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4 Koch/Oesterreicher und das Internet

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Kommen wir nun abschließend zu der Frage, was Peter Koch und Wulf Oesterreicher in ihren neueren Publikationen selbst zum Thema ‘neue Medien’ (die ja so neu nicht mehr sind) schreiben und wo die aktuelle Internetforschung in Bezug auf das Verhältnis von Schriftlichkeit (Graphie) und Mündlichkeit (Phonie) steht. Zunächst zum ersten Punkt: In der überarbeiteten Auflage ihres Studienbuchs halten Koch/Oesterreicher fest:

Die völlig neuen Kommunikationsformen, die sich vor unseren Augen im Bereich der computergestützten Medien inzwischen eingebürgert haben (E-Mail, SMS, chat etc.), sind längst auch auf das Interesse der Linguisten gestoßen. Man könnte nun auf den Gedanken kommen, dass das Schema in Abb. 5, das allein die Medien Phonie und Graphie berücksichtigt, nicht ausreicht, die Komplexität dieser neuesten medialen Entwicklungen zu erfassen. Einer solchen Einschätzung ist jedoch entschieden zu widersprechen. (Koch/Oesterreicher 2011, 12–14)

Warum dieser Einschätzung zu widersprechen ist, führen sie im Anschluss daran kurz aus; die Begründung entspricht der, die sie – hier etwas ausführlicher – in ihrer letzten gemeinschaftlichen Publikation vortragen. In diesem Beitrag widmen sie dem Thema sogar ein eigenes Kapitel, das die Überschrift „Neue Medien und Korpuslinguistik“ trägt. Hier stellen sie fest, dass man der Meinung sein könne, dass die „Nähe-Distanz-Unterscheidung […] für die Behandlung dieser medialen Entwicklungen unbrauchbar sei“ (Oesterreicher/Koch 2016, 53), dass diese „irrige Meinung“ aber zurückzuweisen sei. Dann legen sie dar, dass auch die neuesten Kommunikationsformen „im sensorischen Bereich letztlich immer auf dem akustischen Prinzip der Phonie oder auf dem visuellen Prinzip der Graphie“ (Kursivierung im Original) aufbauen würden und deshalb selbstverständlich auch diese „mit den anthropologisch fundierten kommunikativen Kategorien erfasst“ (2016, 53) werden können.1

In der Tat sind alle drei von ihnen genannten Kommunikationsformen (die E-Mail-, die SMS- und die Chatkommunikation) schriftbasiert; sie basieren auf dem „Prinzip der Graphie“ (s.o.). Daran ändert auch nichts der Umstand, dass in eine E-Mail Audio- oder Videodateien integriert oder in Kombination mit einer Chatnachricht Fotos verschickt werden können. Dagegen beruhen beispielsweise Internettelefonate wie auch das Versenden von Sprachnachrichten auf dem „Prinzip der Phonie“ (s.o.). Natürlich lassen sich beide Modalitäten, Phonie und Graphie, kombinieren, wie dies z.B. ja auch in der massenmedialen Kommunikation, etwa in Fernsehnachrichten, der Fall ist. In einem Nachrichtendienst wie WhatsApp kann beispielsweise umstandslos zwischen Sprechen und Schreiben hin und her gewechselt werden; über ein soziales Netzwerk kann man Texte, Fotos und Videos hochladen, in Skype kann man einen Text-, Video- oder einen Audiochat führen und parallel dazu eine Textdatei oder eine PowerPoint-Präsentation geöffnet haben, über die man sich austauscht. Es wäre aber trotzdem falsch zu behaupten, dass die Grenzen von Phonie und Graphie deshalb aufgehoben würden. Davon gehen z.B. Hausendorf et al. (2017, 377) aus. Sie sprechen davon, dass „die Trennung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit schon auf den ersten Blick brüchig geworden“ sei und „das Lesen mehr und mehr einhergehen mag mit dem Betrachten von Bildern und Videos und dem Hören von Stimmen“. Auch Bahlo/Klein (2017, 181) argumentieren in diese Richtung:2

Aufkommen und lawinenartige Verbreitung neuer Medien wie E-Mail, Chats, SMS, WhatsApp oder Twitter […] haben zum einen zu einer gewaltigen Ausweitung der Adressaten, mit denen man kommunizieren kann, geführt. Zum anderen haben sie Kommunikationsweisen geschaffen, in denen die Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache verwischt und in denen auch nichtsprachliche Mittel wie Bilder oder Musik leicht eingebunden werden können.

Halten wir dazu fest: Gesprochene und geschriebene Sprache können in Kombination miteinander auftreten, und sie können gemeinsam rezipiert werden (so wenn in Fernsehnachrichten zu Ton und Bild ein Textband läuft). Doch im Produktionsprozess verwischen sich die Unterschiede nicht, man spricht oder man schreibt. Die Komplexität digitaler Äußerungsprodukte (also z.B. von Fernsehnachrichten oder Skype-Konferenzen) macht es aber umso schwieriger, sie adäquat auf das Modell von Koch/Oesterreicher zu beziehen. Ein WhatsApp-Dialog etwa kann aus Sprachnachrichten, Textnachrichten, Fotos oder nur Emojis bestehen. Durch das Internet haben sich zudem die Kommunikationsbedingungen verändert (z.B. hinsichtlich Privatheit und Öffentlichkeit), so dass es auch auf dieser Ebene problematisch ist, das Modell anzuwenden. Koch/Oesterreicher wagen zwar einen Vorstoß in diese Richtung (etwa in Bezug auf den Chat), doch sind die neueren Kommunikationsformen, die sie nennen, oft Teil komplexerer Kommunikationsszenarien (z.B. Facebook), so dass auch deshalb die Einbettung in das Modell an ihre Grenzen stößt (vgl. Dürscheid 2016, 382).

Schaut man sich aktuelle Arbeiten zur Internetforschung an, stellt man denn auch fest, dass meist nur noch knapp auf das Modell von Koch/Oesterreicher Bezug genommen wird; auch von ‘nähe-’ und ‘distanzsprachlich’ bzw. ‘konzeptionell mündlich’ und ‘konzeptionell schriftlich’ ist nicht mehr so oft die Rede.3 Stattdessen wird in Anlehnung an die Arbeiten von Angelika Storrer zwischen einer interaktionsorientierten und einer textorientierten Schreibhaltung unterschieden (vgl. Storrer 2017). Beim textorientierten Schreiben, so erläutert Storrer, ist das Schreibziel ein Produkt, das aus sich selbst heraus verständlich sein muss, beim interaktionsorientierten Schreiben stehen die Schreiber in einem wechselseitigen Austausch und verfassen ihre Äußerungen in diesem Bewusstsein. Ob diese Unterscheidung sinnvoll ist und ob sie auch auf die mündliche Internetkommunikation übertragen werden kann (z.B. das Telefonat als interaktionsorientierte, die Sprachnachricht als textorientierte Handlung), sei hier dahingestellt. Auf jeden Fall sollte man in der aktuellen linguistischen Internetforschung den Blick nicht mehr nur auf die schriftliche (und bildliche) Kommunikation richten, sondern auch die neueren Entwicklungen in der Internetmündlichkeit berücksichtigen.

Zum Schluss möchte ich auf einen Punkt zurückkommen, der noch einer Begründung bedarf: Weiter oben wurde darauf hingewiesen, dass Chat-Konversationen (graphisch) nicht mit Gesprächen (phonisch) gleichzusetzen seien. Vergleichen wir z.B. ein privates Gespräch in der Familie mit einem Familienchat zum selben Thema (z.B. über eine Geburtstagsfeier). Auch wenn das Thema dasselbe ist und die Beteiligten in derselben Beziehung zueinander stehen: Es gibt Unterschiede, die eine Eins-zu-Eins-Entsprechung dieser beiden Kommunikationsereignisse im Nähe/Distanz-Kontinuum verbieten. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass der Familienchat anderen kommunikativen Bedingungen unterliegt als das Gespräch: Im einen Fall sind Produktion und Rezeption der Äußerungen minimal zeitversetzt (im Chat), im anderen Fall vollziehen sie sich zeitgleich (im Gespräch). Ein weiterer Unterschied ist der, dass die Beteiligten im Familienchat vermutlich Ausdrucksweisen verwenden (z.B. Emojis, Ausrufe- und Fragezeichen), die im Gespräch nicht möglich sind – und umgekehrt (z.B. Gesten). Und noch ein dritter Punkt sei genannt: Bestimmte grammatische Konstruktionen sind im Chat unauffällig, in der gesprochenen Sprache dagegen sind sie auch in einem informellen Duktus markiert (z.B. Artikelellipsen). So hat Karina Frick in ihrer Dissertation zu deutschsprachigen SMS gezeigt, dass in SMS-Nachrichten Artikel- und Präpositionsellipsen auftreten (Frick 2017), die spezifischen syntaktischen Bedingungen unterliegen.

Als Beispiele für solch elliptische Strukturen seien hier einige Auszüge aus schweizerdeutschen Textnachrichten angeführt, die aus dem Schweizer SMS-Korpus stammen: Ø Film ish mega lang gange; das isch Ø hauptsach; bin am sa Ø zürich, am morge bini Ø st. galle.4 Auch zum Französischen findet man in dem SMS-Korpus interessante Belege (z.B. zur Weglassung des Subjekts, vgl. Hey, comment Ø va?). An solchen Daten sieht man, dass durch die neuen Medien (im Sinne von Medium2) neue kommunikative Praktiken entstehen, die spezifische sprachliche Merkmale aufweisen. Mag sein, dass diese Merkmale auch in anderen schriftlich-informellen Kontexten auftreten können (z.B. im Tagebuchschreiben; vgl. Stark/Robert-Tissot 2018), anders als bei der Analyse von Tagebucheinträgen ist man beim Chat aber schnell geneigt, eine Parallele zum Gespräch zu ziehen. Und das wäre falsch: Eine schriftliche Internetkommunikation ist nun einmal kein Gespräch, auch wenn die Nachrichten in kürzesten Abständen hin und her wechseln.

Zu den neuen kommunikativen Praktiken im Internet gehört aber nicht nur die schriftliche, quasi-synchrone Kommunikation, dazu gehört auch, wie weiter oben bereits betont, das Versenden von Sprachnachrichten. Wie aktuelle Studien zeigen, werden diese immer populärer (vgl. Schlobinski/Siever 2018). Und auch die Mensch-Maschine-Kommunikation (z.B. die Kommunikation mit Sprachassistenten wie Siri oder Alexa) spielt in unserem Alltag eine immer größere Rolle.5 Es bleibt abzuwarten, ob diese neuen Formen der digital-mündlichen Kommunikation ebenfalls auf der Basis des Modells von Koch/Oesterreicher beschrieben werden bzw. auch im Hinblick auf solche Interaktionen die Frage diskutiert wird, ob das Modell darauf anwendbar ist. Peter Koch und Wulf Oesterreicher können sich dazu leider nicht mehr äußern.

Was bleibt von kommunikativer Nähe und Distanz?

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