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Dagmar Barnouw

Autorität und Freiheit: Hannah Arendt und die politische Modernität Amerikas

Die Frage der politischen Modernität Amerikas in ihrer Bedeutung für die Entwicklung von Arendts politisch-philosophischem Essayismus wird hier in der Situation nach den Ereignissen des 11. September 2001 gestellt. Das ist weniger anachronistisch, als es zunächst scheinen mag, denn diese Entwicklung begann mit Arendts kritischen Aufsätzen zum politischen Zionismus (1944–48), und hier fanden sich schon die Hauptansätze ihres politischen Denkens, vor allem die wichtige Rolle eines zukunftsorientierten politischen Handelns. Ihre in diesen Texten geäußerten Bedenken gegen die Gründung eines jüdischen Staates in der Region, zu der Zeit und unter den Umständen analysierten bereits Probleme einer theokratischen, vergangenheitsbezogenen Politik des zukünftigen Staates und eine mögliche reaktive religiopolitische Radikalisierung der Araber. Am Ende des Weltkrieges argumentierte Arendt, daß die Erinnerungsdiskurse extremer Verfolgung als Gründungsmythos des neuen Staates ein affirmativmythisches Geschichtsverständnis zur Folge haben würden, das eine Politik der kritiklosen Solidarität nicht nur duldete, sondern verlangte. Die kulturelle Zentralität des Holocaust in Fragen der Staatsgründung verstärkte auch den gefährlichen Glauben politischer Zionisten an das dem erwählten Volk – und nur diesem – verheißene Land in Palästina. Gestützt auf das prä-moderne, religio-politische Konzept „Eretz Israel“ und die ökonomischmilitärische Macht der USA, konnten die moralisch erhärteten territorialen Ansprüche des jüdischen Staates einer flexiblen, zukunftsorientierten Geopolitik im Nahen Osten nur hinderlich sein, und das auf Dauer.1

Arendt entwickelte ihre Kritik des politischen Zionismus unter dem Eindruck einer von ihr zu dieser Zeit sehr positiv gesehenen amerikanischen politischen Modernität, womit sie sich deutlich von der ebenso scharfen wie summarischen Kritik der Frankfurter Schule an der modernen Massenkultur der technokratischen Massendemokratie Amerikas unterschied. Aber bereits in The Human Condition (Vita Activa) zeigten sich Ansätze einer Kritik der westlichen Konsumkultur inklusive Technologie und Naturwissenschaften, die in manchen Aspekten derjenigen der Frankfurter ähnelt. Arendts Argumente gingen dabei von dem wichtigen Aufsatz „What Was Authority?“2 aus, in dem der Gesetzlosigkeit tyrannischer und später totalitärer Herrschaft die Gesetzmäßigkeit von Herrschaftsformen gegenübergestellt wurde, die sich auf legitime Autorität stützen können. In Vita Activa wurde dieses Thema dann weiterentwickelt zur Vorstellung des Politischen als des Bereichs der Interaktion zwischen Freien und Gleichen, in dem neue Formen der Autorität gelten – zum Beispiel in der Zuordnung von Freiheit und Autorität. Wichtig ist im Konzept des Politischen die Autorität, die es dem Individuum ermöglicht, politisch verantwortlich zu handeln. Diese Position sollte sich in Über die Revolution auf ein hier in gewisser Weise transzendierendes Verständnis des Politischen auswirken: Arendt sah die positive Besonderheit der amerikanischen Revolution eher in ihrer Motivierung durch das Ideal unbehinderter politischer Interaktion als in der utopischen Vorstellung eines besseren Lebens im ökonomischen und sozialen Bereich. Folgerichtig stützte sie sich denn auch nicht auf Jeffersons und Madisons realistischere Sicht politischer Repräsentation, für die soziale und ökonomische Impulse notwendigerweise eine Rolle spielen würden. Ihr Modell war vielmehr John Adams’ ideologisch gestrafftes Revolutionsverständnis mit seiner „positive Passion for the public good, the public Interest, Honor and Glory“, „the Principle of Virtue“.3 Mit Adams teilte sie die Vorliebe für die klassische politische Philosophie und damit das Bedürfnis für klare Unterscheidungen, auch zwischen der Freiheit politischen Handelns und der Notwendigkeit des Verhandelns, das „Prinzipien“ hinterfragen kann und oft muß.

Gerade die Notwendigkeit politischen Verhandelns hatte aber in Arendts früher Kritik des politischen Zionismus eine große Rolle gespielt. In der gegenwärtigen Krisensituation, außerordentlich verschärft durch die zunehmende Verbreitung von religiös-politischem Radikalismus auf israelischer und reaktiv auf arabischer Seite, sowie angesichts der Existenz von Massenvernichtungswaffen auf der ganzen Welt, ist diese Rolle noch wichtiger geworden. Wie damals geht es auch heute um Verhandeln als eine zwischen feindlichen Positionen vermittelnde Absage an alle absoluten Ansprüche und Versprechungen, inklusive machtpolitisch nützlichen „göttlichen“ Verheißungen, ob sie nun Land betreffen oder Leben. Das in Kriegs- oder kriegsähnlichen Situationen übliche Transzendieren und Abstrahieren der Todeserfahrung hat sich häufig auf solche absoluten Ansprüche gestützt, mit denen dann die radikale moralische Umwertung von Akten des Tötens verhüllt werden kann. Hinterfragt man dagegen solche Ansprüche kritisch, dann kann sich unter Umständen die im Krieg kulturell autorisierte Umkehr des Tötungsverbots auch enthüllen als krimineller Zwang zur Selbstzerstörung der eigenen Gruppe – ganz zu schweigen von der Zerstörung der restlichen Welt.4

Die Aufwertung physischer Gewalttätigkeit, die unvermeidlich zu einer generellen Abwertung individueller und kollektiver Lebenszeit führt, ist charakteristisch für extreme Situationen, und zwar in der Offensive wie in der Defensive, auf seiten der Mächtigen wie auf der der Ohnmächtigen, der eigenen und der feindlichen Gruppe. Jahrtausendelang ein ebenso vertrauter wie entsetzenerregender Mechanismus machtpolitisch motivierter Aggression, ist die moralische Inversion des Krieges im Kern irrational, denn sie leugnet die Grundvoraussetzung des menschlichen Bewußtseins: die erfahrene Realität des Todes und damit der begrenzten Lebenszeit. Im „Krieg“ gegen den Terrorismus nach den Ereignissen vom 11. September 2001 müßte der angeblich „unvermeidliche“ „Kollateralschaden“ der Zivilbevölkerung bei den militärischen Aktionen der allmächtigen USA und ihres Klientenstaates Israel ebenso ernsthaft hinterfragt werden wie die terroristischen Reaktionen der ohnmächtigen „Selbstmordattentäter“. In beiden Fällen scheint das moderne Verständnis einer mit allen anderen geteilten, begrenzten Lebenszeit aufgehoben, und damit die moderne Einsicht in die zeit- und zufallsbedingte Historizität der menschlichen Existenz, auf die sich die Bereitschaft zu politischem Verhandeln weitgehend stützt. Durch jahrzehntelange Unterdrückung ihrer Gruppe in religiösen Fundamentalismus getrieben, verlassen sich die „Selbstmordattentäter“ auf die Verheißung ihrer umstandslosen Beförderung ins Paradies, ohne Rücksicht auf die endgültige Realität ihres Sterbens und der toten und verletzten Opfer ihres Selbstopfers. Die von amerikanischen und israelischen Soldaten kollateral Getöteten und Verstümmelten werden ebenso einfach einem religiös abgeschirmten, machtpolitisch opportunen Verlangen nach dauernder Sicherheit geopfert.

Arendt entwickelte ihre spezifische Perspektive auf die amerikanische Revolution in einem Stadium ihres politischen Denkens, in dem sie sich auch mit den Implikationen des Eichmann-Prozesses auseinandersetzte. Die amerikanische erschien ihr als die einzige unter den modernen Revolutionen, die die römische Autorität der Gründung reklamierte, denn sie endete in der Constitution als Grundlage klaren und distinkten politischen Handelns in der Gegenwart und der Zukunft. Diese Gründung als Auf-Dauer-angelegt-Sein ist aber in Arendts Szenario immer noch der Kontingenz menschlicher Lebenszeit unterworfen, der für menschliche (politische) Kultur wichtigsten aller Kontingenzen: Dauer im menschlichen Maß, für eine Zeit. Auch wenn sie die amerikanische Revolution außerhalb des Bereiches sozialer Notwendigkeit ansiedelt und sie als Kampf für Freiheit (freedom) eher denn für Freiheiten oder Freizügigkeit (liberties) sieht, ist der durch Freiheit ermöglichte signifikante Neubeginn ein Neubeginn in der „Tradition“, der kulturgeschichtlichen Zeit, nicht im Mythos: die Modifizierung, nicht die Negation der historischen Notwendigkeit durch das politische Konstrukt der Constitution, der Verfassung. Hier ist die Verbindung zu dem Konzept der „Natalität“, dessen Wichtigkeit Arendt zuerst in ihrer Kritik des politischen Zionismus klar wurde, das sie in Vita Activa ausführlich thematisieren sollte und in der Gründung eines jüdischen Staates gefährdet sah. Anders als der jüdische Staat basiert die Verfassung der Vereinigten Staaten nicht auf einem Gründungsmythos, sondern auf einer für kontinuierliche Interpretationen und Neuanfänge offenen „story“, deren Sinn, Sinnhaftigkeit, Vernünftigkeit einsichtig sein, das heißt sich immer neu beweisen, neu durchsetzen muß. In dem Vortrag „Thinking and Moral Considerations“ (1971) – später die Einleitung zu Thinking (Das Denken) – wird dann epistemologisch ein Aspekt des Problemkomplexes „Autorität“ weiterentwickelt, der in Eichmann in Jerusalem psychologisch-politisch untersucht wurde: Denken als Nicht-Identifizierung, als Markierung der modernen intellektuellen Unabhängigkeit im Gegensatz zu Eichmanns totalitaristischer Unfähigkeit, für sich selbst zu denken. In der Einleitung zu Das Denken wird denn auch noch einmal explizit auf die Verbindung der „Banalität des Bösen“ mit dieser Unfähigkeit hingewiesen.5 Die Möglichkeit nicht nur zur Freiheit, sondern auch zum unabhängigen Denken wird von einer „kollektiven“ Autorität gestützt, nämlich der Autorisierung durch eine politische Gemeinschaft. Diese beruft sich explizit nicht auf von vornherein abgesprochene Solidarität und dauernde Identität, wie es zum Beispiel der politische Zionismus tut, sondern auf offene Prozesse gegenseitiger Verständigung und die sich in dieser Verständigung etablierende Gleichheit (equality).

Die Entdeckung der Freiheit

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