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Wolfgang Heuer

Von Augustinus zu den „Founding Fathers“. Die Entdeckung des republikanischen Erbes in der europäischen Krise

Als Hannah Arendt mit ihrem Mann Heinrich Blücher im Mai 1941 den Hafen von Lissabon an Bord der S/S GUINÉ der Companhia Colonial de Navegação verließ, um zwölf Tage später in New York anzukommen, begann eine neue, entscheidende Etappe in ihrem Leben. Sie verließ Europa nicht nur räumlich, sondern auch geistig, und fand in Amerika nicht nur Asyl, sondern begegnete dort einer Republik, deren Tradition und Bedeutung ihr in Deutschland bis dahin verborgen geblieben waren. Diese Begegnung und die Auseinandersetzung mit der amerikanischen Tradition bewirkte keine grundsätzliche Änderung in ihrem politischen Denken, sondern vertiefte vielmehr eine Entwicklung, die mit der Existenzphilosophie in Deutschland begonnen hatte und mit der Diskussion über die Zukunft der europäischen Juden im französischen Exil eine unerwartete Fortsetzung gefunden hatte. Dabei war Arendt von drei entscheidenden Begegnungen geprägt worden: der Begegnung mit Heidegger und Jaspers, dem ‚Lehrer‘ und dem ‚Erzieher‘, wie Arendt sie nannte; der Begegnung mit dem deutschen Zionisten Kurt Blumenfeld, durch den sie mit dem Feld der Politik und mit dem politischen Denken in Berührung kam, und die Begegnung mit Heinrich Blücher in Paris, der ihr bis zu seinem Tod 1970 zum wichtigsten Diskussionspartner über das Scheitern der europäischen politischen, aber auch philosophischen Tradition und über die Zukunft der Politik und der politischen Institutionen wurde.

Es waren aber nicht diese persönlichen Begegnungen allein, die Arendt prägten, sondern vor allem auch ihr Gespür für den Bruch der Kontinuität seit dem Ersten Weltkrieg und die leidenschaftliche Bereitschaft, sich diesem Unbekannten zu stellen. Zwischen ihrer Geburt 1906 in Linden bei Hannover sowie der Jugendzeit in Königsberg und dem Beginn ihres Studiums bei Heidegger 1924 geschah etwas, das sie später als die Unterbrechung der Kontinuität der Generationen bezeichnete: „Hier ist ein ‚leerer Raum‘, eine Art historisches Niemandsland entstanden, das nur mit Bestimmungen wie ‚nicht mehr und noch nicht‘ umschrieben werden kann. In Europa wurde die Kontinuität der Generationen während und nach dem Ersten Weltkrieg völlig unterbrochen“1. Mit dem Schicksalsjahr 1914 tat sich ein Abgrund auf, der „von Jahr zu Jahr tiefer und gefährlicher geworden ist, bis schließlich die im Herzen Europas errichteten Todesfabriken endgültig den zerschlissenen Faden durchtrennten, der uns noch mit einer Geschichte von mehr als zweitausend Jahren verbunden hatte.“ Die Wirklichkeit, der sich Arendt ausgesetzt sah, konnte „mit bestehenden und überlieferten Vorstellungen von Welt und Mensch nicht mehr begriffen werden“2.

Arendt setzte sich dieser unbegreiflichen Welt in ihren verschiedenen Erscheinungsformen aus. Anfangs, zu Beginn ihres Studiums, spornte sie das Gefühl einer tief empfundenen Fremdheit dazu an, wodurch sie sich zur Existenzphilosophie hingezogen fühlte. Es ging ihr darum, einen zunächst noch unpolitischen eigenen Ort in der Gemeinschaft mit anderen zu finden. In ihrer Dissertation Der Liebesbegriff bei Augustin suchte sie unter dem Stichwort „Vita Socialis“ einen vom Individuum und von Gott unabhängigen „Erfahrungszusammenhang, in dem der Nächste gerade eine spezifische Relevanz hat“3. In der anschließenden Auseinandersetzung mit dem Leben Rahel Varnhagens ging es ihr nun politischer unter dem Eindruck des zunehmenden Antisemitismus in Deutschland um die Versuche einer Jüdin zur Zeit der deutschen Romantik, ihre Stellung als Außenseiterin in der Gesellschaft zu überwinden und als vollwertiges Mitglied anerkannt zu werden.

Neben dem Gefühl der Fremdheit war Arendt von einer tiefen Leidenschaft des Denkens erfüllt, eines Denkens, das weniger an Erkenntnis im instrumentellen Sinn interessiert war als an einer verstehenden Sinnsuche. Ihre Biographie Rahel Varnhagens wurde deshalb auch keine Abhandlung über die Probleme der jüdischen Assimilation während der Herausbildung der modernen Nationalstaaten, sondern ein Gang durch die Erfahrungswelt einer Jüdin, die auf schmerzhafte, immer wieder scheiternde Weise den Weg zu gesellschaftlicher Anerkennung suchte. Arendt intonierte „die Melodie eines beleidigten Herzens“, wie sie ihr Buch am liebsten genannt hätte, aber sie fand bis zu ihrer Flucht aus Deutschland 1933 keine menschlich und politisch zufriedenstellende Lösung des Problems. Erst im Exil, erst nach vielen Diskussionen über die Zukunft der europäischen Juden und der europäischen Staaten, schrieb sie 1938 die beiden Schlußkapitel. Rahel Varnhagen, so Arendt, fand erst dann zu sich selbst und zu einer gesellschaftlichen Anerkennung, als sie nicht mehr ihr Judesein ablegen und in einem anderen gesellschaftlichen und religiösen Gewand erscheinen wollte, sondern selbstbewußt als Jüdin und voller Bewunderung für den unabhängigen Heine.

Bis zu diesen Schlußfolgerungen aber war es noch ein langer Weg. Dennoch war die Arbeit an der Biographie Rahel Varnhagens mehr als die Beschäftigung mit einem individuellen Schicksal aus der Sicht der von Arendt empfundenen Fremdheit. Arendt hatte 1926 in Heidelberg Kurt Blumenfeld, den Präsidenten der Zionistischen Vereinigung für Deutschland kennengelernt, der neben ihren philosophischen Lehrern zu ihrem politischen Mentor wurde. Er konnte sie zwar nicht zu einem rückhaltlosen Zionismus bekehren, ihr aber die Judenfrage in aller Eindringlichkeit nahebringen und sie davon überzeugen, daß die bisherigen Bemühungen der Juden in Deutschland um Assimilation vergeblich waren. Unter diesem Eindruck arbeitete Arendt bis 1933 an der Biographie Rahel Varnhagens.

Im Unterschied zu denjenigen ihrer jüdischen Freunde, die wie auch ihr erster Mann Günther Stern (pseud. Anders) sofort Deutschland verließen, waren der Reichstagsbrand und die anschließenden Verhaftungen Oppositioneller der Anlaß für sie, nicht mehr intellektuell, sondern praktisch zu reagieren. „Was dann losging, war ungeheuerlich und ist heute oft von den späteren Dingen überblendet worden. Dies war für mich ein unmittelbarer Schock, und von dem Moment an habe ich mich verantwortlich gefühlt.“4 Schon als Kind hatte sie die Verhaltensregel ihrer Mutter sehr beeindruckt, sich immer als das zu wehren, als was man angegriffen wird, nämlich als Jüdin und nicht als Deutsche oder gar Weltbürgerin. Als sie von Blumenfeld gebeten wurde, zur Vorbereitung des 18. Zionistenkongresses im Sommer 1933 antisemitische Texte in Schriften deutscher Vereine und Berufsverbände zusammenzustellen, sagte sie sofort zu. Als sie aber nicht lange danach vorübergehend verhaftet wurde, beschloß auch sie, aus Deutschland zu fliehen. Sie ging nach Prag, dann nach Genf und schließlich nach Paris.

Besonders erschüttert war sie über die freiwillige Gleichschaltung einiger nichtjüdischer Freunde wie des Germanisten Benno von Wiese: „Das Problem“, sagte sie gegenüber Günter Gaus 1964, „das persönliche Problem war doch nicht etwa, was unsere Feinde taten, sondern was unsere Freunde taten. Was damals in der Welle von Gleichschaltung, die ja ziemlich freiwillig war, jedenfalls noch nicht unter dem Druck des Terrors vorging: das war, als ob sich ein leerer Raum um einen bildete. […] Und ich konnte feststellen, daß unter den Intellektuellen die Gleichschaltung sozusagen die Regel war. Aber unter den anderen nicht. Und das hab’ ich nie vergessen.“5

Diese intellektuelle ‚déformation professionelle‘ bestärkte sie in dem Entschluß, nie wieder irgendeine ‚intellektuelle Geschichte‘ anzufassen. In Paris arbeitete Arendt zuerst bei einer französischen Organisation, die junge Emigranten nach Palästina landwirtschaftlich und handwerklich ausbildete, dann als Sekretärin der Baronnesse Germaine de Rothschild, deren Spenden an jüdische Wohltätigkeitseinrichtungen sie betreute, und schließlich von 1935 bis 1938 als Geschäftsführerin des Pariser Büros der Jugend-Aliyah. Die Organisation bemühte sich darum, jüdische Kinder aus Mittel- und Osteuropa auf die Auswanderung nach Palästina vorzubereiten. Während dieser Arbeit begleitete sie 1935/36 eine Gruppe von Jugendlichen nach Palästina und nahm 1936 am jüdischen Weltkongreß in Genf teil. Nach der Schließung des Büros arbeitete sie bis September 1939 für die Jewish Agency als Sachbearbeiterin für die Rettung jüdischer Jugendlicher aus Österreich und der Tschechoslowakei.

Arendt war auf ihrem Weg ins Exil nur kurz in Genf bei sozialdemokratischen Freunden geblieben und bald der Zionisten wegen nach Paris gegangen. Doch bei aller Zustimmung zu einem Zionismus, der sich als politischer Bewegung von der politischen Passivität und Blindheit jüdischer Wohltätigkeitsverbände abhob, geriet sie bald in Widerspruch zu dem Nationalismus, der ein wesentlicher Bestandteil eben jenes Zionismus war, und auch zur Palästinapolitik der zionistischen Organisationen.

Die wichtigsten Gesprächspartner dabei bildete ab 1936 ein Kreis von Personen, dem Walter Benjamin und Berliner Kommunisten wie der Berliner Anwalt Erich Cohn-Bendit, der Arzt Fritz Fränkel, der Maler Kurt Heidenreich und ihr späterer Mann Heinrich Blücher angehörten. Insbesondere die Diskussionen mit Heinrich Blücher führten zu einer Weiterentwicklung ihrer politischen Auffassungen. Blücher und Benjamin drängten sie, die inzwischen gewonnenen Einsichten, daß die Assimilation das jüdische Problem nicht lösen konnte, in ihre Varnhagen-Biographie einzuarbeiten. „Rahel stand immer als Jüdin außerhalb der Gesellschaft, war ein Paria und entdeckte schließlich, höchst unfreiwillig und höchst unglücklich, daß man nur um den Preis der Lüge in die Gesellschaft hineinkam, um den Preis einer viel allgemeineren Lüge als die der einfachen Heuchelei; entdeckte, daß es für den Parvenu – aber eben auch nur für ihn – gilt, alles Natürliche zu opfern, alle Wahrheit zu verdecken, alle Liebe zu mißbrauchen, alle Leidenschaft nicht nur zu unterdrücken, sondern schlimmer, zum Mittel des Aufstiegs zu machen.“6 In einer Gesellschaft der Privilegien repräsentieren die Paria das Humane und Menschliche, sie entdecken dabei die Menschenwürde als „die einzig natürliche Vorstufe für das gesamte moralische Weltgebäude der Vernunft“7. Sie können nicht nur mehr Sinn für die Wirklichkeit haben, sondern auch mehr Wirklichkeit besitzen als der Parvenu. Voraussetzung dafür ist die Distanz zur Gesellschaft und die Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Politisch gesehen heißt das, sich nicht in einer Welt der Parias abzuschließen und einer nationalistischen Weltanschauung zu verfallen, sondern als „bewußte Parias“ „zum Rebell werden, zum Vertreter eines unterdrückten Volkes, das seinen Freiheitskampf in Verbindung mit den nationalen und sozialen Freiheitskämpfen aller Unterdrückten Europas führt“8.

Die Moderne, so Arendt später in ihrem Aufsatz über die verborgene Tradition jüdischen politischen Selbstbewußtseins, hat den gesellschaftlichen Spielraum so sehr eingeschränkt, daß er nur durch den politischen Kampf um Gleichberechtigung und das heißt um eine Neuordnung der politischen Rechte wieder hergestellt werden kann. Der Nationalsozialismus und die antisemitischen und faschistischen Bewegungen in Europa machten in der Krise der europäischen Nationalstaaten klar, daß wesentliche Elemente wie Nationalismus und Pluralismus sowie Staatssouveränität und allgemeine Bürgerrechte nicht miteinander vereinbar waren. Die Zukunft der Juden in Europa konnte deshalb auch nicht in einem jüdischen Nationalismus liegen, weil er ganz der Tradition des verhängnisvollen europäischen Nationalismus des neunzehnten Jahrhunderts verhaftet war.

Bei der Diskussion darüber, welche politische Zukunft die europäischen Juden und darüber hinaus die europäischen Völker haben könnten, erwies sich Blücher als idealer Partner. Als Arendt in Berlin Anfang der dreißiger Jahre mit Blumenfeld über den Zionismus diskutierte, gab es keine vergleichbaren Gespräche mit Günther Stern, der zu den Kommunisten um Brecht Kontakt hatte. Arendt und Stern hatten bei diesen existentiellen Debatten, wie auf die Krise zu reagieren sei, in ihren zionistischen und kommunistischen Kreisen weitgehend nebeneinander hergelebt. Erst in Paris, erst mit Blücher, begann in der Zuspitzung der Krise eine für Arendt äußerst fruchtbare Diskussion, in der beide in die Kritik des zusammenbrechenden Europa auch die Kritik am jüdischen Nationalismus und am sterilen Kommunismus einbezogen.

Blücher, 1899 in Berlin geboren, war von einer ähnlichen philosophischen Leidenschaft wie Arendt erfüllt, nur hatte er nie studiert. Er stammte aus proletarischen Verhältnissen, sein Vater starb kurz vor seiner Geburt bei einem Fabrikunfall, seine Mutter war sehr labil. Nach der Volksschule erhielt er die Gelegenheit, wegen des Lehrermangels im Ersten Weltkrieg ein Junglehrerseminar zu besuchen, wurde aber 1917 noch eingezogen, erlitt eine Gasvergiftung und kehrte nach längerem Lazarettaufenthalt zum Lehrerseminar zurück. Da aber galt seine Begeisterung schon den Spartakisten, und er verließ das Seminar, weil er mit der „weltfremden Wissenschaft“ nichts anfangen konnte. Er schloß sich der KPD um Rosa Luxemburg und Paul Levi an und tendierte später zu dem gemäßigten Flügel um Thalheimer und Brandler. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich in Berlin mit journalistischen Arbeiten und besuchte nebenbei Kurse an der Hochschule für Politik und hörte Vorlesungen bei Hans Dellbrück über Militärgeschichte. Er lernte Robert Gilbert kennen, dessen Schlagertexte in Deutschland berühmt wurden, textete mit ihm für Filme wie ‚Ja, das ist das Leben der Matrosen‘ und ‚Bomben auf Montecarlo‘, verkehrte in einem Kreis um den Expressionisten Max Holz und interessierte sich für moderne Kunst. Zweimal heiratete er. Doch die erste Ehe wurde kurze Zeit später wieder geschieden, und seine zweite Frau, die Litauerin Natascha Jefroikyn, heiratete er vor allem, um ihr die deutsche Staatsangehörigkeit zu ermöglichen. 1934 floh er über Prag nach Paris und lernte dort 1936 Hannah Arendt bei einem ihrer Vorträge kennen, 1940 heirateten sie.

Seine Stärke war die Rhetorik, die wiederum von seinem Wissensdurst, seinen Fragen und seiner Lust zur Diskussion getragen war. Alles Schreiben dagegen war ihm eine Qual, Folge einer „ungeheuerlichen schriftstellerischen Unbegabung“9, und er verzichtet schließlich darauf. „Die gute Fee hat gesprochen, ‚der Junge soll Urteilskraft haben‘, und die böse Fee hat unterbrochen und den Satz beschlossen, ‚und sonst nichts‘. Dabei bleibt es wohl“, schrieb er an Arendt.10

Blücher wandte sich nicht einfach vom Kommunismus ab, sondern stritt mit den anderen Kommunisten, doch vergeblich. „Unsereiner sucht die Dialektik in den Dingen selbst und wird als Intellektueller verschrien, während die scholastischen Helden vom pappernen Schwert sich als Realpolitiker anpreisen. Es ist alles wie um und um gedreht in dieser Zeit der chronischen Pleiten“, schrieb er im November 1936 an Arendt. Auch, daß die Stalinisten ihn als „total verjudet“ bezeichneten.11

Mit Walter Benjamin stritt er 1938 über Brechts Lesebuch für Städtebewohner. Anschließend schrieb Benjamin zustimmend in sein Tagebuch: „Blücher wies sehr mit Recht darauf hin, daß bestimmte Momente des Lesebuchs für Städtebewohner nichts sind als eine Formulierung der GPU-Praxis.“ Benjamin erkannte darin eine Verfahrensweise, „in der die schlechtesten Elemente der KP mit den skrupellosesten des Nationalsozialismus kommunizieren. […] Vielleicht darf man annehmen, daß ein Kontakt mit revolutionären Arbeitern Brecht davor hätte bewahren können, die gefährlichen und folgenschweren Irrungen, die die GPU-Praxis für die Arbeiterbewegung zur Folge hatte, dichterisch zu verklären.“12

Die Beschäftigung mit der Gegenwart wurde durch diese Art der Auseinandersetzung intensiviert. Das betraf Blücher in gleichem Maße wie Arendt. Beide verspürten den Drang, den Abgrund ohne das begriffliche Geländer von Kommunismus oder Zionismus zu erforschen. Beide aber brachten das in die Diskussionen ein, was sie aus ihrem politischen Hintergrund für wert erachteten, bewahrt und weiterentwickelt zu werden. Blücher kritisierte die verhängnisvollen mechanistischen und damit unpolitischen Theorien der Arbeiterbewegung und der Revolution sowie die deterministischen Auffassungen einer dialektischmaterialistischen Erkenntnis und eines historisch-materialistischen Geschichtsablaufs. Aber er bewahrte die Erfahrungen der politisch selbständig und solidarisch Handelnden und des revolutionären, politischen Neuanfangs sowie die Analysen von Imperialismus und Nationalismus auf. Themen, die in Arendts Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, in Vita activa oder Vom tätigen Handeln und in ihrem Buch Über die Revolution einen unübersehbaren Platz einnehmen. So plädierte er 1936 in einem Brief an Arendt, kaum daß sie sich kennengelernt hatten, für den Kampf des jüdischen Volkes um Gleichberechtigung und Befreiung: „Es gibt genug Gelegenheit für die Juden, eine eigene Tat zu tun. Aber man muß für den Fortschritt kämpfen und sich nicht von der Reaktion mißbrauchen lassen. Haben nicht die Juden allen Grund, sich überall dem Faschismus todesmutig entgegenzuwerfen? Warum ist denn keiner auch nur auf die Idee gekommen, das Recht auf den Einsatz einer eigenen jüdischen Kampftruppe gegen den Faschismus in Spanien zu fordern? […] Ein Volk will sich gebären? So soll es die Freiheit umarmen. Die Juden haben ihren nationalen Befreiungskampf, schon aus geographischen Gründen, von vornherein im internationalen Maß zu führen. Dazu aber muß die Masse dieses herrlichen internationalen Sprengstoffes davor bewahrt werden, daß man sie im Nachttopf einer jüdischen Schnorrerinternationale in Scheiße verwandelt. Sie sollen stolz werden und nichts geschenkt wollen. Ihre Bourgeoisie korrumpiert sie. Vor allem aber in Palästina – da wollen sie gleich ein ganzes Land geschenkt haben. Das wird aber ebensowenig geschenkt wie ein Weib; es muß gewonnen sein.“13 Ganz ähnlich argumentierte Arendt in ihrer Kolumne „That means you“ in der deutsch-jüdischen Zeitung Aufbau 1941/42.

Arendt entwickelte den gesellschaftlichen jüdischen Paria zum politisch agierenden, zum rebellierenden Paria fort und trennte die zionistische Idee eines eigenständigen jüdischen Volkes von jedem übergeordneten Nationalismus. So werteten beide, Arendt und Blücher, mit der Ablehnung von Nationalismus und Geschichtsdeterminismus die Rolle des politischen Handelns und der Handelnden in einer Weise auf, die jenseits der bisherigen europäischen Tradition eines liberalen, schwachen und eines sozialistischen, abstrakten Klasseninteressen unterworfenen Handelns stand. Damit entwarfen sie, noch bevor sie in den USA die republikanische Tradition der „Founding Fathers“ kennenlernten, die ihrerseits zur italienischen Renaissance und weiter zur Römischen Republik zurückreichte, Elemente einer politischen Theorie, die dieser Tradition viel näher stand, als sie es vielleicht selbst ahnten.

Die Aufwertung des politischen Handelns bedeutete auch, die liberalen, sozialistischen und auch zionistischen Konzepte zur Lösung der Minderheitenfrage politisch abzulehnen. Noch in Paris erläuterte Arendt in einem Brief an Erich Cohn-Bendit ihre Ansichten zur politischen Lösung der Minderheitenfrage in Europa, die sich nach dem Ersten Weltkrieg dramatisch verschärft hatte. Das Verhängnis der europäischen Politik, und zwar sowohl der Regierungen wie auch der jüdischen Vertretungen, bestand ihrer Meinung nach erstens darin, daß die Minderheitengesetzgebung das Problem nicht lösen konnte, weil sie die Minderheiten nicht als Nationalitäten, sondern nur als Religions- und kulturelle Gemeinschaften verstand. „Kultur ohne Politik, das heißt ohne Geschichte und nationalen Zusammenhang, wird zur dümmlichen Folklore und zur völkischen Barbarei“.14 Zweitens bestand dieses Verhängnis darin, daß „eine ganz neue europäische Menschenklasse“15 entstand, die Staatenlosen. Ohne Staatsbürgerschaft aber gab es weder die Aussichten auf eine Assimilation wie im achtzehnten Jahrhundert noch einen gesicherten Status überhaupt. Der Grund dafür war die fehlende Neuordnung Europas. „Die Assimilationschance des neunzehnten Jahrhunderts – eigentlich des ausgehenden achtzehnten – lag gerade in der durch die französische Revolution hervorgerufenen Neukonstituierung der Völker und in ihrer Entwicklung zu Nationen. Dieser Prozeß ist heute aber abgeschlossen. Es kann keiner mehr hinzukommen. Ja, es findet der umgekehrte Prozeß statt: der der Ausgliederung sehr großer Menschenmassen und ihre Depravierung zu Paria.“16

Daß diese Neuordnung nicht stattgefunden hat, liegt an der fehlenden Einsicht in die vorrangige Bedeutung, die die politische Freiheit und Gerechtigkeit und die daraus folgende notwendige Rechtssicherheit für die Politik haben. „Alle Minderheitenpolitik, nicht nur die jüdische, ist gescheitert an der bestehend bleibenden Staatssouveränität.“17 Die einzige Alternative dazu kann nur die Überwindung des europäischen Souveränitätsdenkens sein: „Unsere einzige Chance – aber auch die einzige Chance aller kleinen Völker – liegt in einem neuen föderalen System Europas. […] Die Räume, die wirklich ökonomisch und politisch zu halten sind, erweitern sich dauernd. Es kann sehr bald eine Zeit kommen, wo die Zugehörigkeit zum Territorium durch die Zugehörigkeit zu einem Nationenverband ersetzt wird, in welchem nur der Verband als gesamter Politik macht. Also europäische Politik bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung aller Nationalitäten. Bei solch einer Gesamtregelung wäre die Gefahr der Folklore nicht mehr existent […] Das neunzehnte Jahrhundert hat uns den Zusammenfall von Staat und Nation beschert. Da die Juden überall staatstreu waren – Sie besinnen sich! –, mußten sie sich bemühen, ihre Nationalität loszuwerden, sie mußten sich assimilieren. Das zwanzigste Jahrhundert zeigt uns in den furchtbaren Bevölkerungstransferierungen und den diversen Massakern – von den Armeniern und den Ukrainepogromen angefangen – die letzten Konsequenzen dieses Nationalismus. Die englische Commonwealth zeigt – wenn auch oft und zumeist in verzerrter Form – Ansätze zu neuen Bildungen. Man hört nicht auf, Inder oder Kanadier zu sein, wenn man dem Britischen Weltreich angehört. […] Es scheint mir keine Utopie, auf die Möglichkeit eines Nationenverbandes mit europäischem Parlament zu hoffen.“18 Damit wird zugleich jedes bisheriges Bemühen um eine Minderheitenpolitik überflüssig, die immer noch von einem letztlich verhängnisvollen Verhältnis von Mehrheit und Minderheit ausgeht.

Die Symbiose, die in den Diskussionen zwischen einer nicht zionistischen Arendt und einem nicht mehr kommunistischen Blücher stattfand, faßte Arendt nach dem Krieg in der Selbstbeschreibung gegenüber Jaspers zusammen: „Meine nicht-bürgerliche oder literarische Existenz beruht darauf, daß ich dank meines Mannes politisch denken und historisch sehen gelernt habe und daß ich andererseits nicht davon abgelassen habe, mich historisch wie politisch von der Judenfrage her zu orientieren.“19

Im Herbst 1939 wurde Blücher für zwei Monate interniert, im Mai 1940 Arendt. Blücher wurde dank guter Verbindung zur Witwe des Polizeipräsidenten von Paris freigelassen, Arendt nutzte die Wirren anläßlich der deutschen Besetzung von Paris, um Entlassungspapiere zu bekommen. Eine kurzfristige Lockerung der Flüchtlingspolitik der Vichy-Regierung im Januar 1941 ermöglichte es ihnen, mit dem Zug über Port-Bou, Barcelona und Madrid nach Lissabon und schließlich nach New York zu entkommen.

Die Begegnung mit den USA fand natürlich zunächst im Alltag statt. Als Arendt zu Beginn zwei Monate bei einer Familie in Massachusetts verbrachte, um ihr schlechtes Englisch zu verbessern, war sie beeindruckt von den „ganz einfachen Leuten“, denen sie begegnete. „Die Familie ist seit dem siebzehnten Jahrhundert im Lande. Beide Eltern von einem außerordentlich hohen moralischen Niveau, auffallend beim ersten Blick, sehr liebenswert. […] Dies dürfte der verfeinerte Kolonialtyp sein, großartig. Wenn es nur recht viele davon gäbe. Sehr puritanisch, aber ohne alle Vorurteile, ganz und gar tolerant, nicht selbstgerecht, sehr viel ‚Preußisches‘. Pflicht wird mit einem sehr großen P geschrieben. Der Mann hat alle Ehrenämter inne, die das Dorf zu vergeben hat.“20 Was sie an der Familie, in der sie wohnte, abgesehen von einem unpassenden Pazifismus und einem Vegetariertum, das sie an die Wandervogelbewegung in Deutschland erinnerte, beeindruckte, war ihr politisches Engagement. So schrieb die Frau einen wütenden Brief an ihren Kongreßabgeordneten, um gegen die Internierung japanisch-stämmiger Amerikaner zu protestieren.

Als Arendt nach dem Krieg den Kontakt zu Karl Jaspers wiederherstellte, schrieb sie ihm begeistert: „Über Amerika wäre überhaupt viel zu sagen. Es gibt hier wirklich so etwas wie Freiheit und ein starkes Gefühl bei vielen Menschen, daß man ohne Freiheit nicht leben kann. Die Republik ist kein leerer Wahn, und die Tatsache, daß es hier keinen Nationalstaat gibt und keine eigentlich nationale Tradition – bei ungeheurem Cliquenbedürfnis der nationalen Splittergruppen, der melting-pot ist großenteils noch nicht einmal ein Ideal, geschweige eine Wirklichkeit – schafft eine freiheitliche oder doch wenigstens unfanatische Atmosphäre. Dazu kommt, daß die Menschen sich hier in einem Maße mitverantwortlich für das öffentliche Leben fühlen, wie ich es aus keinem europäischen Lande kenne. […] Der große politisch-praktische Verstand hier, die Leidenschaft, Dinge in Ordnung zu bringen – to straighten things out – überflüssiges Elend nicht zu dulden, darauf zu achten, daß inmitten einer oft wirklich halsschneiderischen Konkurrenz die fair chance des einzelnen gewahrt bleibt, hat auf der anderen Seite zur Folge, daß man da, wo man nicht ändern kann, sich auch nicht kümmert. […] Der Grundwiderspruch des Landes ist politische Freiheit bei gesellschaftlicher Knechtschaft. Das letztere ist vorläufig nicht absolut herrschend.“21

Diese politische Freiheit anzutreffen, die auf der Abwesenheit eines Nationalstaats und der Verwirklichung einer Föderation beruhte, wie sie Arendt unter den entsprechenden Bedingungen für Europa erhoffte, erschien ihr wie die positive Umkehrung ihrer Kritik an der politischen Tradition der europäischen Nationalstaaten, wie ein Beweis ihrer Kritik durch die politische Praxis. Dabei erschien ihr der angelsächsische Pragmatismus als eine zusätzliche Überraschung, als eine Mentalität, die den Institutionen der Republik am besten zu entsprechen schien. Als Arendt später dieser Mentalität auch in England begegnete, schrieb sie an Blücher: „England: the most civilized country on earth, aber auch das langweiligste! […] Dabei bewundere ich kein Volk so wie die Engländer, als Volk nämlich. Alles, was wir an Amerika so gern haben, die decency, der Mangel an Verlogenheit, sic kein Getue, fairness etc. ist angelsächsisch.“22

Während sich Arendt in Massachusetts aufhielt, marschierte Hitler in der Sowjetunion ein und begannen die kontroversen Diskussionen in den USA über den Kriegseintritt, der dann im Dezember 1941 erfolgte. Blücher arbeitete als Forschungsassistent beim „Committee for National Morale“ und plädierte für den Kriegsbeitritt der USA. Später instruierte er amerikanische Offiziere über den Aufbau der deutschen und französischen Armee und gab schließlich Geschichtsunterricht für deutsche Kriegsgefangene. Arendt verdiente ihren Lebensunterhalt mit Zeitschriftenartikeln und einem Lehrauftrag über europäische Geschichte am Brooklyn-College. Vor allem aber kämpfte sie in ihrer Kolumne im Aufbau mit schneidender Schärfe für eine unabhängige und gleichberechtigte jüdische Politik der jüdischen Organisationen und ab 1943 bis zur Staatsgründung Israels gegen einen Nationalstaat und für eine jüdisch-arabische Föderation. Doch ohne jeden Erfolg. Es waren die Ergebnisse der Diskussionen in Paris, die sie hier zu politisch-programmatischen Forderungen erhob: für den Mut der Parias, für eine jüdische Armee, gegen die Weltfremdheit einer „Schnorrer- und Philanthropen-Internationale“23, gegen die verschiedenen Erscheinungsformen einer jüdischen Ausnahme durch Privilegien oder selbsternannte Auserwähltheit und gegen die Pläne, einen zionistischen Separatstaat zu gründen. „Der Versuch, nationale Konflikte zu lösen, indem man einerseits souveräne Staaten schafft und andererseits in Staatsgebilden, die sich aus verschiedenen Nationalitäten zusammensetzen, Minderheitenrechte gewährt, hat in unserer jüngsten Geschichte eine derart spektakuläre Niederlage erlitten, daß man eigentlich erwarten müßte, niemand käme auch nur auf den Gedanken, diesen Weg wieder einzuschlagen.“24 Doch diese Bemühungen scheiterten vollkommen an den realpolitischen Interessen Englands, der USA und der zionistischen Organisationen.

Während dieser Zeit setzte Arendt ihre Studien zur jüdischen und europäischen Geschichte aus der Zeit in Paris fort und erweiterte sie im Lauf der folgenden Jahre unter dem Eindruck der für sie zunächst kaum zu glaubenden Nachrichten von der beginnenden Ermordung der Juden. Zwei weitere Themenbereiche sollten die Grundlagen des Totalitarismus beleuchten: das Zeitalter des Imperialismus und die Elemente der totalen Herrschaft. Alle drei Themen veröffentlichte sie als eine Analyse der Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft im Jahr 1951.

Arendt begegnete in Amerika der Wirklichkeit einer anderen politischen Tradition, die ihren in Paris gewonnenen Einsichten über die politische Krise Europas nahekam und die sich nicht nur als Lösung der Krise der europäischen Nationalstaaten anzubieten schien, sondern auch die Hoffnung nährte, Teil einer Tradition zu sein, an der sich eine nachtotalitäre Politik orientieren könnte.

Diese republikanische Tradition erachtet Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit ohne jede weltanschauliche oder metaphysische Rechtfertigung als Grundlage des Gemeinwesens. Sie ermöglicht das Zusammenleben verschiedener Nationalitäten, weil Staat und Nation nicht miteinander identisch sind, weil die föderative Struktur keine Unterscheidung in Minderheiten und Mehrheiten kennt, weil die politische und rechtliche Gleichheit von der gesellschaftlichen und individuellen Verschiedenheit und Ungleichheit geschieden ist und das Recht durchgesetzt wird (das Recht, Rechte zu haben, ist dabei, wie Arendt in ihrem Kapitel über die Menschenrechte in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft ausführt, die Voraussetzung jeglicher Existenzsicherung) und weil schließlich die Machtteilung die Republik in ihrem Bestand sichert. „Die Teilung der Gewalten“, notierte sie in ihr Denktagebuch, „als Teilung der Souveränität. Entscheidend hierfür ist nicht die Montesquieusche Formel von Exekutive, Legislative und Judiciary, sondern die unbekümmerte Aufteilung von Befugnissen zwischen Federal Government und Staaten.“25

Diese Realität mit dem Hintergrund einer verborgenen Tradition wurde für Arendt zum Katalysator für die Entwicklung ihrer eigenen politischen Theorie. Nach Abschluß ihres Buches über die totale Herrschaft wandte sie sich Montesquieu zu, mit dem sie zugleich die USA „las“ und ihre eigene politische Theorie weiterentwickelte. Über Monate hinweg trug sie „diese komischen Montesquieu-Reflexionen“26 in ihr Denktagebuch und erwog, sie zur Grundlage eines längeren Textes zu machen, der aber nicht zustande kam. Die gleichzeitige Arbeit an den totalitären Elementen im Marxismus, an dem Phänomen der Pluralität in der Politik im Unterschied zur Philosophie und an den Fragen nach dem Neuen in der Politik und der Gründung der Freiheit ließ sie statt dessen an ein Buch in Form von drei Essays denken, in dem alles vereint wäre: „Staatsformen – Vita activa – Philosophie und Politik. Im 1. Polis, römische Republik etc. inklusive Montesquieu und Ableitung des Herrschaftsbegriffs. Auch Ideologie und Terror. – 2. Arbeiten, Animal laborans, Herstellen, Homo faber, Handeln. Moderne Gesellschaft als Arbeits- (und nicht Produktions-) Gesellschaft. 3. Philosophie und Politik. Inklusive ‚common sense‘ (Hobbes) und Geschichte als ‚Ersatz‘ der Polis.“27 Daraus wurde dann aber das Buch über die menschlichen Tätigkeiten Vita activa oder Vom tätigen Leben und der kritische Vergleich der revolutionären Gründungen in Frankreich und Amerika in Über die Revolution. Auch das Spätwerk Vom Leben des Geistes findet hier seinen Ursprung. Übrig blieben Fragmente, die erst posthum unter dem Titel Was ist Politik? veröffentlicht wurden.

Mit der Lektüre von Montesquieu entwickelte Arendt eine politische Theorie dessen, was sie in ihrer Dissertation über den Liebesbegriff bei Augustin schon als vita socialis, als Erfahrungszusammenhang mit dem Nächsten beschrieben hatte. Jetzt ließ sie diesen Gedanken als politischen Kern der republikanischen Freiheit, als gemeinsame, zwischenmenschliche, quasi föderale und auf institutioneller Ebene föderative Freiheit wiederkehren. In der Art und Weise der Machtbildung und der Gesetzgebung kommt der ganze Unterschied zu den souveränen Nationalstaaten zutage: „Die zentrale Frage einer künftigen Politik wird immer wieder das Problem der Gesetzgebung sein,“ notierte sie. „Die Antwort des Nationalstaats war, daß Gesetze gibt, wer Souverän ist. […] Impliziert ist, daß Gesetze vom Willen abhängen und daß bestimmte Körperschaften oder Menschen mit der Macht zu wollen, für Andere zu wollen, ausgestattet sein müssen. […] Daß ich Macht haben muß, um wollen zu können, macht das Machtproblem zum zentralen politischen Faktum aller Politik, die auf Souveränität gründet – also aller mit Ausnahme der amerikanischen“.28 Anders das gewaltenteilige, föderative System, bei dem Macht „wieder ursprünglicherweise dadurch“ entsteht, „daß ‚in concert’ von mehreren [Gewalten, W.H.] gehandelt wird. Dadurch ist das eigentlich Destruktive der Macht, ihre Subjektivität, ausgeschaltet.“29

Dieses föderative Prinzip übertrug Arendt auf das Handeln als einem gemeinsamen Handeln, in dessen Dazwischen als einem Zusammenwirken Macht erst erzeugt und Welt im Sinne einer gemeinsamen Erfahrungswelt erst geschaffen wird. Die zweite ‚große Entdeckung‘, die sie von Montesquieu übernahm, war die Unterscheidung von Wesen und Prinzip einer Regierungsform, durch die sie erst zu einer historisch handelnden Körperschaft wird. Diese Entdeckung im Werk Montesquieus ermutigte sie zu dem Essay Ideologie und Terror: eine neue Staatsform, den sie der zweiten Auflage ihres Buches über die totale Herrschaft quasi als Krönung der ganzen Untersuchung anfügte.

Bei Machiavelli hatte Arendt den Schlüssel dafür gefunden, die philosophischen Grundlagen der Republik auf das Handeln selbst und die Freiheit auf die Verbindung von Pluralität und politischen Institutionen zurückzuführen. In ihrem Essay über die neue Staatsform verband sie Ideologie und Terror als Wesen und Prinzip der totalen Herrschaft mit der Erfahrung der Verlassenheit, und in Vita activa oder Vom Tätigen Leben und in Über die Revolution entwarf sie die Welt und die Institutionen des Handelns, von der aus sie solche Tätigkeiten und Institutionen kritisieren konnte, die diesen Zusammenhang auflösen und die Freiheit bedrohen. Kurt Blumenfeld kündigte sie diesen Essay mit den Worten an, „daß ich mit einem Bein bei Montesquieu gelandet bin und das andere wieder fest in meinem guten alten Augustin plaziert habe.“30 Die Kontinuität ihres Denkens fand hier eine entscheidende Fortsetzung.

Je mehr Arendt in die Fragen nach den philosophischen Grundlagen der Republik „hineingeriet“, um so mehr erschienen ihr die geistigen Grundlagen der amerikanischen Republik angesichts von McCarthy-Ära, Massengesellschaft und Politik der Parteimaschinen wie eine verborgene Tradition, die es wiederzubeleben gelte. „Die Passion, ‚to make the world a better place to live in‘, hat erst einmal die Welt wirklich verbessert, aber auch zur Folge gehabt, daß im Prozeß der Weltverbesserung alle vergessen haben, was es heißt ‚to live‘. So stehen die Amerikaner heute wirklich in einer ‚besten aller möglichen Welten‘ und haben das Leben selber verloren. Das ist eine Hölle.“31

1Hannah Arendt, „Nicht mehr und noch nicht. Hermann Brochs ‚Der Tod des Vergil‘“ (1946), in: Dies./Hermann Broch, Briefwechsel 1946 bis 1951, hg. von Paul Michael Lützeler, Frankfurt a. M. 1996, S. 169.

2Ebd., S. 170.

3Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation, Berlin 1929, S. 75.

4Hannah Arendt, „Fernsehgespräch mit Günter Gaus“, in: Dies., Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, hg. von Ursula Ludz, München 1996, S. 48.

5Ebd., S. 56.

6Hannah Arendt, Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München 1981, S. 194.

7Ebd., S. 199.

8Hannah Arendt, Die verborgene Tradition, Frankfurt a. M. 1976, S. 55.

9Brief vom 26. Juli 1941, in: Arendt/Blücher, Briefe 1936–1968, hg. von Lotte Köhler, München 1996, S. 117.

10Brief vom 14. Februar 1950, in: ebd., S. 211.

11Brief vom 25. November 1936, in: ebd., S. 62.

12Walter Benjamin, Gesammelte Schriften VI, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1985, S. 540.

13Brief vom 21. August 1936, in: Arendt/ Blücher, Briefe 1936–1968, a.a.O., S. 52f.

14Hannah Arendt, „Zur Minderheitenfrage. Brief an Erich Cohn-Bendit“ (Paris, Januar 1940), in: Dies., Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher. Beiträge für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung „Aufbau“ 1941–1945, hg. von Marie Luise Knott, München 2000, S. 229.

15Ebd., S. 228.

16Ebd., S. 229.

17Ebd., S. 228.

18Ebd., S. 231f.

19Brief vom 29. Januar 1946, in: Arendt/Jaspers, Briefwechsel 1926–1969, hg. von Lotte Köhler und Hans Sauer, München 1985, S. 67.

20Brief vom 28. Juli 1941, in: Arendt/Blücher, Briefe 1936–1968, a.a.O., S. 120f.

21Brief vom 29. Januar 1946, in: Arendt/Jaspers, Briefwechsel 1926–1969, a.a.O., S. 66f.

22Brief vom 26. Juni 1952, in: Arendt/Blücher, Briefe 1936–1968, a.a.O., S. 297.

23Hannah Arendt, „Ceterum Censeo“ (26. Dezember 1941), in: Dies., Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher, a.a.O., S. 32.

24Hannah Arendt, „Kann die jüdisch-arabische Frage gelöst werden?“ (17./31. Dezember 1943), in: ebd., S. 199f.

25Heft VI, September 1951, in: Hannah Arendt, Denktagebuch 1950 bis 1973, hg. von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann, München 2002, Bd. 1, S. 131.

26Brief vom 6. Juni 1952, in: Arendt/Blücher, Briefe 1936–1968, a.a.O., S. 282.

27Heft XX, Mai 1954, in: Arendt, Denktagebuch 1950 bis 1973, a.a.O., S. 482f. – Vgl. auch ihren Brief an Heidegger vom 8. Mai 1954 mit einer ähnlich lautenden Beschreibung, der sie die Bemerkungen anfügt: „Ich bin da so hineingeraten, als ich Zeit hatte, den Dingen nachzugehen, die mich schon während des Buches über totalitäre Herrschaft ständig beunruhigten. […] Den Mut dazu hole ich mir unter anderem aus den bösen Erfahrungen in diesem Lande in den letzten Jahren [die McCarthy-Ära, W.H.] und aus dem komisch-hoffnungslosen Stand der politischen Wissenschaften“; in: Hannah Arendt/Martin Heidegger, Briefe 1925–1975, hg. von Ursula Ludz, Frankfurt a. M. 1998, S. 146.

28Heft VI, September 1951, in: Arendt, Denktagebuch 1950 bis 1973, a.a.O., S. 141.

29Heft VIII, Februar 1952, in: ebd., S. 184.

30Brief vom 6. August 1952, in: Hannah Arendt/Kurt Blumenfeld, „… in keinem Besitz verwurzelt“, hg. von Ingeborg Nordmann und Iris Pilling, Hamburg 1995, S. 62.

31Heft V, Juli 1951, in: Arendt, Denktagebuch 1950 bis 1973, a.a.O., S. 105.

Die Entdeckung der Freiheit

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