiner Frau, der Bildhauerin Jenny Wiegmann-Mucchi (1895–1969), aktiv unterstützte, einerseits „Vorkämpfer für Freiheit und Demokratie“, ihnen „galten alle unsere Sympathien […] wir billigten sogar ihre Bombenangriffe […] sie waren die […] gerechten Ritter der Apokalypse, die Rächer, die ‚Befreier‘. Andererseits war ihr Kriegsakt in Gorla ebenso unmenschlich wie die Taten der verhaßten Unterdrücker, es war ein grauenvoller, reiner Terrorakt ohne strategischen Nutzen und also nicht zu rechtfertigen.“61
8 Gabriele Mucchi: Das Bombardement von Gorla IV (auch: Die Mütter von Gorla), 1951, Tempera auf Leinwand, 120 × 180 cm, Galerie Poll, Berlin
In dieser aufrichtigen, rücksichtslosen Wahrhaftigkeit sah auch Sitte damals eine entschiedene Gegenposition zu der Verlogenheit des Sozialistischen Realismus, zu dem ihn die Partei erziehen wollte. Möglicherweise angeregt von Gabriele Mucchis Gemälde Der Dammbruch des Po (La rotta del Po) S. 189 von 1951 und von Nachrichten und Zeitungsberichten über diese Naturkatastrophe, die ihm seine italienischen Freunde nach Halle (Saale) schickten, malte Sitte sein Gemälde Hochwasserkatastrophe am Po (2. Fassung, 1953/54, S. 263).62 Die Beschäftigung mit dem Thema weckte bei Sitte Erinnerungen an seine Zeit in Norditalien. Vorbereitet wird das Thema 1952 durch zahlreiche gemalte Studien einzelner Figuren, die unendliche Trauer, Fassungslosigkeit und Erschrecken zum Ausdruck bringen (z. B. Junge mit Krug; Die Verwundete; Auf der Leiter).63 Im Vergleich zu dem Gemälde Mucchis stilisiert Sitte die Figuren sehr viel stärker und baut ihnen eine Bühne für ihre der Not gehorchenden exzentrischen Bewegungen und dramatischen Gesten.
Auf Einladung seiner Freunde und Kameraden aus der Partisanenbewegung besuchte Sitte als Delegierter des Kommunistischen Jugendverbands Italiens, an dessen Kongress er teilnahm, 1955 Venedig und Mailand. Während der Reise pflegte er seine Kontakte mit Angehörigen der Realismo-Bewegung.
In einem Artikel in der Zeitung Freiheit zog er ein Resümee seiner Reise: „Alle Register bildkünstlerischen Gestaltens im Kampf um eine neue Kunst sind gezogen […]. In fairer Auseinandersetzung wird um neue theoretische Erkenntnisse gestritten, wird um das Bild der Zukunft gerungen […]. Gemeinsam gehen sie mit den Theoretikern an die Klärung künstlerischer Probleme […] frei, mutig und gewagt werden Gegenwartsthemen künstlerisch von ihnen gestaltet.“64 Mit diesen Worten appellierte Sitte offensichtlich vor allem an die eigenen Genossen in Halle (Saale).
1957 veröffentlichte er in Heft 1 der Bildenden Kunst, der Zeitschrift des VBKD, seine Gedanken nach einer Italienreise, die mit einer Federzeichnung von Gabriele Mucchi illustriert sind. Er beschwört die Atmosphäre des Experiments, lobt den „heißen und beneidenswerten Meinungsstreit“ in der Zeitschrift Il realismo, die er sich nach Halle (Saale) schicken lässt, und hofft, dass auch die Künstler in der DDR „den Mut zu bildkünstlerischen Experimenten wiederfinden“ werden.65 Die Zeitschrift Il realismo, die ein Doppelheft über Picasso publizierte, hatte Herbert Sandberg (1908–1991) dazu angeregt, in der Bildenden Kunst zwischen September 1955 und Juli 1956 eine kontroverse Picasso-Diskussion zu führen. Der Name Picasso wurde in der DDR zum trojanischen Pferd für die Frage, wie weit eine sozialistische Kunst sich experimenteller Methoden und Formen der Moderne bedienen dürfe.
Sitte bekannte, dass seine akademische Zeichenroutine ihn lange daran gehindert habe, eigene Emotionen in seine Malerei zu übersetzen. Vom italienischen Realismo und vor allem von Gabriele Mucchi, der in Ost-Berlin bis 1962 lehrte, konnte er lernen, „starke Empfindungen und dramatische Situationen ausdrucksvoll darzustellen […]. Wir sind nicht kalte Chronisten einer gleichgültigen Geschichte.“66
Mit hoher Wahrscheinlichkeit ermutigte Sitte die Begegnung mit der Wahrhaftigkeit und bedingungslosen Aufrichtigkeit der italienischen Maler der Realismo-Bewegung mit ihrem politischen Engagement jenseits von Dogmatismus dazu, sein eigenes künstlerisches Vokabular für die Auseinandersetzung mit dem Massaker in Lidice ab 195667 und mit seinen persönlichen Erfahrungen an der Ostfront im Zweiten Weltkrieg zu entwickeln, die ihren Niederschlag in den beiden Stalingrad-Bildern gefunden haben.68 Sein Diptychon mit Predella Memento Stalingrad (1961, S. 359) nahm Fritz Cremer (1906–1993) in seine Ausstellung Junge Künstler – Malerei auf, die am 15. September 1961 – einen Monat nach dem Mauerbau – in der Deutschen Akademie der Künste eröffnet wurde. Cremer sah offensichtlich in dem schon Vierzigjährigen nach den Angriffen auf die Lidice-Bilder immer noch ein Nachwuchstalent, das seinen Weg in die Öffentlichkeit finden sollte. Er zeigte ihn zusammen mit Autodidakten wie Ralf Winkler (alias A. R. Penck, 1939–2017), Peter Graf (* 1937) und Peter Hermann (* 1937) aus Dresden, während Alfred Kurella (1895–1975) dafür gesorgt hatte, dass die jungen Leipziger Künstler nicht teilnehmen durften.
Cremer war als Ständiger Sekretär der Sektion Bildende Kunst der Akademie der Überzeugung, dass die DDR gerade die „sogenannten schwierigeren jungen Künstler“ brauche und „nicht die Musterknaben, die Langweiligen, Wohlgefälligen“.69 Deshalb verschaffte er ihnen gegen massiven Widerstand einen ersten öffentlichen Auftritt. Die Eröffnung löste einen Sturm der Empörung und Kritik mit fingierten Protestbriefen von Werktätigen und einer Pressekampagne aus. Infolge der Ereignisse traten Cremer als Sekretär und im Februar 1962 Otto Nagel als Akademiepräsident zurück.70 Auch die Nichtverlängerung der Professur Mucchis an der Kunsthochschule Weißensee im gleichen Jahr steht im Zusammenhang mit dieser Rollback-Politik nach dem Mauerbau. Im Gegensatz zur ersten Fassung des Themas, Memento Stalingrad von 1961, machte Sitte bei den Überlebenden (1963, S. 363)71 keinen Unterschied mehr zwischen dem General als Kriegsverbrecher und den einfachen Soldaten. Im Tod sind sie alle gleich. Hier wird erstmals seit den späten 1940er Jahren wieder sichtbar, dass die „Sieger der Geschichte“ auch die mitschuldig gewordenen Verlierer waren.