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Zionismus und die Grenzen der Zukunft

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Arendts Argumente in diesen Aufsätzen über die Wichtigkeit politischen Handelns und Verhandelns als Ermöglichung eines politischen Neubeginns waren stark beeinflußt von den Schriften und Vorträgen Judah L. Magnes’, der als erster Kanzler der Hebrew University bereits in seiner Antrittsvorlesung 1925 für arabisch-jüdische Versöhnung und politische Kooperation plädiert hatte. Beide waren tief besorgt über die Zukunft eines jüdischen Staates in Palästina, dessen Politik sich auf das göttliche Versprechen des „Landes ohne Volk“ für das „Volk ohne Land“ stützen würde: Palästina als auf Dauer unanfechtbares Eigentum des erwählten Volkes. Sie fürchteten weiterhin, daß der Gründungsmythos des neuen Staates – die Nazi-Verbrechen gegen das europäische Judentum – schwerwiegende politische Folgen haben würde. Der Anspruch auf die suprahistorische Einzigartigkeit und damit absolute Autorität jüdischen Leidens würde es dem jüdischen Staat de facto unmöglich machen, sich als eine Nation unter anderen zu sehen, mit denen er dann eine unvorhersagbare Zukunft gegenseitiger Abhängigkeiten, Zugeständnisse und Verantwortlichkeiten zu teilen hätte – wofür schon die Zunahme des jüdischen Terrorismus zeugte, die Arendt und Magnes 1946 mit Sorge beobachteten. Die beiden Grundpfeiler des „niemals vergessen“ und „niemals wieder“ würden dafür sorgen, daß diese neue politische Gründung für immer der ausschließlich jüdische Staat von 1948 bleiben wollte und konnte, und das in einer Periode rapider sozialer und politischer Veränderungen.

Im Frühling 2002 sollte dann ein israelischer Soldat an die Wand eines Hauses in Jenin schreiben „Ich habe kein anderes Land“, um sein gehaßtes und gefürchtetes Eindringen in das Zuhause einer palästinensischen Familie zu rechtfertigen.12 Wenn man sich die Realität von Israels militärischer und politischer Macht vor Augen führt, hinter der die Supermacht USA steht, ist diese Rechtfertigung irrational; wenn man aber an Israels vergangenheits-bezogenes, in die Zukunft transferiertes Sicherheitsbedürfnis denkt, ist sie logisch. Wie Arendt und Magnes befürchtet hatten, würden mehrere Generationen der Bevölkerung des neuen Staates von der Staatsreligion des Holocaust geprägt werden,13 der kollektiven Erinnerung an extreme Verfolgung. Diese Identität würde die volle und fraglose Unterstützung der USA finden, erst im Gedenken an den heiligen Krieg gegen den Faschismus und jetzt im Bewußtsein des gemeinsamen heiligen Kampfes gegen Terrorismus: Angeblich verteidigen Israels so brutale wie fruchtlose Invasionen in Palästina „unsere Werte“ im Nahen Osten – in der Sicht fundamentalistischer Christen und liberaler Juden, die sich sonst in Amerika nicht so leicht zusammenfinden.

Magnes war nicht an einem verheißenen Land Israel, sondern an der politischen Befreiung des jüdischen Volkes interessiert, die eher einen säkularen Lernprozeß mit Hilfe politischer Institutionen voraussetzte als ein messianisches Ereignis. In seiner heute besonders wichtigen, aber leider vergessenen Schrift Like All the Nations? (1930) argumentierte er, daß das Leben dieses „unglücklichen Landes“ „viel gesünder, viel weniger hysterisch“ sein werde, „je eher seine Bevölkerung ihre politischen Energien auf legitime, praktische und konstruktive Weise realisieren“ könnte. Versöhnungen zwischen Völkern als Interessengruppen verlangten geduldiges Verhandeln zwischen unbegrenzten Ängsten und Wünschen einerseits und begrenzten Absicherungen und Erfüllungen andererseits. Solches Verhandeln wiederum würde das Zusammentreffen beider Gruppen als politisch Handelnde und damit (in dieser Rolle) gleichberechtigte Erwachsene voraussetzen. Gerade diesem Konzept einer politischen Kooperation und Kompromißbereitschaft verdankte Magnes die dann auch für Arendt sehr wichtige Einsicht, daß weder ein jüdischer Staat noch ein binationaler Staat, noch ein Homeland sich in Palästina halten könnten, wenn alle Nachbarländer sich dagegen wehrten. Die Welt friedlich miteinander zu teilen, war für beide die Voraussetzung einer sinnvollen Existenz, am dauerndsten und sichersten durch von politischen Institutionen gestützte Zusammenarbeit.14 Im Sommer 1946 warnte Magnes vor wachsendem jüdischen Terrorismus und erklärte, daß für die Araber ein jüdischer Staat jüdische Herrschaft über die ganze Bevölkerung dieses Staates bedeutete und gerade das schädlich sein würde: Sie müßten an der politischen Regelung des Palästina-Problems beteiligt werden.15 Aber seine intendierten Hörer, amerikanische Zionisten, hatten bereits entschieden, daß ein „Jewish commonwealth“ Palästina als Ganzes umfassen sollte, „ungeteilt und ungeschmälert“. Das schien Arendt ein höchst problematischer Wendepunkt in der Geschichte des Zionismus, wie sie in ihrem sehr kritischen Aufsatz „Zionism Reconsidered“ ausführte. Jüdischer Nationalismus war für sie in dieser Situation genau das Falsche, vor allem bei dem Abhängigkeitsverhältnis des jüdischen Staates zu einer so viel mächtigeren Nation, das politischem Handeln auf der Basis von Verhandlungs- und Kompromißbereitschaft kaum förderlich sein würde. Wie Magnes bestand sie auf der praktischen Notwendigkeit jüdischer politischer Koexistenz mit Arabern und anderen Mittelmeervölkern und einem nicht-eschatologischen, säkularen jüdischen Geschichtsverständnis.16 Das jüdische Volk hatte wie andere Völker aktiv und passiv an den Geschicken anderer Gruppen teilgehabt. Seine Geschichte bestand wie die anderer Völker aus Zufällen und, im Rückblick, richtigen und falschen Entscheidungen und konnte deshalb als Lernprozeß einer besonneneren Reaktion auf die schwierige historische Situation in Palästina dienen.

In der zionistischen Politik dieser unruhigen Jahre vermißte Arendt vor allem eine rationale, detaillierte Analyse der Palästina-Frage, die über die jüdische Frage hinausging: Amerikanische Zionisten kompromittierten mit ihren religio-nationalistischen Ansprüchen die Modernität Amerikas. Gerade die Erfüllung dieser Ansprüche, Ansiedlung im verheißenen Land Palästina, machte es ihnen unmöglich, die Möglichkeit nationaler Konflikte mit anderen bereits hier angesiedelten Gruppen vorauszusehen.17 Sie mußten dann einfach so willkommen sein, wie sie es erwarteten, und deshalb verstanden sie sich nicht als Einwanderer, die sich an bestehende Verhältnisse anpassen, also sich selbst in einem gewissen Maße transformieren würden. Vielmehr sahen sie sich als utopische Planer und kolonisierende Konstrukteure mit dem Ziel, nach den Verfolgungen in einem rein jüdischen Staat rein jüdisch zu bleiben und damit auf Dauer, und so wie sie waren, sicher zu sein. Dieses Ziel stimmte übrigens überein mit dem des 1947 gegründeten, theokratischen mohammedanischen Staat Pakistan, des „Landes der Reinen“, das bei näherer Sicht überhaupt viel mit Israel gemein hat.

Das mit der Staatsgründung für die Zukunft festgelegte Sich- Gleichbleiben des jüdischen Staates setzte voraus die kollektive Erinnerung an die supra-historische Einzigartigkeit der Verfolgung und damit des jüdischen Leidens: die so automatische wie absolute Gleichsetzung von Opferstatus und Unschuld, den Sonderstatus der überlebenden Opfer der Verfolgung in der Prä-Autorisierung ihrer Erinnerungsgeschichten. Historische Fakten als Produkte einer unvermeidbar prozessualen historischen Forschung sind dagegen unstabil und ändern sich mit der Zeit, das heißt mit in der Zeit verlaufenden Forschungsprozessen. Ihre Autorität muß deshalb immer wieder von neuem in der Anerkennung durch eine Gruppe kritischer Experten etabliert werden, und damit ist sie nur zeitweilig gültig, abrufbar, verhandelbar. In realistischer Sicht ist es durchaus verständlich, daß die Identitäts-Politik vormalig verfolgter Gruppen es als zweckmäßiger ansieht, mit moralischen, also von vornherein autorisierten Ansprüchen zu arbeiten als auf dem unsicheren Boden immer wieder neu zu verhandelnder Interessenkonflikte. Wenn gegenwärtige Machtpositionen sich auf die Autorität vergangener Ohnmacht berufen können, liegt es in ihrem Interesse, diese als dauernd, total und homogen zu evozieren: der historischen Zeit und der historiographischen Differenzierung entzogen. Die Provokation von Arendts Kritik der zionistischen Identitäts-Politik in der Palästina-Frage lag vor allem in ihrer scharfen Beleuchtung politischer Strategien, die sich auf eine allgemeine und absolute Autorität des Leidens beriefen, wo sie spezifische Interessenkonflikte meinten. Dabei war ihr die wörtliche Vitalität der Interessen in dieser Situation, also Fragen des Überlebens, durchaus klar. Sie fand aber, daß es auch in dieser Situation besser wäre, rational zu argumentieren, das heißt, an eine gemeinsame politische Modernität zu appellieren, in der Verantwortlichkeit nicht nur Solidarität meinte, sondern auch unabhängiges kritisches Denken, vor allem gegenüber der eigenen Gruppe. Damit beanspruchte sie eine damals wie heute bemerkenswerte moderne Autorität des unabhängigen Denkens: Wer ihren Argumenten relativ unvoreingenommen folgte, Jude oder Nicht-Jude, würde einsehen, daß sie recht hatte.

Im Rückblick aus der Zukunft sollte sie recht behalten, aber die Zukunft war das Neue, Unvorhersagbare, Mögliche, weil sie, wie die Vergangenheit auch, eine Symbiose von Zufällen und Entscheidungen ist: Geschichte als offener Komplex von Geschichten. Es waren die Umstände seines bösen Verhaltens, der bürokratische Massenmord, die den gewöhnlichen Mann Eichmann zum ungewöhnlichen Mörder machten, aber deshalb noch nicht alle Juden – und schon gar nicht nur Juden – zu ungewöhnlichen Opfern.18 Gegen das supra-historische absolute Böse, das Eichmann angeblich verkörperte, setzte Arendt provokativ dessen „Banalität“, was wiederum zu einfach war. Sie selbst rieb sich an der Tatsache, daß der gewöhnliche Eichmann kein gewöhnlicher Mörder war – eine Kombination, die heute vielleicht noch mehr als damals nicht im ganzen verständlich ist. Wichtig war und bleibt aber ihre Einsicht, daß Eichmanns Handlungen unter bestimmten Bedingungen ungewöhnlich böse gewesen waren. Universalistisch, historisch und säkular, war Arendts Argumentation in Eichmann in Jerusalem nützlich für ein besseres Verständnis der deutsch-jüdischen Katastrophe: gegen die Einzigartigkeit, und damit auch die einzigartige Bedeutung der Judenverfolgung; gegen den supra-historischen Status dieser Verfolgung; für das Verständnis der vergangenen Realität des historisch-politischen Kontexts.

Die Entdeckung der Freiheit

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