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2 Universelle und einzelsprachliche Variation – Konzeption und Diasystem

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Die Schwierigkeit, die sich aus der in Abbildung 2 dargestellten Verknüpfung von konzeptioneller und diasystematischer Variation ergibt, besteht, wie bereits angedeutet, darin, dass diese Kombination den theoriegeschichtlich nicht unproblematischen Versuch darstellt, die gleichsam hermetisch konzipierte, von lebensweltlichen Bezügen weitgehend abstrahierende Architektur des einzelsprachlichen Varietätenraums mit einem universell-anthropologischen Konzept der Variation in Einklang zu bringen, das den Einsatz sprachlicher Varianten durch deren Rückbindung an ein sprachhandlungsrelevantes Bedingungsgefüge von – gleichermaßen variablen – Merkmalen der Kommunikationssituation zu erklären sucht (cf. dazu die Liste der „Kommunikationsbedingungen“ in Abbildung 1). Zwar basiert natürlich auch Coserius Modell, bei aller Systemorientierung, auf der Annahme einer regelmäßigen Verknüpfung von sprachlichen und außersprachlichen Merkmalen, und gleichermaßen setzt bekanntlich die Labov’sche Soziolinguistik methodisch an der Erfahrungstatsache an, dass Sprache mit den Sprechern und Gebrauchskontexten variiert. Bei Koch und Oesterreicher erscheint sprachliche Variation aber nicht einfach als systemisch angelegtes Korrelat räumlicher, sozialer oder sprechanlassbezogener Unterschiede, und die Autoren begnügen sich auch nicht damit, Variation durch den Abgleich von sprachlichen Formen und außersprachlichen Kontextmerkmalen parametrisierend zu beschreiben. Koch und Oesterreicher transzendieren vielmehr die genannten Ansätze, indem sie die Nähe/Distanz-Variation sprachtheoretisch als universelle pragmatische Kategorie begreifen, nämlich als anthropologisch fundiertes Kontinuum von Situationstypen und deren adäquate Ausgestaltung durch sprachliche Strategien, die sich anordnen lassen zwischen den Polen der kommunikativen ‘Formalität’ und ‘Informalität’ (cf. Kabatek Ms.).

Für Oesterreicher (1988, 370s.) stellt das konzeptionelle Kontinuum die aus universellen Aspekten der menschlichen Sprechtätigkeit abzuleitende Vorbedingung der „Nicht-Einförmigkeit“ des Sprechens dar – der Möglichkeit also, sich in Abhängigkeit von den raumzeitlichen, sozial-interaktionalen, inhaltsbezogenen, motivational-affektiven oder wissenskontextuellen Merkmalen eines Sprechakts unterschiedlicher „Verbalisierungsprozeßtypen“ zu bedienen und so „eine Vielzahl von Abstufungen hinsichtlich der Sprechhaltungen und -strategien“ zum Ausdruck zu bringen. Der konzeptionelle Möglichkeitsraum zwischen den Polen von kommunikativer Nähe und Distanz reflektiert also die situative Variabilität – sozusagen das aptum – des Sprechens. Sprachtheoretisch ist diese auf außersprachliche Gegebenheiten bezogene Form der Variation insofern fundamental, als sie nicht einzelsprachlich erklärt werden kann, sondern unmittelbar aus universellen Eigenschaften der menschlichen Sprechtätigkeit resultiert; so etwa aus den Universalien der Alterität („[der] Orientierung der Sprechtätigkeit am alter ego“; Oesterreicher 1988, 364), der Semantizität („[der] Zeichennatur der Sprache“; Oesterreicher 1988, 362), der Kreativität („Realisierung eines subjektiven Sinns“; Oesterreicher 1988, 364) oder der Exteriorität des Sprechens („de[m] Umstand, daß Sprache sich in einer Substanz ausdrückt“; Oesterreicher 1988, 361).1 Die konzeptionelle Variation erscheint somit selbst als wesentliche Bestimmung des Sprachbegriffs – Sprechen ist situativ variabel –, ja die Autoren sehen darin nicht weniger als einen Teil des „menschlichen Gesamtleistungsaufbaus“ (Gehlen 1971; Oesterreicher 2010, 41) oder ein anthropologisches Universale. Der sprachtheoretischen Essenzialität dieser in universellen Sprechleistungen begründeten Variation entspricht im Verständnis von Koch und Oesterreicher ein zentraler kommunikativer Wert der konzeptionellen Gestaltung auf Diskursebene. Denn als übereinzelsprachlich gegebene Ur-Dimension der inneren Sprachverschiedenheit eröffnet das Nähe/Distanz-Kontinuum erst das pragma-semiotische Potenzial einer „aus außersprachlichen Sinnbezügen resultierende[n] Variabilität im Sprachlichen“ und erlaubt so „auf der Ebene des Diskurses […] [eine] fast grenzenlose Offenheit der sprachlichen Gestaltungen und der ihnen zugrundeliegenden Kommunikationskonzeptionen“ (Oesterreicher 1988, 369). Die Sprecher verfügen also über die Möglichkeit, im Diskurs auf aktuell relevante außersprachliche Gegebenheiten zu reagieren und die sprachlich zu vermittelnde Botschaft je nach Kontext und individueller Finalität des Sprechakts in spezifischer konzeptioneller Ausformung zu verpacken. Auf Diskursebene stellt sich das konzeptionelle Profil einer sprachlichen Äußerung mithin als direkter, heuristisch entsprechend aufschlussreicher Reflex ihrer pragmatischen Einbettung dar.

Angesichts dieser philosophischen Fundierung des Variationsbegriffs sollte klar werden, dass die von Koch und Oesterreicher vorgeschlagene Parametrisierung des konzeptionellen Kontinuums anhand von „Kommunikationsbedingungen“ und damit korrelierten „Versprachlichungsstrategien“ nicht in erster Linie dem Zweck der datenbezogenen Operationalisierung dient. Sie steht also nicht im Dienst einer methodischen Konkretisierung, die es erlauben würde, die Form sprachlicher Äußerungen auf der Grundlage eines so oder so ausgeprägten außersprachlichen Merkmalsrasters, geschweige denn eines isolierten Parameterwerts, exakt vorherzubestimmen (cf. Winter-Froemel 2020, 87). Angesichts der Komplexität, die den konzeptionellen Raum zwischen Nähe und Distanz ausmacht – es handelt sich um „ein mehrdimensionales Kontinuum von Kommunikationsbedingungen, Kommunikationshaltungen und Kommunikationsmodi“ (Oesterreicher 1988, 371; Kursivierung im Original) –, ist die von Koch und Oesterreicher bewusst in Form einer offenen Liste gehaltene Parametrisierung („etc.“) vielmehr als Exemplifikation zu verstehen, die dazu anregen soll, den Variantengebrauch in individuellen Diskursexemplaren unter Berücksichtigung der jeweils relevanten „außersprachlichen Sinnbezüge[n]“ zu untersuchen und dabei die Prinzipien der konzeptionellen Gestaltung im komplexen Zusammenspiel von situativer Einbettung und sprachlicher Form begreifbar zu machen. Denn ebenso wie das universelle Nähe/Distanz-Kontinuum für die Autoren mehr ist als nur die Summe der außersprachlichen Parameter, die an dieser universellen pragmatischen Kategorie partizipieren, kann auch die spezifische Konfiguration sprachlicher Varianten im Diskurs nur unter der Voraussetzung sinnvoll erklärt werden, dass das individuelle Diskursgeschehen in der Spezifik seiner pragmatischen Bezüge begriffen wird, nämlich als kommunikativer Prozess, der zwar an sprachstrukturelle (grammatische) und diskurstraditionelle (textsortenspezifische) Konventionen der Form- und Sinnbildung anschließt, dessen situative Einbettung und damit verbundene Handlungswirklichkeit aber nichtsdestoweniger einmalig ist (Koch/Oesterreicher 2011, 4s.). Das zugrundeliegende Prinzip der „sukzessiven Determination des Sprachbegriffs“ (Oesterreicher 1988, 360) als universeller menschlicher Tätigkeit, die sich, geregelt durch einzelsprachliche und diskurstraditionelle Normen, in individuellen Diskursexemplaren äußert, basiert auf Coserius (1955/1956) berühmtem Dreiebenenmodell, das für Kochs und Oesterreichers sprachtheoretisches Verständnis fundamental ist (vgl. Oesterreicher/Koch 2016, 32–35). Aus der skizzierten pragmatischen Idiosynkrasie der Diskurse folgt jedenfalls, dass letztlich jedes einzelne variationelle Datum unter dem Deutungsvorbehalt seiner individuellen Okkurrenz im Diskurszusammenhang zu betrachten ist und nicht per se schon als Basis für varietätenlinguistische Generalisierungen mit entsprechendem Vorhersagbarkeitsanspruch dienen kann. Auf diesen wissenschaftstheoretischen Statusunterschied zwischen Sprachdaten, die aus individuellen Diskursexemplaren gewonnen werden, und „linguistischen Fakten“ – also Variationsregeln, die der Linguist aus diskursiven Einzelvorkommnissen abstrahiert – haben zuletzt Oesterreicher/Koch (2016, 50) hingewiesen. Nicht einmal innerhalb einzelner Diskurse kann nämlich aufgrund der Prozessualität sprachlicher Kommunikation von einer durchgängigen Stabilität sämtlicher kommunikativ relevanter Parameter oder deren handlungsstrategischer Gewichtung durch die Sprechenden ausgegangen werden. Vielmehr ist im Einzelfall prinzipiell mit besonderen, an spezifische kommunikative Effekte gebundenen Verwendungen zu rechnen, die von den prototypischen, aufgrund bestimmter Kommunikationsbedingungen erwartbaren Konzeptionen abweichen und die eben nur im Rahmen des individuellen, unter Umständen gar nur lokal zu begreifenden Diskursgeschehens ihren spezifischen Sinn ergeben (cf. Selig 2017, 135–138). Aufgrund der kreativitätsbasierten Offenheit der konzeptionellen Gestaltung (der „Realisierung eines subjektiven Sinns“, s.o.) ist also gerade nicht von einer allgemeingültigen, mechanistischen Determination des sprachlichen Profils von Einzeldiskursen durch bestimmte außersprachliche Parametersetzungen auszugehen. Diskurse wären ja sonst nichts als die automatische, im Prinzip immer gleiche Instanziierung von variationellen Regeln, und die diskurstraditionelle Normativität würde sich insofern nicht wesentlich von den durch das Sprachsystem vorgegebenen formalen Zwängen der Grammatik unterscheiden. Eine derartige, deterministische Sicht der Variation, die dem Wunsch der (totalen) Operationalisierbarkeit varietätenlinguistischer Modelle letztlich zugrunde liegt, würde aber der Komplexität des Gesamtphänomens der menschlichen Sprechtätigkeit nicht gerecht; denn sie verkennt die Tatsache, dass sprachliches Handeln in Situationen zwar grundsätzlich typisierbar ist – genau dies versucht ja das Kontinuum von kommunikativer Nähe und Distanz zu leisten –, dass die Ausgestaltung des (universellen) konzeptionellen Variationspotenzials im Diskurs aber immer auch kreativitätsbasiert erfolgt, nämlich als individuelle und in letzter Instanz dem Willen des Sprechenden obliegende kommunikative Handlung, die, prinzipiell autonom, auf einen in seiner spezifischen Konfiguration immer einmaligen Komplex situativer Merkmalsausprägungen reagiert.2

In diesem Zusammenhang erscheint eine Klarstellung hinsichtlich des bereits angesprochenen, von Koch und Oesterreicher sehr prominent gemachten Begriffs der ‘Diskurstraditionen’ und deren Stellenwert innerhalb der Nähe/Distanz-Theorie notwendig (cf. dazu grundlegend Koch 1997a und Oesterreicher 1997): Zwar basieren die von den Autoren (2011, 7–10) zur Charakterisierung von Diskurstraditionen (Textsorten, kommunikativen Gattungen) exemplarisch skizzierten „konzeptionelle[n] Relief[s]“ auf der Annahme, dass eine prototypische, normativ relevante Zuordnung von bestimmten Kommunikationsbedingungen (Situationstypen) und bestimmten Versprachlichungsstrategien grundsätzlich möglich und varietätenlinguistisch aufschlussreich ist. Es handelt sich bei diesen konzeptionellen Profilen aber lediglich um idealtypische3 Konfigurationen, die so keineswegs im individuellen Diskurs realisiert werden müssen. Die tentative Verortung von Diskurstraditionen im konzeptionellen Kontinuum unterstreicht vielmehr die sprachsoziologische Bedeutung konventionalisierter kommunikativer Praktiken und Verhaltensnormen sowie deren grundsätzliches Interesse für die varietätenlinguistischen Beschreibung (cf. dazu schon das Konzept der „Sprachhandlungsroutinen“ bei Steger et al. 1972 sowie RAIBLE und LÓPEZ SERENA i.d.B.). Wie bereits Koch (1997a) gezeigt hat, sind diese historisch verfestigten Normkonzepte aber ungleich flexibler und ungleich offener für kreative Weiterentwicklung und situative Ausdifferenzierung als die im Grunde für jeden kompetenten Sprecher einer historischen Einzelsprache stets absolut verbindlichen Regeln der Grammatik (cf. dazu auch Winter-Froemel 2020). So dürfte etwa ein Vorstellungsgespräch im professionellen Umfeld (cf. Koch/Oesterreicher 2011, 9) zwar in der Regel auf der Basis bestimmter außersprachlicher Parameterwertsetzungen stattfinden (geringer Grad der Vertrautheit der Gesprächspartner, geringe emotionale Beteiligung, relativ starke Themenfixierung, raumzeitliche Kopräsenz usw.), und in dieser prototypischen, soziokulturell tradierten Ausprägung ist das Bewerbungsgespräch als abstraktes, normativ maßgebliches Handlungskonzept (als ‘Skript’) wohl auch im Wissen der sozial kompetenten Akteure abgespeichert. Nichts schließt aber aus, dass Bewerbungsgespräche beispielsweise am Telefon geführt werden oder zwischen zwei Personen stattfinden, die sich seit Langem kennen; auch kann es vorkommen, dass Interviewpartner, die sich zunächst völlig fremd sind, im Lauf des Gesprächs bestimmte Gemeinsamkeiten entdecken (persönliche Interessen, regionale Herkunft usw.), so dass sich plötzlich ein viel vertrauterer und emotionalerer Umgang einstellt, als dies für ein idealtypisches, eher distanziertes Bewerbungsgespräch unter Fremden zu erwarten wäre. Es sind hier – auf der Ebene der Einzeldiskurse – unendlich viele Aktualisierungsformen einer prototypischen kommunikativen Gattung denkbar. Und völlig unbeschadet der normativen Bedeutung diskurstraditionellen Konventionswissens kann die im Prozess der sprachlichen Interaktion stets wirksame Kreativität dazu führen, dass bestimmte kommunikative Parameterwerte (z.B. gemeinsames Kontextwissen) im Diskursverlauf neu gesetzt oder in ihrer relativen Pertinenz neu bewertet werden.4 Den Sprechenden steht es also jederzeit frei, Nähe oder Distanz (bewusst) herzustellen, Kommunikationssituationen im Diskursverlauf neu zu definieren, wechselnde kommunikative Haltungen und Rollenverständnisse einzunehmen oder auch auf unterschiedlichen, gegebenenfalls kopräsenten Diskursebenen sprachliche Nähe und Distanz in variabler Abstufung zu realisieren.5 Dazu schrieb zuletzt Wulf Oesterreicher:6

… es [ist] eigentlich kaum möglich, die Stellung einzelner Diskurstraditionen im Kontinuum exakt quantifizieren zu wollen. Vor allem auch bei der Charakterisierung von einzelnen Diskursexemplaren sind grundsätzlich historisch-hermeneutische Erwägungen unabdingbar, die sich vor allem auf Vorentscheide bei der Gewichtung verschiedener Dimensionen der Kommunikationsbedingungen und bei der Bewertung der festgestellten Parameterwerte sowie der Gewichtung der ausgewählten sprachlichen Phänomene beziehen. Es handelt sich dabei immer um Optionen, die zu explizieren sind. Diese epistemologische reservatio ist unbedingt zu beachten, führt sie doch in den beschriebenen Bereichen zu einer wichtigen wissenschaftstheoretischen Kennzeichnung der Arbeit in unserer Disziplin Linguistik. (Oesterreicher/Koch 2016, 30s.; Kursivierung im Original)

Die im Zitat verteidigte deskriptive Offenheit des Nähe/Distanz-Modells wurde Koch und Oesterreicher bekanntlich vielfach zum Vorwurf gemacht (cf. etwa Feilke/Hennig 2016b, 1s.; Knobloch 2016). Man darf aber auch annehmen, dass diese Offenheit in Unkenntnis ihrer sprachtheoretischen Voraussetzungen vielfach grundlegend missverstanden wurde (explizit positiv wird die Flexibilität des Nähe/Distanz-Modells dagegen von CALARESU/PALERMO i.d.B. hervorgehoben; cf. Abschnitt 3). Denn die Autoren verfolgen wie gesagt nicht das Ziel, die universelle Nähe/Distanz-Variation ‘messbar’ zu machen im simplifizierenden Sinn einer direkten Verrechenbarkeit von sprachlichen Rohdaten – die immer aus individuellen Diskursexemplaren gewonnen werden – und damit checklistenartig zu korrelierenden außersprachlichen Faktoren, die, etwa qua Textsorte oder Sprechsituation, vorab gesetzt und innerhalb des Diskurses stabil wären. Die empiristische Vorstellung einer derart ‘blind’ parametrisierenden, rein korrelationsbasierten varietätenlinguistischen Methodik erweist sich letztlich als Illusion: So kann beispielsweise aus dem äußeren Rahmen eines in raumzeitlicher Kopräsenz phonisch realisierten Gesprächs zwischen Freunden im Café nicht vorhergesagt werden, ob sich in dieser Situation ein ausgelassener, nähesprachlicher Austausch über Alltagsdinge entwickelt oder eine überwiegend distanzsprachlich realisierte philosophische Diskussion; selbst abrupte Wechsel der diskurstraditionellen Orientierung sind jederzeit möglich und erfolgen somit prinzipiell situationsunabhängig. Aus dieser kreativitätsbasierten, „fast grenzenlose[n] Offenheit der sprachlichen Gestaltungen“ (Oesterreicher 1988, 369; s.o.) folgt für Koch und Oesterreicher die methodologische Notwendigkeit, die auf Diskursebene belegten Variationsdaten im Hinblick auf den jeweils spezifischen Komplex von „außersprachlichen Sinnbezügen“ zu interpretieren, der das Einzeldatum umgibt und ausmacht. Wie aus der oben zitierten Passage deutlich wird, handelt es sich für die Autoren dabei um eine genuin geisteswissenschaftliche Interpretationsleistung, die schlechterdings nicht operationalisierbar ist. Denn erst in der hermeneutischen Zusammenschau von Diskursbefunden und deren je individueller, nicht einmal aufgrund bestimmter Situationsparameter zuverlässig vorhersagbarer Pragmatik erscheint es den Autoren möglich, die den variationellen Einzeldaten zugrundeliegenden Prinzipien der – zwar normgeleiteten und situativ variablen, dabei aber immer auch kreativitätsbasierten – sprachlichen Ausgestaltung menschlicher Handlungsvollzüge zu abstrahieren. Die Modellierung dieser Prinzipien als Zielpunkt der varietätenlinguistischen Theoriebildung kann für Koch und Oesterreicher somit nur mittelbar auf empirischer Basis erfolgen, denn die letztlich unkalkulierbare Komplexität des Gegenstands der „Nicht-Einförmigkeit“ des Sprechens macht es erforderlich, erst jeden einzelnen Diskurs, ja jedes einzelne Variationsdatum, in der Spezifik seiner pragmatischen Bezüge zu verstehen, bevor überhaupt linguistische Generalisierungen formuliert werden können.7 Ohne übergeordnete sprachtheoretische Axiomatik und eine daraus abgeleitete begriffliche Ordnung kann es für Koch und Oesterreicher deshalb keine adäquate varietätenlinguistische Theorie geben. Auf den Vorwurf, wonach die mit dem Nähe/Distanz-Modell (vermeintlich) nahegelegte Parametrisierung von Sprechsituationen es nicht erlauben würde, variierende Realisierungen etwa von morphosyntaktischen Merkmalen in ein und derselben Äußerung zu erklären (cf. zum Französischen Dufter/Stark 2003, 96)8 – ein Vorwurf, der die oben im Zitat genannte „epistemologische reservatio“ verkennt –, hat Oesterreicher zuletzt folgendermaßen reagiert:

Es sei nochmals betont: Dass in einzelnen Diskursen und Texten […] gelegentlich Markierungs-Verteilungen strittig sein können, muss und kann für diese Fälle diskutiert und genau beschrieben werden. Diese Tatsache aber zu einer generellen Kritik an einer linguistischen Modellierung von Varietäten zu nutzen, kommt einem Erkenntnisverzicht gleich. Das hier sichtbare Grundproblem ist eigentlich wissenschaftstheoretischer Natur und betrifft die Datengrundlage und die Arbeitsweise unserer Wissenschaft: Denn der Verzicht, unterschiedliche linguistische Konzeptualisierungen existierender Gebrauchsweisen zu akzeptieren, ebnet […] den Status-Unterschied zwischen sprachlichen Daten und linguistischen Fakten als Resultaten sprachwissenschaftlicher Arbeit und Modellierung unreflektiert ein, womit es zu einer inakzeptablen Verunklärung der Fakten auf der historischen Ebene der Techniken, Regeln und Normen der Einzelsprachen kommt, deren Status nie einfach mit Sprachvorkommen zu identifizieren ist. – Das heißt, in bestimmten kommunikativen Konstellationen der aktuellen Sprachverwendung […] kann der Sprecher oder Schreiber – bewusst oder ungewollt – gerade auch mit untypischem sprachlichem Material interessante kommunikative Effekte erzielen. Derartige Verwendungen und die jeweiligen Wirkungen können und müssen im Einzelfall genau analysiert werden. Entscheidend ist, dass damit jedoch die für die infrage stehende Erscheinung grundsätzliche Varietätenzuordnung […] nicht tangiert, nicht aufgehoben wird. (Oesterreicher/Koch 2016, 50; Kursivierungen im Original)

Wiederum zeigt sich die fundamentale Bedeutung von Coserius Ebenentrias für Kochs und Oesterreichers varietätenlinguistische Theorie: Auch wenn nämlich Einzeldiskurse und die darin manifesten variationellen Ausgestaltungen unter dem Einfluss diskurstraditioneller Normen stehen, sind sie mit diesen nicht gleichzusetzen, denn wohl nur die wenigsten individuellen Diskursexemplare repräsentieren genau eine kommunikative Gattung in Reinform. Andererseits sind die Diskurstraditionen aber auch nicht mit den im konzeptionellen Kontinuum modellierten Kategorien der sprachlichen Variation auf der universellen Ebene der Sprechtätigkeit zu identifizieren: Zwar stellen die Diskurstraditionen konventionalisierte sprachliche Handlungsmuster für wiederkehrende Parameterkonfigurationen im universellen Nähe/Distanz-Kontinuum dar, die im Weltwissen kommunikativ kompetenter (entsprechend sozialisierter) Sprecher verankert und somit normativ relevant sind. Davon sind aber theoretisch die anthropologischen Basisparameter zu unterscheiden, die die menschliche Sprechtätigkeit (in ihrer „Nicht-Einförmigkeit“) immer und überall charakterisieren und die in ihrer Universalität erst die Grundlage darstellen für die Konventionalisierung sprachbezogener Wissensbestände, die das sprachliche Handeln hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Funktionalität (seines ‘Sitzes im Leben’; cf. Luckmann 1997 und 2008; Oesterreicher 2010, 49) spezifizieren und in ein umfassendes, historisch ausdifferenziertes System der kommunikativen Sinngebung einordnen.

Dem gegen das Nähe/Distanz-Modell wiederholt erhobenen Einwand der mangelnden Operationalisierbarkeit ist somit entgegenzuhalten, dass der Versuch, den im konzeptionellen Kontinuum dargestellten Zusammenhang zwischen universellen Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien tel quel auf die Ebene der individuellen Diskurse herunterzubrechen, die sprachtheoretischen Voraussetzungen des Modells verkennt. Denn die Vorstellung, wonach sich aus der parametrisierenden Korrelation von äußeren Faktoren der Kommunikationssituation und sprachlichen Variablen im Diskurs präzise Vorhersagen über die Variantenwahl in pragmatisch ähnlich profilierten Diskursexemplaren ableiten ließen, steht im Widerspruch zur prinzipiellen Freiheit der Sprechenden, sich in einer gegebenen Situation an wechselnden diskurstraditionellen Normen zu orientieren und den mit diesen Normen assoziierten Variantengebrauch im kommunikativen Prozess in kreativer Weise, nach ihren aktuellen, situationsspezifischen Absichten, zu funktionalisieren. Das konzeptionelle Kontinuum stellt aber auch nicht die – historisch gewachsenen – diskurstraditionellen Normen der sprachlichen Ausgestaltung bestimmter Sprachhandlungstypen dar; vielmehr modelliert es die anthropologischen, universellen Voraussetzungen der „Nicht-Einförmigkeit“ des menschlichen Sprechens, die sowohl der historischen Überformung durch sozial-semiotisch funktionalisierte Konventionen des sprachlichen Handelns als auch der durch diese Normen geleitete, letztlich aber nicht kalkulierbaren Variation im individuellen Diskurs zugrunde liegen.

Zwar mag es sein, dass Koch/Oesterreicher (1990/22011, 8–10) mit ihrer (didaktisch motivierten?) Entscheidung, „konzeptionelle Reliefs“ von Diskurstraditionen als eine Art Lehrbeispiel für die Variabilität und Vielschichtigkeit außersprachlicher Parameterkonfigurationen im Nähe/Distanz-Kontinuum heranzuziehen, ein Stück weit selbst zur Verunklärung der im Modell eigentlich vorausgesetzten „sukzessiven Determination“ (Oesterreicher 1988, 360; s.o.) der sprachlichen Variation entlang der Coseriu-Ebenen beigetragen haben (cf. dazu LÓPEZ SERENA i.d.B). Denn in der Tat entsteht dadurch der Eindruck, als repräsentiere die im Nähe/Distanz-Kontinuum dargestellte, von den Autoren als universell, historisch unspezifisch angesehene Ordnung von Situationstypen und damit korrelierten Verbalisierungsstrategien bereits die Ebene der – historisch gewachsenen und gesellschaftsspezifisch ausgeformten – Diskurstraditionen. Aus theoretisch expliziteren Darstellungen wie etwa Oesterreicher/Koch (2016) und insbesondere Oesterreicher (1988) lässt sich aber sehr deutlich ableiten, dass eine solche Konfusion der Coseriu-Ebenen, die in der Rezeption ja auch wiederholt vollzogen wurde, dem von den Autoren zugrunde gelegten Variationsbegriff nicht gerecht wird. Im Gegenteil zeigt die Rezeptionsgeschichte, dass das universelle Nähe/Distanz-Kontinuum durch seine fälschliche Interpretation als auf Einzeldiskursebene anwendbares Parameterinventar mit Vorhersagbarkeitsanspruch bzw. als – bereits historisch ausgeformte, wiederum direkt auf Einzeldiskursebene übertragbare – Textsortentypologie methodologisch ad absurdum geführt wird.

Es könnte so gesehen paradox oder immerhin bemerkenswert erscheinen, dass quantitative, mit großen Datenmengen arbeitende Studien wie die in diesem Band enthaltenen Beiträge von Robert HESSELBACH (zum Spanischen) sowie von Lars BÜLOW und Sven STEPHAN (zum Deutschen) die im konzeptionellen Kontinuum dargestellten Tendenzen der universellen Nähe/Distanz-Variation unter dem Strich sehr wohl bestätigen, und zwar auf der empirischen Basis von Einzeltexten, die nach außersprachlichen, diskurstraditionellen Kriterien unterschiedlichen Teilkorpora zugewiesen werden. Wie außerdem Wolfgang RAIBLE in seinem Beitrag zeigt, gelangt Douglas Biber mit seinen seit den 1980er Jahren durchgeführten Korpusanalysen zur ‘Registervariation’ im Englischen und in anderen Sprachen zu ganz ähnlichen Resultaten wie die sprachtheoretisch deduzierenden Autoren des Nähe/Distanz-Modells. Zwar kann in big data-Ansätzen natürlich nicht jedes einzelne Variationsdatum und auch nicht jeder einzelne Text auf die Spezifik seiner außersprachlichen Sinnbezüge hin untersucht werden. Gleichwohl erweisen sich die von Koch und Oesterreicher beschriebenen Tendenzen der konzeptionellen Variation in der statistischen Gesamtschau als empirisch valide; vom diskurstraditionellen Prototyp der variationellen Gestaltung abweichende Einzelbefunde fallen insgesamt offenbar nicht ins Gewicht.

Es lässt sich bis hierher zusammenfassen, dass Nähe und Distanz für Koch und Oesterreicher mehr sind als die Summe der einzelnen Faktoren, die sie zur Illustration dieser universellen pragmatischen Basiskategorie exemplarisch aufrufen. Man mag es bedauern, dass sich das konzeptionelle Kontinuum – als in universellen Prinzipien sprachlicher Interaktion fundierte Typologie der Variation – weder rein linguistisch begreifen noch dahingehend operationalisieren lässt, dass auf der Basis simpler Korrelationsannahmen die variationelle Ausgestaltung von Diskursen exakt vorherbestimmt werden könnte. Eine derartige Methodik wird der Komplexität und Individualität des im Diskurs relevanten situationalen und volitionalen Bedingungsgefüges schlichtweg nicht gerecht. Gleichwohl sprechen aktuelle Studien – und darunter gerade auch solche, die mit großen Datenmengen operieren – recht eindeutig für die empirische Relevanz des Nähe/Distanz-Modells (cf. dazu von germanistischer Seite auch den von Ágel/Hennig 2010 herausgegebenen Band). Seine Anwendung erweist sich lediglich dann als problematisch, wenn versucht wird, auf der Basis eines geschlossenen Sets von als starr verstandenen Kommunikationsbedingungen die konzeptionelle Gestaltung von Diskursen gewissermaßen blind vorherzusagen (cf. Dufter/Stark 2003; Androutsopoulos 2007). Varietätenlinguistisch widersprüchliche Einzelbefunde werden dann gerne zum Anlass genommen, um das Modell per se in Frage zu stellen. Wie wir gezeigt haben, verbietet es aber die für Koch und Oesterreicher fundamentale sprachtheoretische Unterscheidung zwischen den drei Coseriu-Ebenen, den im Nähe/Distanz-Modell für die universelle Ebene postulierten Zusammenhang zwischen Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien methodisch unvermittelt auf die Ebene der Einzeldiskurse anzuwenden – ohne dass dabei nämlich die variationellen Einzeldaten vor dem Hintergrund ihrer jeweils erst individuell zu begreifenden Pragmatik hinreichend gewürdigt würden. Wie oben am Beispiel des Bewerbungsgesprächs angedeutet wurde, gelten für bestimmte kommunikative Gattungen oder Situationstypen gewiss bestimmte konzeptionelle Erwartungshaltungen (cf. dazu auch den Begriff des ‘Situationsentwurfs’, sp. esbozo de situación, bei SELIG/SCHMIDT-RIESE i.d.B.), die auf der historischen Ebene der Diskurstraditionen als normative Blaupause für die Gestaltung individueller Diskursexemplare dienen. Im Diskurs können aber diverse diskurstraditionelle Muster in schier unendlicher Variabilität und Vielschichtigkeit miteinander kombiniert und kreativ weiterentwickelt werden (cf. Kabatek 2015b), je nach kommunikativer Finalität und situativer Einbettung des aktuellen Diskursgeschehens. Bei aller – in Form von universellen Tendenzen beschreibbarer – Situationstypik sprachlichen Verhaltens und bei aller normativer Relevanz der im sprachlichen Sozialisationsprozess erworbenen, historisch konventionalisierten Kommunikationsroutinen kann die konkrete Ausgestaltung einzelner sprachlicher Handlungsvollzüge eben nur sehr bedingt kalkuliert werden. Und dies gilt letztlich auch für Phänomene der grammatischen Kovariation, die, obschon es sich dabei um weitgehend konventionalisierte, formal beschreibbare Tendenzen der morpho-syntaktischen oder morpho-phonologischen Kontextsolidarität handelt, eben doch auch in Abhängigkeit von den „außersprachlichen Sinnbezügen“ des Diskurses stehen und nicht zuletzt für die Sprechenden mit bestimmten varietätenlinguistischen Indizierungen verbunden sind.

Wie lässt sich nun aber das universelle, multidimensionale Kontinuum von kommunikativer Nähe und Distanz mit Coserius einzelsprachlichen Dia-Dimensionen verbinden? – Koch und Oesterreicher begründen die im Kombinationsmodell vorgenommene Hierarchisierung von konzeptioneller und diasystematischer Variation unter anderem damit, dass Elemente aus allen drei Dia-Dimensionen sekundär im Sinne der konzeptionellen Variationsparameter funktionalisiert werden könnten. Wie die (nicht dem einzelsprachlichen Diasystem zugerechneten) Strukturen der konzeptionellen Mündlichkeit träten also auch dialektale oder diastratisch/diaphasisch9 niedrig markierte Formen bevorzugt unter den außersprachlichen Bedingungen der kommunikativen Nähe auf. Diasystematisch markierte Varianten könnten deshalb von den Sprechenden eingesetzt werden, um kommunikative Nähe oder Distanz zu signalisieren. Außerdem richteten sich die drei diasystematischen Dimensionen „in ihrer inneren Markiertheitsabstufung“ nach dem Nähe/Distanz-Kontinuum aus (Koch/Oesterreicher 2011, 17): Während also etwa ein Lexem wie dt. bekommen unter den Kontextbedingungen der kommunikativen Distanz diaphasisch neutral erscheine, sei es im Nähediskurs, wo üblicherweise die Variante kriegen verwendet wird, vergleichsweise hoch markiert (Oesterreicher/Koch 2016, 48s.). Die konzeptionelle Variation habe somit als „eigentlicher Endpunkt der Varietätenkette“ zu gelten (Koch/Oesterreicher 2011, 17): Erst durch die Nähe/Distanz-Parameter sei nämlich festgelegt, welche diasystematischen Varianten situationsangemessen sind und welche nicht. Entsprechend sei es im Nähediskurs eher erwartbar, dass etwa dialektale Formen eingesetzt werden, als im per Definition standardaffinen Distanzdiskurs.10

Ein Aspekt, der in der Rezeption des Kombinationsmodells für Diskussionen gesorgt hat, ist die Frage nach der Verortung der Standardvarietät (cf. Krefeld 2011; Dufter 2018, 67–69). Für Coseriu, wie auch für Koch und Oesterreicher, stellt bekanntlich die Existenz einer Standardvarietät die Voraussetzung dafür dar, dass ein einzelsprachliches Diasystem sich überhaupt konstituiert. Nur mit Bezug auf eine Standardsprache (eine ‘historische Einzelsprache’) kann also von einem ‘Diasystem’, einer ‘Architektur’ oder einem ‘Varietätenraum’ die Rede sein (cf. zuletzt Fesenmeier 2020, 612–614). Aus dieser Bedingung – die die Pertinenz der im Kombinationsmodell verdichteten Annahmen gewiss auf eine überschaubare Gruppe von Kultursprachen reduziert (Dufter 2018, 68)11 – ist klar herauszulesen, dass Koch und Oesterreicher die Standardnorm als exemplarische, institutionalisierte Distanzvarietät begreifen, nämlich als das Resultat eines historischen Prozesses, in dem sich innerhalb einer Sprachgemeinschaft eine überregionale Referenznorm herausgebildet hat, die für die Kommunikation in distanzsprachlichen Diskursdomänen maßgeblich ist. Aus diesem Grund verorten die Autoren die „präskriptive Norm“ dezidiert „im rechten Bereich“ ihres Kombinationsmodells (Koch/Oesterreicher 2011, 19). Zwar mag man unter dem Begriff der Standardsprache in anderer Perspektivierung auch nicht (oder nur schwach) räumlich markierte Formen der gesprochenen Sprache verstehen, die in der Folge umfassender Alphabetisierung die traditionell in der Mündlichkeit gebrauchten primären Dialekte verdrängt haben (cf. Krefeld 2011, 104; DEL REY QUESADA i.d.B.). Dieser weitere Begriff des Standards, den etwa Termini wie „gesprochenes Standarddeutsch“ reflektieren (cf. Schneider 2011), entspricht aber nicht der von Koch und Oesterreicher gemeinten „präskriptive[n] Norm“: Für sie umfasst die Standardvarietät per Definition all jene Varianten einer historischen Einzelsprache, die in Situationen der kommunikativen Distanz verwendet werden können, die also – von der Konzeption her – schriftsprachlich sind (kanonische Syntax usw.) und die – von ihrer diasystematischen Markierung her – als hochsprachlich einzuordnen sind (zu einem anderen Vorschlag cf. DEL REY QUESADA i.d.B.). In Alltagssituationen mündlich realisierte Standardsprache (z.B. „gesprochenes Standarddeutsch“) mag so gesehen zwar diasystematisch (und vor allem diatopisch) ‘unmarkiert’ sein; gleichwohl wird sie von ihrer Konzeption her kaum dem Prototypen des elaborierten Distanzsprechens gerecht werden, solange es sich eben um gesprochene Sprache handelt, die ‘online’ produziert wird (cf. Auer 2000; Schneider 2011) und durch entsprechende Versprachlichungsstrategien charakterisiert ist (dem Idealtyp des Distanzsprechens kann im phonischen Medium für Koch und Oesterreicher lediglich ein mündlich vorgetragener, aber schriftlich konzipierter Text entsprechen – es sei denn, jemand wäre tatsächlich in der Lage, sich aus dem Stegreif mündlich ‘wie gedruckt’ zu äußern). Ein derartiger, dem historischen Prozess der Herausbildung einer exemplarischen Distanzvarietät Rechnung tragender Standardbegriff schließt im Übrigen keineswegs aus, dass die präskriptive Norm auch diasystematisch neutrale Elemente umfasst, die im alltäglichen, mündlichen Sprachgebrauch genauso gut vorkommen können wie in der Schriftlichkeit (cf. Oesterreicher/Koch 2016, 43s.). Allein schon im Bereich des Lexikons erscheint dies völlig evident, und auch auf anderen sprachlichen Strukturebenen dürfte es zahlreiche Merkmale geben, die in einer Einzelsprache generelle Gültigkeit besitzen und die deshalb weder in der Nähe- noch in der Distanzkommunikation in irgendeiner Weise auffällig erscheinen (cf. Schneider 2011, 172).12

Es ist also der historische Prozess der Standardisierung – der Festlegung auf eine gesellschaftlich anerkannte, exemplarische Schriftnorm –, durch den sich der im Kombinationsmodell dargestellte Varietätenraum einer Einzelsprache wie des Deutschen, Französischen oder Englischen konstituiert (cf. Oesterreicher/Koch 2016, 44s.). Die entscheidende Rolle, die dem Standardisierungsprozess bei der Festlegung varietätenlinguistischer Indizierungen zukommt, illustriert im vorliegenden Band Ann-Marie MOSER (i.d.B) am Beispiel der doppelten Negation im Deutschen. Es handelt sich dabei um eine morpho-syntaktische Variante, die auf primärdialektaler Ebene nicht nur flächendeckend belegt ist, sondern sogar weitestgehend generalisiert erscheint. Aus der sich herausbildenden Distanzvarietät ist die doppelte Negation aber bereits früh – noch vor der expliziten Kodifizierung der neuhochdeutschen Schriftnorm im 18. und 19. Jahrhundert – verdrängt worden, möglicherweise unter dem Einfluss der lateinischen Grammatik. Bei der einfachen Negation scheint es sich somit in der Geschichte des Deutschen um eine ursprünglich rein schriftsprachliche, prestigebesetzte Variante zu handeln, die heute freilich als Folge der Reorganisation des Nähebereichs auch in der nicht-primärdialektalen Mündlichkeit (z.B. im „gesprochenen Standarddeutsch“ oder in den Regiolekten) als Normalform gilt, wohingegen die doppelte Negation in der Gegenwartssprache diatopisch (oder sekundär diastratisch) markiert ist, also der Dimension 4 (oder 3) im Kombinationsmodell zuzuordnen wäre.

Wir können hier nicht im Detail die komplexe Diskussion nachzeichnen, die insbesondere die von Koch und Oesterreicher vollzogene Aufspaltung der Nähe/Distanz-Dimension in eine universelle (1a) und eine einzelsprachliche Ebene (1b) der konzeptionellen Variation nach sich gezogen hat. Die Notwendigkeit dieses Schritts ergibt sich für die Autoren aus der Beobachtung, dass es, zumindest in bestimmten Sprachen, historisch-kontingente Merkmale gebe, deren Ausprägung sich nach den für die konzeptionelle Variation maßgeblichen Kommunikationsbedingungen der Nähe bzw. Distanz richte, die aber lediglich in einer bestimmten Sprachgemeinschaft, aufgrund von historisch-sozietärer Traditionsbildung, zur Verfügung stehen und nicht übereinzelsprachlich vorkommen (also anders als etwa Anakoluthe, Dislokationen, Zögerungsphänomene oder Diskursmarker, die als universelle Nähe/Distanz-Merkmale auf der Ebene 1a verortet sind). Es handle sich mithin um einzelsprachspezifische Merkmale der kommunikativen Nähe und Distanz, deren Variation die synchrone Konsequenz des historischen Prozesses der Indizierung bestimmter Formen als standardsprachlich ist; in der (standardfernen) Nähesprache haben sich dagegen komplementäre Varianten etabliert bzw. erhalten. Besonders reich fällt das Inventar solcher Merkmale in einem tendenziell diglossisch angelegten Varietätenraum wie dem des Französischen aus: Aufgrund eines rigorosen Standardisierungsprozesses, der die (Schrift-)Norm des 17. Jahrhunderts vor allem in der Morphosyntax bis heute weitgehend bewahrt hat, liegt hier eine Reihe von binären Variablen vor, deren Realisierung nach Koch und Oesterreicher von der Nähe- bzw. Distanzsprachlichkeit (vom Formalitätsgrad) einer Äußerung abhängt (cf. etwa die schon angesprochene Realisierung vs. Absenz von ne bei der Negation, die Verfügbarkeit vs. Nicht-Verfügbarkeit des passé simple, verschiedene Fragesatztypen, morphologische Varianten wie ça vs. cela, on vs. nous als klitisches Pronomen der 1. Person Plural usw.; cf. im Einzelnen Koch/Oesterreicher 2011, 164–182). Aus der historischen Kontingenz solcher Merkmale folgt für die Autoren, dass die entsprechende Varietätendimension (1b in Abbildung 2) nicht in jeder Sprache ausgelastet sein muss. So fällt der Befund etwa für das Spanische, das sich durch eine vergleichsweise liberale, für nähesprachliche Innovationen offene (also laufend re-standardisierte) Norm auszeichnet, sehr viel magerer aus als für die vergleichsweise konservativen Schriftstandards des Französischen oder Italienischen (cf. Koch/Oesterreicher 2011, 235 und 264–267).

Kontrovers wurde mit Bezug auf diesen Vorschlag vor allem die Frage diskutiert, ob nicht die konzeptionelle Variation (mindestens auf der einzelsprachlichen Ebene 1b) eine redundante Doppelung (mindestens von Teilen) desjenigen Phänomenbereichs darstellt, der bei Coseriu unter die Diaphasik fällt (cf. etwa Albrecht 1986/1990; Kiesler 1995; Dufter/Stark 2003). Vor dem Hintergrund der oben angesprochenen theoriegeschichtlichen Erwägungen erscheint ja die Vermutung nicht abwegig, dass das, was Coseriu (1969) strukturalistisch konzeptualisiert hat als einzelsprachliches Subsystem von Varianten, die für die Sprecher konventionell mit einer bestimmten Registermarkierung verbunden sind (etwa im Französischen: vulgaire, populaire, familier, courant, soutenu), in einer anderen Sichtweise dem entspricht, was Koch und Oesterreicher „kommunikativ-funktional“ an Situations- oder Sprachhandlungstypen im konzeptionellen Kontinuum rückbinden (cf. Selig 2011, 118s.). In beiden Perspektivierungen scheint jedenfalls die Situationsangemessenheit der zur Auswahl stehenden Varianten das entscheidende Realisierungskriterium zu sein.13

Für Koch und Oesterreicher besteht gleichwohl ein prinzipieller Unterschied zwischen einzelsprachlicher Nähe/Distanz-Variation und einzelsprachlicher Diaphasik (die die Autoren, anders als Coseriu, im Wesentlichen auf den lexikalischen Bereich beschränken; cf. Selig 2011, 119). Mit der konzeptionellen Variation geht für die Autoren nämlich, obschon sie einzelsprachlich-kontingente Phänomene umfasst, keine ‘diasystematische Markierung’ einher (cf. DEL REY QUESADA i.d.B.): In Situationen der kommunikativen Nähe sei es also schlicht normal und funktional angemessen, ja sogar alternativlos, sich nähesprachlicher Varianten wie fr. ça, pas, on, passé composé14 usw. zu bedienen; distanzsprachliche Varianten wie fr. cela, ne … pas, nous oder das passé simple seien dagegen im Nähediskurs per Definition ausgeschlossen (es sei denn, eine Distanzvariante wird eingesetzt, um damit einen entsprechenden kommunikativen Effekt zu erzielen, der dann aber eben auch distanzsprachlich und in dieser Funktion seinerseits alternativlos ist). Im Bereich der Diaphasik hätten die Sprecher dagegen grundsätzlich die Wahl zwischen verschiedenen (lexikalischen) Bezeichnungsvarianten, „die mit bestimmten Bewertungen in Sprechsituationen korrespondieren“ (Koch/Oesterreicher 2011, 15).

In dieser Logik wäre in einer (phonisch oder graphisch realisierten) Äußerung wie dt. Ich hab deine Nachricht bekommen von der Kombination einer nähesprachlichen (im Distanzdiskurs inadäquaten) Variante hab und einer diaphasisch neutralen Variante bekommen (als Alternative zu stilistisch niedrig markiertem gekriegt oder stilistisch hoch markiertem erhalten) auszugehen. Koch und Oesterreicher argumentieren in diesem Zusammenhang, dass die konkrete Markierungszuweisung im Bereich der Diaphasik erst durch das konzeptionelle Profil einer Äußerung festgelegt sei: Denn in einer konzeptionell mündlichen Äußerung des Typs Ich hab deine Nachricht _______ erschiene die diaphasische Variante erhalten stilistisch überzogen; in einer konzeptionell schriftlichen Äußerung – mit nicht-apokopierter Form des Auxiliars – wäre das Wort dagegen angemessen oder zumindest weniger hoch markiert (Ich habe deine Nachricht erhalten). Worum es den Autoren hier geht, ist also die oben zitierte Annahme, dass konzeptionelle Varianten nicht mit wertenden Registermarkierungen verbunden sind (hab ist demnach im Nähediskurs völlig normal und alternativlos, für habe gilt dies analog im Distanzdiskurs). Diaphasische Varianten seien dagegen grundsätzlich – wenn auch in Abhängigkeit vom Nähe/Distanzprofil des Kontexts (cf. Koch 1999, 156s.) – mit einer diasystematischen Markierung versehen, der ja traditionell auch die Lexikographie Rechnung trägt (cf. etwa auch substantivische Bezeichnungsvarianten wie Personenkraftfahrzeug – Wagen – Auto – Karre).

Man mag diese Unterscheidungen für allzu konstruiert und anwendungsfern halten, zumal sie es nur auf Umwegen erlauben, offenkundige ‘konzeptionell-diaphasische’ Kontextsolidaritäten zu erklären, deren idiomatische Relevanz wohl jeder kompetente Sprecher intuitiv bestätigen würde: So wirken die Kombinationen hab gekriegt und habe erhalten zweifellos natürlicher und akzeptabler als die umgekehrten Verbindungen hab erhalten bzw. habe gekriegt. Koch und Oesterreicher führen dennoch eine Reihe von Argumenten an, mit denen sie ihre Unterscheidung und Hierarchisierung von einzelsprachlicher Nähe/Distanz-Variation und Diaphasik theoretisch abstützen. Ja die Beobachtung, dass in Distanzkontexten (habe) diaphasisch höher markierte Formen (erhalten) angemessener erscheinen als diaphasisch niedrig markierte (gekriegt), dient den Autoren sogar als Kernargument für die Annahme, dass sich die diasystematischen Markierungsverteilungen, und damit die gesamte einzelsprachliche Architektur, in letzter Instanz funktional an den Parametern der Nähe/Distanz-Dimension ausrichteten und dass mithin die konzeptionelle Ebene als „Endpunkt der Varietätenkette“ anzunehmen sei (Koch/Oesterreicher 2011, 17; cf. zu dieser Argumentation auch Koch 1999, 156–160). Koch und Oesterreicher erkennen aber auch die weitgehende Komplementarität von diaphasischen Registerskalen im Lexikon und tendenziell dual angelegten Nähe/Distanz-Unterscheidungen im grammatischen Bereich, und sie räumen überdies ein, dass es „in der Praxis“ keineswegs „immer leicht [ist], konkrete Einzelphänomene mit absoluter Sicherheit entweder der Diaphasik oder der Nähe-Distanz-Variation zuzuweisen“ (Koch 1999, 159).

Nach all diesen Ausführungen kann kein Zweifel daran bestehen, dass es sich bei der von Koch und Oesterreicher vorgeschlagenen vierdimensionalen Modellierung um einen systemorientierten Ansatz handelt (Berruto 2017; Gadet 2018, 54), dessen Ziel es ist, die Prinzipien sprachlicher Variation auf einem hohen Abstraktionsniveau zu erfassen und eine theoretisch fundierte begriffliche Ordnung für die Beschreibung der variationellen Vielgestaltigkeit des Sprechens und der Sprachen anzubieten. Dass ein Modell, das einen derart umfassenden Erklärungsansatz verfolgt, sich grundsätzlich als attraktiv für die verschiedensten Rezeptions- und Anwendungsperspektiven erweist, ist naheliegend und wird durch die Rezeptionsgeschichte in eindrucksvoller Weise bestätigt. Es kann aber auch nicht verwundern, dass es im Zuge der Aneignung des Modells durch unterschiedliche Schulen und Subdisziplinen zu divergierenden Auslegungen, zu epistemisch-methodologischen Verwerfungen und zu – berechtigter wie unberechtigter – Kritik gekommen ist. Zwar liegt auf der Hand, dass die Beschreibungsadäquatheit einer varietätenlinguistischen Theorie empirisch nachgewiesen werden muss, und so ist es auch prinzipiell zu begrüßen, wenn unterschiedliche Forschungstraditionen ihre methodische Expertise in die Diskussion einbringen. Wir meinen aber, dass – bei aller Kritik, die im Detail geübt werden kann und soll – grundsätzlich anzuerkennen ist, dass Kochs und Oesterreichers Modellierung auf einer soliden sprachtheoretischen Basis aufruht, deren varietätenlinguistische Relevanz sie mit überzeugenden Argumenten darlegt (Oesterreicher 1988) und die sie konsequent zu Ende denkt. Wie wir gezeigt haben, erweisen sich viele der in der Rezeptionsgeschichte anhand von Einzelbefunden vorgebrachten Einwände als ungerechtfertigt, weil die Kritik verkennt, dass das Nähe/Distanz-Modell keine selbsterklärende methodische Anleitung zur variationellen Analyse von Einzeldiskursen ist und sein will. Das Ziel des Modells besteht vielmehr darin, einen sprachtheoretisch fundierten, universell-anthropologischen Erklärungshorizont für die sich im Diskurs in unendlicher Variabilität manifestierende „Nicht-Einförmigkeit“ der menschlichen Sprechtätigkeit und deren außersprachliche Voraussetzungen zu formulieren. Wie dieses begriffliche Gerüst auf die Untersuchung von Korpusdaten konkret angewendet werden kann, lassen die Autoren offen. Aus entsprechenden Stellungnahmen (cf. etwa die oben zitierten Passagen) ist aber herauszulesen, dass Koch und Oesterreicher hier wohl keine ausgeklügelte (und schon gar keine automatisierte) Untersuchungsmethodik im Sinn hatten. Sie überließen es vielmehr dem hermeneutischen Gespür der Forschenden – man möchte sagen: dem gesunden philologischen Menschenverstand –, die Pragmatik variationeller Befunde im Diskurs zu begreifen und diese mithilfe der durch ihre Theorie an die Hand gegebenen begrifflichen Systematik linguistisch sinnvoll einzuordnen.

Der wiederholt geäußerte Vorwurf, das Modell von Koch und Oesterreicher sei eine reduktionistische Setzung, die einer empirisch basierten Methodik der objektiven Beschreibung sprachlicher Variation nicht standhalte oder nachgerade im Wege stehe (cf. Dufter/Stark 2003; Dufter 2018), scheint uns bei genauerer Betrachtung nicht haltbar zu sein – zumal Koch und Oesterreicher zu diesem Vorwurf selbst Stellung nahmen und ihn mit schlüssigen Argumenten entkräftet haben. Dass empirische Forschung notwendig ist, um die im Nähe/Distanz-Modell verdichtete variationstheoretische Axiomatik zu fundieren, zu präzisieren und, wo dies nötig erscheint, auch zu hinterfragen, versteht sich wie gesagt von selbst. Allerdings sollte man die Autoren dabei beim Wort nehmen und das Modell und die ihm zugrundeliegenden Basiskonzepte (wie etwa den Begriff des Standards) nicht stillschweigend nach Maßgabe eigener Interessen uminterpretieren. Aufgrund seines anspruchsvollen theoretischen Fundaments und seiner methodologischen Offenheit scheint uns das Nähe/Distanz-Modell jedenfalls eher dazu anzuregen, die sprachliche Variation in unterschiedlichen historischen Kontexten auf empirischer Basis zu untersuchen, als dass es derartige Bemühungen blockieren oder gar verhindern würde. Dies bestätigt nicht zuletzt die Mehrheit der in diesem Band versammelten Beiträge, und zwar unabhängig davon, ob sie eher theoretisch (DÜRSCHEID, CALARESU/PALERMO, RAIBLE, SELIG/SCHMIDT-RIESE) oder empirisch ausgerichtet sind (MOSER, BÜLOW/STEPHAN, HESSELBACH). Im Übrigen erweist sich die Theorie der kommunikativen Nähe und Distanz aufgrund ihres universellen Anspruchs und ihrer methodischen Flexibilität gerade in Bezug auf sprachhistorische Fragestellungen, die ja empirisch immer nur approximativ, auf bisweilen stark reduzierter Datengrundlage bearbeitet werden können, als überaus hilfreiches und erklärungsmächtiges Instrumentarium.

Auch scheint uns die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung des Nähe/Distanz-Modells weniger in den auf das einzelsprachliche Diasystem bezogenen Überlegungen zu bestehen, die sich ja im Wesentlichen auf bereits von Coseriu vorgeschlagene Konzeptualisierungen stützen und die in der Tat bisweilen den Eindruck einer allzu ‘geometrisch’ inspirierten Konstruktion vermitteln (cf. Dufter 2018, 64 und 67). Ungleich wichtiger, ja in seinem Entstehungskontext geradezu revolutionär, erscheint aber doch das, was man als das Nähe/Distanz-Modell im engeren Sinn bezeichnen möchte, also die im 1985er-Aufsatz dargelegte, durch Oesterreicher (1988) erweiterte Theorie der konzeptionellen Variation zwischen den Polen von kommunikativer Nähe und Distanz. Was in der Labov’schen Tradition als zunächst für sich stehendes Inventar von Kontextfaktoren daherkommt, die denn auch methodisch mehr oder weniger unvermittelt mit den sprachlichen Daten relationiert werden können, leiten Koch und Oesterreicher aus einem universellen, anthropologisch fundierten Variationsbegriff ab. Für sie geht es letztlich darum, das Gesamtphänomen der Variation sprachtheoretisch zu erklären. Deshalb sah Wulf Oesterreicher die Gefahr des „Erkenntnisverzicht[s]“ (s.o.), wenn die varietätenlinguistische Arbeit sich in der mehr oder weniger konstatierenden Beschreibung sprachlicher Daten und deren außersprachlicher Begleitumstände erschöpft, dabei aber die hinter der Variation stehenden historischen Regeln und universellen Prinzipien außer Acht lässt. Koch und Oesterreicher verfolgten hingegen das Ziel, das im Diskurs wirksame Zusammenspiel von Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien im Lichte eines übergeordneten, universellen Sprachbegriffs zu reflektieren und die historisch ausdifferenzierten Regeln der einzelsprachlichen Variation in den theoretischen Horizont einer allgemeinen, anthropologisch fundierten Kultursemiotik einzuordnen (cf. dazu auch Oesterreicher 2009).

Was bleibt von kommunikativer Nähe und Distanz?

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