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Willi Sitte im Selbstporträt
ОглавлениеThomas Bauer-Friedrich
Die Selbstdarstellung des Künstlers ist einer der am weitesten verbreiteten Topoi in der bildenden Kunst seit der Renaissance. Die frühesten wirklichen Selbstporträts kennen wir heute von Jan van Eyck und Albrecht Dürer aus dem 15. Jahrhundert. Im Zeitalter des Barocks war Rembrandt einer der emsigsten Autoporträtisten. In 40 Schaffensjahren soll er zwischen 40 und 80 Selbstbildnisse geschaffen haben.1 Künstler stellten sich entweder im direkten Porträt dar oder schufen indirekte Selbstbildnisse, indem sie Figuren in ihren Gemälden ihre Physiognomie verliehen oder sich in einer Rolle darstellten. So schrieb sich Hans Baldung Grien als stiller Beobachter im Hintergrund der Mitteltafel des heute im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg befindlichen Sebastian-Altars ein, den er ursprünglich 1507 für die Maria-Magdalena-Kapelle in der halleschen Moritzburg schuf.
Einen vollkommen neuen Stellenwert erhielt die Selbstdarstellung des Künstlers in der Kunst der Moderne. In einer sich radikal verändernden Welt reflektierten die Malerinnen und Maler anhand ihres eigenen Bildnisses die Umbrüche und mit ihnen verbundene Verunsicherungen. „Es geht nicht nur darum, das eigene Aussehen festzuhalten. Selbstporträts ermöglichen es Künstlern, ihre Überzeugungen in einer offenen und mitunter revolutionären Weise in ihren Werken zu vermitteln und sich selbst und ihre Geschichte darin zu verewigen. Ihre Kunstwerke sind sowohl zutiefst persönlich als auch für den Betrachter zugänglich.“2 Edvard Munch und Otto Dix schufen jeweils weit mehr als hundert Selbstdarstellungen; Lovis Corinth malte seit seinem Schlaganfall 1911 jährlich zu seinem Geburtstag ein Selbstporträt; revolutionär und erschütternd schonungslos sind die vielfachen malerischen Selbstbefragungen Paula Modersohn-Beckers und Frida Kahlos.
Vor diesem Hintergrund wäre zu erwarten, dass auch ein Künstler wie Willi Sitte im Laufe seines Lebens, besonders vor dem Hintergrund der vielfältigen gesellschaftlichen Veränderungen und der ihn ganz persönlich betreffenden existenziellen Krisen, die er erlebte, regelmäßig und wiederholt sich selbst künstlerisch befragt und dargestellt hätte. Dem ist jedoch nicht so. Eine wirkliche künstlerische Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich setzt in Sittes Schaffen erst um dessen Emeritierung Mitte der 1980er Jahre ein. Bis dahin kommen zwar immer wieder Selbstdarstellungen in der Grafik und selten in der Malerei vor. Eine ernst zu nehmende Relevanz erhält dieses Genre in seinem Œuvre jedoch erst sehr spät. Insgesamt ist derzeit von knapp vierzig Gemälden und etwa fünf Zeichnungen sowie zwei Druckgrafiken mit direkten Selbstbildnissen auszugehen, die nahezu vollständig in den 1980er und 1990er Jahren entstanden.
Die erste überlieferte verbürgte Selbstdarstellung ist das in Mailand geschaffene Ölgemälde aus dem Jahr 1946 S. 148. In einer traditionellen Malweise in erdigen Tönen stellt sich der junge Maler am Beginn seines bewussten Schaffens als Künstler in einer typischen Pose dar: Den Blick über die Schulter werfend schaut er frontal auf den Betrachter, in der rechten Hand hält er als Attribut seiner Tätigkeit einen Pinsel. Das Bild erinnert an Künstlerselbstbildnisse des 17./18. Jahrhunderts. Ein Jahr später hat sich die Lebenssituation Willi Sittes grundlegend verändert: Er ist aus Italien zurückgekehrt, wurde aus seiner Heimat ausgesiedelt und kam in eine ihm neue Region, nach Mitteldeutschland, wo er als politisch aktiver Künstler tätig zu werden begann. Aus dieser Zeit stammt die in das Jahr 1947 datierende Bleistiftzeichnung auf grundiertem Papier S. 122. Auch hier nimmt der Künstler direkt den Blick des Betrachters auf und fokussiert diesen nahezu beklemmend eindringlich. Kopf und die ihn stützende Hand scheinen gleichsam aus der indifferenten Tiefe des imaginären Bildraumes aufzutauchen. Künstlerisch fügt sie sich in Sittes symbolistischen Stil der Jahre 1947/48 ein. Aus demselben Jahr stammt eines der beiden bekannten druckgrafischen Selbstporträts 1. Die Kaltnadelradierung zeigt den Maler en face, wieder taucht das Porträt aus einer unklaren Tiefe auf, die diesmal ein dunkler Schatten ist, der die linke Gesichtshälfte vollkommen verunklart. Unsicherheit, etwas Fragendes vermittelt diese Darstellung.
1 Willi Sitte: Selbstbildnis, 1947, Kaltnadelradierung auf Papier, 17,8 × 10,8 cm (Darstellung), Nachlass Willi Sitte
2 Willi Sitte: Selbstporträt I, 1987, Bleistift und Rötel auf Papier, 77,5 × 50,5 cm, Nachlass Willi Sitte
Ein Blatt sei an dieser Stelle neu in die Reihe der Selbstbildnisse Willi Sittes eingeführt S. 62. Es handelt sich um eine undatierte mittelformatige Darstellung auf bräunlichem Papier. In jedem Fall stammt sie aus den 1940er Jahren, vermutlich aus der Zeit 1947/48.3 Vergleicht man den porträtierten jungen Mann mit den zuvor erwähnten Selbstbildnissen Sittes wie auch mit seinen späteren Selbstdarstellungen fallen die Ähnlichkeit der Gesichtszüge, vor allem des Ohres, der Augen und der Kinnpartie, und der markante skeptisch-misstrauische Blick auf, der dieses Blatt den bekannten Selbstporträts an die Seite stellt. Eine wohl nachträglich verwischte Bezeichnung auf der Vorderseite des Blatts unten links lässt sich leider kaum mehr entschlüsseln. Umso aufschlussreicher ist eine Beschriftung in Versform auf der Rückseite des Papiers, die von Sittes Hand mit Rötelkreide in Sütterlin aufgetragen und auf den 7. Oktober 1948 datiert wurde. Sie lautet: „Meinem teuersten All! / Alles Lebende ist vergänglich – / nur sie, die Kunst, sie dauert / ewig – ihr zu dienen, ist nichts / zu viel – ihr zu opfern, nichts / zu heilig. Durch sie, und wie der Mensch / sich zu ihr verhält, dokumentiert / sich der Mensch in seiner Qualität. / Wie Medizin dem Körper, so ist / sie der heilsamste Balsam für / krankende und gesunde Seelen. / – Und und und wieder Kopf hoch!!“
Die rückseitigen Zeilen, die einem künstlerischen Bekenntnis gleichkommen, vermitteln denselben melancholischschwermütigen Eindruck wie andere Arbeiten Willi Sittes aus den Jahren 1945 bis 1948, so zum Beispiel seine Parodia sulla malinconia aperta S. 177, das Blatt Existenzialismus S.194 4 oder sein Gemälde Zug ins Leben S. 207.5 Während in den ersten beiden Werken die gefährdete Existenz des Individuums noch ohne zuversichtliche Perspektive in die Zukunft dargestellt ist, wendet sich der prüfend-fragende Blick des Selbstporträts 1948 in Verbindung mit den Zeilen auf der Rückseite verhalten optimistisch an den Betrachter. Es ist der „heilsamste Balsam“ der Kunst, der Linderung und Überwindung verheißt und Sittes Leben bis zum Schluss vorantrieb.
Die nächsten Selbstbildnisse entstehen erst etwa 20 Jahre später, Mitte der 1960er Jahre. In den 1950er und frühen 1960er Jahren, in denen Sitte sich als Künstler durch die Partei immer wieder infrage gestellt sah, entstehen überraschenderweise keine Selbstdarstellungen, zumindest sind keine überliefert. Das verwundert insofern sehr, als sich Sittes Lebenssituation um 1960 derart zuspitzte, dass er 1961 zwei Selbstmordversuche unternahm. Nichts davon reflektiert er in seinem Schaffen mithilfe seines ihm zur Verfügung stehenden künstlerischen Talents.
Erst 1963 – nach Überwindung der massivsten Gefährdungen – fertigte er wieder eine erste zeichnerische Selbstdarstellung S. 127 – in einer Zeit, die für ihn privat einen glückvollen Neuanfang mit seiner zweiten Ehefrau Ingrid S. 127 bedeutete. Selbstbewusst schaut er auf den Betrachter herab, die Zigarre im Mund. Die beiden Katzenköpfe vor und hinter seiner Rechten vermitteln etwas Humorvolles, Behagliches. Fünf Jahre später malt er sein zweites Selbstbildnis in Öl S. 74, allerdings nicht aus eigenem Antrieb heraus, sondern im Auftrag. Der Kardiologe Rudolf Zuckermann (1910–1995) war nicht nur eine Koryphäe seines Fachgebiets, sondern zudem ein hochgebildeter Intellektueller, der über eine umfangreiche Sammlung außereuropäischer Kunst verfügte, die er während seines Exils in Mexiko zusammengestellt hatte.6 Diese erweiterte er in seiner Zeit in Halle (Saale) gezielt u. a. durch bei lokalen Künstlern in Auftrag gegebene Selbstporträts.7 Sitte schuf für ihn ein sehr eindrucksvolles Bildnis seiner selbst, in dessen Gestaltung er in moderner Manier auch den Zierrahmen einbezog. Das Gemälde ist ein Beispiel für seine Rezeption der zeitgenössischen Malerei in Westeuropa und den USA.8 Wieder stellt sich der Künstler en face dar, allerdings verwehrt er dem Betrachter den Blickkontakt, da die Gläser seiner Brille aufgrund starker Reflexion einer gleißenden Lichtquelle weißlich blind sind,9 was jedoch die besondere Wirkung des Bildes eher steigert als beeinträchtigt. Das gesamte Gemälde ist ganz aus der Farbe heraus entwickelt und weist einen sehr freien Malstil auf, der Spontanes, Unmittelbares zulässt und integriert. Es ist alles andere als ein dem Sozialistischen Realismus verbundenes Werk. Vielmehr zeigt sich hier die fruchtbare Beschäftigung Sittes mit malerischen Entwicklungen der Pop-Art oder der expressiven, figurativen westdeutschen Kunst.
Zwischen 1975 und 1986 entsteht etwa ein Dutzend gemalter Selbstbildnisse des Künstlers, wobei auffällt, dass er sich in diesen Jahren selten in seiner Rolle als Maler darstellt, sondern in der Hauptsache privatim als Mann. Charakteristisch ist der direkte Blickkontakt mit dem Betrachter, wie er ihn seit seinem ersten Selbstbildnis entwickelt hat – entweder en face oder mit mehr oder weniger ausgeprägtem Schulterblick. Es fällt auf, dass Sitte sich oft in einem bedrohlich wirkenden Ambiente darstellt – wie im Bild von 1979 S. 75 – oder mit skeptisch fragendem Blick, als misstraue er seinem Gegenüber 2. Dem stehen die Darstellungen gegenüber, in denen er sich mehr oder weniger in seiner Tätigkeit als Maler präsentiert 3/78 f. In seinem Selbstbildnis mit Tube und Schutzhelm S. 77 posiert er 1984 vor der Staffelei stehend als Arbeiter-Maler mit nacktem Oberkörper und Bauhelm auf dem Kopf, die Palette mit aufkaschierter Farbtube in der Hand. Es ist eines der wenigen repräsentativ zu nennenden Selbstbildnisse des Künstlers, die etwas von seinem Anspruch und Selbstverständnis verraten. Ganz dezidiert als Maler zeigt er sich 1981 in seinem Selbstbildnis mit Pinseln S. 78. Im Jahr seiner Emeritierung, 1986, schuf Sitte noch einmal ein eindrucksvolles Werk S. 79. Wieder zeigt er sich mit freiem Oberkörper, der durch die besondere Lichtführung gleichsam metallisch glänzt wie eine Skulptur. Der Künstler steht vor der Staffelei, die Pinsel in der Hand, und blickt prüfend auf den Betrachter. Im Hintergrund ist ein zweites Mal das Gesicht des Malers zu sehen, diesmal beim Rauchen einer Zigarre und gelassen sich selbst über die Schulter schauend. Diese simultane Darstellung derselben Figur in verschiedenen Posen ist ein typisches Gestaltungsmerkmal nicht nur in den Selbstbildnissen Willi Sittes.
3 Willi Sitte: Selbstbildnis „Der Einäugige“, 1983, Öl auf Hartfaser, 69 × 56 cm, Kunstforum Ostdeutsche Galerie, Regensburg
4 Willi Sitte: Selbstbildnis mit Rückenakt, 1984/85, Öl auf Hartfaser, 119 × 71,5 cm, Brandenburgisches Landesmuseum für moderne Kunst
Eine besondere Gestaltungsweise der Selbstdarstellungen Sittes sind die Kombinationen mit Liebespaaren. Wiederholt stellte er sich mehr oder weniger voyeuristisch zusammen mit sich liebenden Paaren dar. Den Ursprung hat dieser Typus im Selbstbildnis mit Rückenakt 4 von 1984/85, mit dem er sein eigenes Konterfei in den Kontext von Eros und Thanatos bringt. Deutlich stärker kommt dies zum Tragen u. a. im Liebespaar mit Selbstbildnis von 1983 S. 461.10 Das Bild wird formatfüllend dominiert von einem sich küssenden nackten Paar. Im Hintergrund links taucht aus einer fensterartigen Nische das fast stoisch wirkende Bildnis des Malers auf. Bedrohlich prangt über ihm eine sich schwarz verfinsternde Sonne – ein Motiv, das in Sittes Strandbildern wiederholt vorkommt.
5 Willi Sitte: Selbstbildnis mit Totenkopf, 1990, Öl auf Hartfaser, 125 × 75,5 cm, Privatsammlung
6 Willi Sitte: Selbstbildnis mit Pinseln, 1992, Öl auf Hartfaser, 125 × 74,5 cm, Verbleib unbekannt
Das eigentliche Selbstporträtschaffen Sittes setzte mit der politischen Wende 1989/90 ein. Die für den 70-jährigen Ruheständler existenziell sich darstellenden „Wendejahre“ bewirkten eine nun erstmals intensive künstlerische Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich. Sein jahrzehntelanger mit ihm befreundeter wissenschaftlicher Wegbegleiter Wolfgang Hütt formulierte es wie folgt: „Um so [sic!] schwerer traf ihn die vollständige Auflösung des sozialistisch genannt gewesenen Weltlagers. Seine Selbstbildnisse bezeugen das für ihn Schmerzhafte an diesem Prozeß, das Empfinden eines um gehegte Erwartungen Betrogenen. Wenig Aufschlüsse vermitteln sie über mögliche, seit dem Umbruch gewonnene Einsichten, über das Erkennen einer Schuld, die durch das Verdrängen eigener Kritikfähigkeit entstand, durch das Teilhaben an der zuletzt nur auf brüchigem Boden noch stehenden Macht. Wie selbstbewußt und zukunftssicher hatte Sitte bis zu den achtziger Jahren des Jahrhunderts hin das eigene Konterfei erforscht und gemalt!“11
Das Gros seiner Selbstbildnisse entsteht in den 1990er Jahren. Nahezu notorisch befragte Sitte sein Spiegelbild – Ausdruck der extremen Verunsicherung, die die von zahlreichen, heftigen Angriffen gegen seine Person gekennzeichneten Jahre prägte. Zum bisherigen Typus des skeptisch fragend schauenden Künstlers kommen nun verstärkt die Darstellungen mit Todesallusionen wie beim Selbstbildnis mit Totenkopf von 1990 5. Mit seiner Linken umfasst der Maler den Schädel so, dass der Eindruck entsteht, als hielte er ihm abwehrend, bannend die Augen zu. Ein Bedrohtsein vermittelt auch das Selbstbildnis mit Pinseln von 1992 6, auf dem ein markanter Schatten hinter der Figur des Malers prangt – ein Motiv, das Sitte in den 1990er Jahren des Öfteren nutzte, wenn es um die Schatten der Vergangenheit oder die Bedrohung der Existenz geht (vgl. S. 510), hier ins Persönliche gewendet. Eine ähnliche Stimmung vermittelt das Gemälde Selbst mit Schrei 7, in dem hinter dem Bildnis des Malers ein aggressiv zum Schrei geöffneter Mund eines angeschnittenen Gesichts prangt. Dem steht das trotz des Titels wenig Positives verheißende Selbst mit Zukunft S. 81 von 1992 gegenüber. Der Zierrahmen des Gemäldes fungiert gleichzeitig als Fensterrahmen, dessen gläserner Flügel in das Bildinnere aufgeschlagen ist und den Kopf des Malers freigibt, der in Sittes charakteristischer En-face-Haltung gezeigt wird. Neben ihm im Glas der Fensterscheibe erscheint auf Augenhöhe die Darstellung eines Totenschädels – eine Anspielung auf den Bildtitel und den ungewissen Zeitpunkt des Todes.
7 Willi Sitte: Selbst mit Schrei, 1992, Öl auf Karton, 61 × 54 cm, Privatsammlung
Im Folgejahr, 1993, entstanden die Gedanken eines ehemaligen Formalisten S. 82. Dieses Selbstbildnis ist für die 1990er Jahre ebenso essenziell wie existenziell. Sitte spielt hier sowohl in der Darstellung selbst als auch im Werktitel mit seiner eigenen künstlerischen Vergangenheit. In der linken Bildhälfte zeigt er sein Porträt in der bekannten Haltung, verschattet liegt sein Gesicht, nur angedeutet, skizziert ist das Dekorum, einzig der Kopf selbst ist detaillierter ausgearbeitet. Durch eine hellgraue Vertikale getrennt, erscheint in der rechten Bildhälfte eine Komposition, die entfernt an Sittes Malereien auf Henning-Kartons der frühen 1950er Jahre erinnert.12 Für Arbeiten in diesem der Moderne verpflichteten Stil wurde er jahrelang als Formalist diffamiert – nun, 40 Jahre später, wurden diese Arbeiten mehr und mehr zu den einzig noch akzeptierten Werken des Künstlers: Ironie der Geschichte! Was mögen die Gedanken des ehemaligen Formalisten sein, wie er sein eindrucksvolles Selbstbildnis nennt?
In den folgenden zehn Jahren entstehen noch einige Arbeiten, denen allen etwas Verzweifeltes, Hilfloses anhaftet. Stets tritt dem Betrachter ein in sich gekehrter, skeptischer Mann gegenüber, der sich eher zurückzieht als offensiv seinem Gegenüber begegnet. Wiederholt stellt er sich mit Pinseln vor der Staffelei dar 8. Eine eindrucksvolle Komposition, seine Lebenssituation verarbeitend, offenbart noch einmal ein 1999 entstandenes Bildnis S. 84. Auf einem teilweise freistehend gelassenen Bildträger wirkt die Darstellung fast wie eine Zeichnung mit Ölfarbe und zeigt den dem Betrachter zugewandten Kopf des Künstlers, dem das Wasser nicht nur sprichwörtlich bis zum Hals steht. Rechts neben ihm hängt an einem von oben kommenden Seil ein Stein, der, würde man das Seil kappen, das Wasser steigen und die Situation für den Dargestellten lebensbedrohlich werden ließe. Mit solchen Selbstdarstellungen gelingen Willi Sitte am Ende seines langen Schaffens zwar einfache, aber dennoch eindrucksvolle künstlerische Bildfindungen für die Bildwerdung seiner Selbstwahrnehmung.
Eines seiner letzten Selbstbildnisse zeigt den Maler im Jahr 2002 S. 85: gealtert, in sich zusammengefallen, das Gesicht tief verschattet, links im Hintergrund erneut ein Schatten aus der Vergangenheit oder der Gegenwart. Auch diese Arbeit wirkt mehr wie eine Zeichnung in Öl denn ein ausgearbeitetes Gemälde. Resigniert blickt der Künstler am Ende seines Schaffens auf sich, den Betrachter und seine Vergangenheit. Die Darstellung hat etwas Opferndes gleich einer Ecce-Homo-Pose. Nach den Erfahrungen der 1990er Jahre, die um 2000 in den Nürnberger Eklat mündeten, zieht sich der Maler in sich zurück; nach einer Operation wenig später beendet er sein aktives künstlerisches Dasein.