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Arendts Zionismus-Kritik und die Folgen des 11. September
ОглавлениеDie Ereignisse des 11. September haben die große Mehrzahl der amerikanischen Bevölkerung auf eine Weise existentiell „betroffen“, die Europäern weitgehend unzugänglich und, wenn die politischen Folgen weltweit nicht so ernst wären, in manchem übertrieben erscheinen könnte. Hier sind vor allem zu nennen: der andauernde, hoch emotionale, regressive Patriotismus angesichts einer angeblich fundamentalen Bedrohung des Landes, das plötzlich zur signifikanten Gemeinschaft erhoben und gefeiert wird; die überschwengliche Vernichtungsrhetorik; die manichäischen Szenarios des absolut guten und von vornherein siegreichen Krieges gegen den absolut bösen Terrorismus. Diese neuen Phänomene sind politisch so wichtig wie beunruhigend, weil sie sich als Wiederholung oder Re-Inszenierung des absolut guten, siegreichen Krieges gegen den Faschismus verstehen. Es geht hier dann nicht um politische und militärische Möglichkeiten, zum Beispiel um Pentagon-Warnungen vor einer Ausbreitung des Krieges gegen den Terrorismus zur militärischen Invasion im Irak. Es geht auch nicht um historische Bedingtheiten, zum Beispiel um ein besseres Verständnis der ökonomischen und politischen Gründe für die rapide Vermehrung terroristischer Dschihad-Bewegungen. Es geht vielmehr um apriori autorisierte Ansprüche, die sich auf das Konzept des novus ordo saeclorum im Zentrum des politischen Selbstverständnisses des Einwanderungslandes USA stützen. In der gegenwärtigen hochemotionalen Situation rufen diese absoluten Ansprüche die utopischen Energien einer allegorischen Freiheit wach, die die komplizierte und gefährliche politische Realität auf unzulässige Weise vereinfacht. In ihrem Namen muß dann alles möglicherweise Bedrohliche sofort vernichtet werden, denn das Mögliche wird nur noch negativ gesehen als „das Böse“ (evil): weitere Terrorangriffe, was geschehen kann und deshalb geschehen wird. Und diesem Ur-Bösen wird das absolut Gute der Abwehr entgegengesetzt: die Folgen hypostasierter „Sicherheitsgründe“, die unter Aufhebung moderner demokratischer Spielregeln realisiert werden.
Was hat das mit der Entwicklung von Arendts politisch-philosophischem Essayismus im Einwanderungsland Amerika zu tun? Die politische Modernität Amerikas bedeutete für Arendt die Möglichkeit, als Verantwortlichkeit, sich mit neuen Lebensarten bekannt zu machen und sich eine Lebens-Zeit lang in der Welt zu Hause zu fühlen. Diese Modernität kam ihrer spezifischen Erfahrung des Exils entgegen, die sie mit Exilanten wie Alfred Schütz teilte: die mögliche Erfahrung einer immer größer werdenden Welt im ständigen Flux der Veränderung. Der in die USA emigrierte phänomenologische Soziologe Alfred Schütz beschrieb sie 1940 in seinem klassischen Aufsatz „The Stranger“ als Prozesse wachsender Vertrautheit des Fremden mit neuen Situationen, in denen er allmählich lernt, Verhaltensmuster zu interpretieren, Orientierungsplänen zu folgen und Handlungsprotokolle einzuhalten, bis er schließlich nicht mehr der Fremde ist. Als neuer Bürger eines neuen Landes kann er dann das politische, soziale Verstehen weiterführen zum politischen, sozialen Intervenieren. Solche Lernfähigkeit ist immer eine Frage sowohl des spezifischen intellektuellen Temperaments als auch der Erfahrung, und Schütz teilte sie mit vielen anderen Emigranten von sonst sehr unterschiedlichen kulturellen Interessen und politischen Überzeugungen wie zum Beispiel Arendt, Kracauer, Zuckmayer, Voegelin. Für alle war Emigration eine politische Notwendigkeit, die die Verantwortlichkeit für das neue Gemeinwesen in sich trug, dessen Bürger sie werden sollten; in vielen Fällen war sie auch verbunden mit großen praktischen Schwierigkeiten und Ängsten, mit denen man unterschiedlich umgehen konnte. Dagegen war der Philosoph Aron Gurwitsch völlig entsetzt von den existentiellen Untiefen, die er in dem Aufsatz seines Freundes Schütz fand. Den zeitlichen Transformationen des Fremden stellte er die philosophische Krise entgegen, die in seiner Sicht unvermeidbar und unerbittlich alle Exilanten teilten und die sie auf Dauer zu Fremden machte. Wie für Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung, war für Gurwitsch Amerika der „andere Planet“, der sich der philosophischen und vor allem der politischen Verantwortlichkeit des Exilierten entzieht, denn diese muß auf Entscheidungen beruhen, die zu den Dingen selbst führen und damit zur Freiheit: weg von dem „consensus communis“, der „public opinion“, den amerikanischen „liberties“ als bloßem und deshalb unzulässigem Glücksverlangen der Massenkultur der Massendemokratie.6
Wie Adorno ging es auch Gurwitsch eher um die existentiellessentiellen als die sozial-politischen Aspekte des durch das Nazi-Regime verursachten Kulturbruchs. Schütz’ Interesse an bloßem „adjustment“ and „average opinion“ schien Gurwitsch sündhaft flach – ein Echo der Klagen Adornos über Kracauers im Exil aus Gründen der „Selbsterhaltung“ angepaßtes „Glücksgelöbnis“ –, weil es die „eigentliche“, philosophische Auseinandersetzung mit der Krise der europäischen Kultur verhinderte, die für Adorno überdies nur in deutscher Sprache ausgetragen werden konnte.7 Schütz’ Antwort auf Gurwitschs Einwände ist nicht erhalten. Es ist anzunehmen, daß er die Trauer des Freundes über den irreversiblen Verlust des Vergangenen verstand und bis zu einem gewissen Grad teilte. Aber Exil hieß für ihn nicht nur Verluste, sondern auch neue Anfänge. Im Prozeß des Vertrautwerdens mit dem Fremden begann der Fremde allmählich klarer zu verstehen, was das Vergangene bedeutet hatte und was das Zukünftige bedeuten könnte.
Existentielle Exilanten wie Adorno, Horkheimer und Gurwitsch sollten nie einsehen, daß andere Exilanten gerade in ihrer „Anpassung“ andere Möglichkeiten zu leben entdeckten, einen anderen größeren kulturellen Raum, in dem sie sich neu orientieren, differenzieren und freier bewegen konnten, weil sie ihn explizit mit sehr viel mehr und anders gearteten anderen teilten. In Amerika, das für sie nach einer Weile nicht mehr Exil war, ging es ihnen nicht mehr um das nunc stans des Eigentlichen, mit dem zumindest Arendt und Kracauer in der Weimarer Zeit noch zuweilen geflirtet hatten. Es ging ihnen nun um die unaufhebbaren Verwandlungen in der Zeit, die überraschenden, nicht zu versöhnenden Widersprüche der Historizität, die sich der Transzendenz einer absoluten Negativität widersetzten und so den Umschlag in die Positivität verhinderten, die Adornos Negative Dialektik immer noch erhoffte. Mit der Erfahrung einer neuen Pluralität von Stimmen in Amerika, unterdrückt in der dezidiert ahistorischen, negativ heilsgeschichtlichen Dialektik der Aufklärung, teilten sie die Urerfahrung des Einwanderungslandes Amerika: Die Fremdheit des Fremden verwandelt sich mit der Zeit in die Vertrautheit des Einheimischen – die Urerfahrung der europäischen Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts, die dem historischen Konzept eines Einwanderungslandes zugrunde lag und liegt. „Europe, and not England“, schrieb Thomas Paine 1776, „is the parent country of America. This New World has been the asylum for the persecuted lovers of civil and religious liberty from every part of Europe.“8
Während nun Arendt diese psycho-intellektuelle Reaktion auf die Erfahrung der Modernität Amerikas mit anderen Einwanderern teilte, konzentrierte sie sich auf bestimmte politische Dimensionen dieser Modernität. Unter den politischen Institutionen und Praktiken des Einwanderungslandes war für Arendt besonders anziehend die direkte, das Problem der Repräsentation umgehende „grassroots-“ oder „community“-Demokratie der – allerdings nie realisierten – Jeffersonschen wards oder auch des amerikanischen Jury-Systems. Denn hier fand sie die Voraussetzungen für eine bewegliche politisch-private Identität, die Gruppeninteressen dem größeren gemeinen Interesse unterordnete. In diesem Land konnte man, wie sie befriedigt feststellte, als Jude Amerikaner sein und als Amerikaner Jude. Diese für sie außerordentlich wichtige Erfahrung ist heute durch die polarisierende, ideologisch multikulturalistische Identitäts-Politik in den USA, die sehr viel von der Exklusivität der Erinnerungsdiskurse des Holocaust gelernt hat, bedroht und geschwächt.9 Die jetzt mit frommer Selbstverständlichkeit angerufenen Bindestrich-Identitäten wie Jewish-American, Afro-American, Hispanic-American, Asian-American, alles Gruppen mit wachsendem politischem Einfluß, widersprechen, wie Arendt sicherlich kritisch angemerkt hätte, der politischen Modernität des Einwanderungslandes USA. Schließlich hatte sie bereits vor einem halben Jahrhundert die Schädlichkeit solcher Identitäts-Politik in ihrer scharfen Kritik an bestimmten Aspekten des politischen Zionismus in Amerika und Palästina analysiert. In den 1944 bis 1948 geschriebenen Aufsätzen zur arabisch-jüdischen Frage argumentierte sie gegen ein von der Erinnerung an schicksalhafte Verfolgung getragenes jüdisches Selbstverständnis als erwähltes Volk. Gerade die historischen Gründe für ihre Separatheit sollten es Juden nahelegen, sich und ihre Geschichte in die anderer Völker einzupassen, politisch zu kooperieren. Sie sollten sich nicht auf einen Sonderstatus eschatologischer Verzweiflung und paradoxer Hoffnung zurückziehen und deshalb glauben, Sonderforderungen stellen zu können.
Der wichtige Aufsatz „Zionism Reconsidered“ (1944/45) wurde von der Zeitschrift Commentary abgelehnt, weil er „jüdischen Antisemitismus“, Selbsthaß, suggeriere – zwar nicht von ihr intendiert, aber von „feindlichen“ Lesern so zu verstehen. Es war das Argument einer sich belagert fühlenden Gruppe und für Arendt in Amerika kein Argument. Für die Herausgeber von Commentary war besonders Arendts historisch-politische Perspektive auf die Situation in Palästina problematisch.10 So zum Beispiel ihr Argument verständlicher Ressentiments anderer Gruppen in der Region gegen Interventionen der Großmächte zugunsten der Juden, die nicht einfach als schicksalhafter, urböser Antisemitismus abgewehrt werden konnten. Juden hatten die historischen Geschicke anderer Völker geteilt, und die Zerstörung eines großen Teils des europäischen Judentums verlangte eher ein schärferes Bewußtsein gegenseitiger Abhängigkeiten als größeren Isolationismus. Die transhistorische Einzigartigkeit der jüdischen Verfolgung als Argument für die Notwendigkeit eines jüdischen Staates schien ihr höchst problematisch. Gegründet auf den Erinnerungsdiskurs des Holocaust und gegen den erklärten Willen der Nachbarvölker, würde dieser Staat sich von Anfang an über die wirklichen Machtverhältnisse hinwegsetzen und damit auch, obwohl Arendt das nicht eigens sagte, über die Verantwortlichkeit der Macht. Die deutsch-jüdische Katastrophe verlangte eine neue Perspektive auf alte Konflikte: Nur durch Emanzipation von der Vergangenheit in historischer, also mit anderen geteilter Erinnerung können Juden lernen, als ein Volk unter anderen zu leben, und damit eine Zukunft haben.11 Die Konsequenz von Arendts Argumentation in diesen Aufsätzen ist, daß die Geschichte die Verantwortung für die Zukunft tragen muß, gerade weil diese uns nicht bekannt ist. Ein teleologisches, eschatologisches Geschichtsverständnis transzendiert Geschichte als Symbiose von Zufällen und Entscheidungen und verengt so die moderne Erfahrung der Welt in ihrer Kontingenz und Zeitlichkeit. In dieser Hinsicht sollte denn auch, wie sich ein halbes Jahrhundert später zeigt, der fundmentalistische Islam Israels Verengung durch Fixierung auf eine mythische – statt einer historischen – Vergangenheit teilen und damit die gefährliche Symbiose von Religion und Politik.