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1 Glanz und Elend eines linguistischen Paradigmas1

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Dem von Peter Koch (1951–2014) und Wulf Oesterreicher (1942–2015) erstmals im Jahr 19862 vorgelegten Modell sprachlicher Variation zwischen kommunikativer Nähe und Distanz war in den vergangenen dreieinhalb Jahrzehnten eine außergewöhnliche Erfolgsgeschichte beschert (cf. Mensching 2008; Feilke/Hennig 2016a/b). Dazu hat unter anderem die glückliche historische Fügung beigetragen, dass der im Romanistischen Jahrbuch erschienene ‘Gründungsaufsatz’ ganz unvermittelt zu einer Art Programmschrift des Freiburger Sonderforschungsbereichs „Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ avancierte, welcher ein Jahr zuvor an der damaligen Heimatuniversität der beiden Nachwuchsromanisten seine Arbeit aufgenommen hatte (Raible 1998, 18s.; Oesterreicher/Koch 2016; Selig 2017). Aus dieser transdisziplinären Forschungseinrichtung, die bis 1996 bestand und seither gerne als „legendär“ bezeichnet wird, sind nicht nur wegweisende sprach-, literatur- und im weiteren Sinn kultur- und textwissenschaftliche Arbeiten hervorgegangen, sondern, gerade im Bereich der romanistischen Linguistik, auch eine beeindruckende Zahl von Schülerinnen und Schülern, die die Freiburger Forschungs- und Lehrtradition ab den 1990er Jahren an anderen Standorten weiterführten und so das Profil der deutschen Romanistik nachhaltig geprägt haben. Nicht zuletzt zählten zu diesen Multiplikatoren die beiden Urheber des Nähe/Distanz-Kontinuums selbst: Peter Koch übernahm bereits 1986, zunächst vertretungsweise, eine C3-Professur in Mainz, bevor er 1990 als C4-Professor an die Freie Universität Berlin und 1996 nach Tübingen berufen wurde. Wulf Oesterreicher begann seine professorale Laufbahn 1991 als Extraordinarius in München und wurde dort drei Jahre später, nach mehreren auswärtigen Rufen, zum Inhaber des sprachwissenschaftlichen Lehrstuhls für romanische Philologie.

In Anbetracht der längst nicht mehr zu überblickenden Zahl von Forschungsarbeiten, die seither in verschiedenen, nicht nur sprachwissenschaftlichen Disziplinen unter Berufung auf das Nähe/Distanz-Modell3 entstanden sind, kann die von Koch und Oesterreicher entwickelte, 1990 monographisch erweiterte und auf drei große romanische Sprachen angewandte Theorie sprachlicher Variation heute ohne Übertreibung als linguistisches Paradigma bezeichnet werden (cf. schon Kabatek 2000; Krefeld 2018). Spätestens mit der 2007 erschienenen spanischen Übersetzung der Gesprochenen Sprache in der Romania waren auch der internationalen Verbreitung, zumindest in der hispanophonen Welt, keine Grenzen mehr gesetzt (cf. aber auch schon die wichtigen Handbuchkapitel in französischer bzw. spanischer Sprache Koch/Oesterreicher 2001 und Oesterreicher 2004; die erste englische Version des 1985er-Aufsatzes erschien dagegen erst deutlich später, nur ein Jahr vor der ersten portugiesischen Übersetzung; cf. Koch/Oesterreicher 2012 und 2013). Im deutschsprachigen Raum markiert die Publikation der zweiten, überarbeiteten Auflage des Buchs im Jahr 2011 den Höhepunkt einer fachübergreifenden Rezeptionsgeschichte, die bereits mit einem vielbeachteten Beitrag der Autoren zum HSK-Band Schrift und Schriftlichkeit beginnt (Koch/Oesterreicher 1994) und die in der Germanistik ganz wesentlich befördert wurde durch drei von Vilmos Ágel und Mathilde Hennig herausgegebene Sammelbände (Ágel/Hennig 2006; 2007; 2010; cf. außerdem Koch/Oesterreicher 2007 und 2008a).

Die „Sogwirkung“ (Androutsopoulos 2007, 80), die das Nähe/Distanz-Modell in den vergangenen 35 Jahren vor allem in der deutsch- und spanischsprachigen Romanistik, der germanistischen Linguistik und der germanistischen L1-Didaktik entfalten konnte, wird häufig begründet mit der intuitiven Nachvollziehbarkeit seiner mehrdimensionalen, metaphorischen Kernkonzepte (cf. Knobloch 2016; Zeman 2016) sowie der – wohl Peter Kochs didaktischem Talent geschuldeten4 – Anschaulichkeit des Parallelogramms, in dem sich das durch die medial-konzeptionellen Affinitäten definierte Kontinuum von kommunikativer Nähe und Distanz aufspannt (cf. Abbildung 1).

Ein weiterer, wenn auch bisweilen übersehener Faktor, der die Rezeption des Modells nachhaltig begünstigte, ist darin zu sehen, dass Koch und Oesterreicher ihre universalistisch fundierte Theorie nicht nur für die gegenwartssprachliche Varietätenlinguistik formuliert haben, sondern sie von Beginn an ganz dezidiert auch auf sprachhistorische Fragestellungen bezogen wissen wollten (cf. dazu bereits den Abschnitt „Zur Geschichte von Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ in Koch/Oesterreicher 1985, 29–33). In zahlreichen Folgepublikationen haben die beiden Autoren demonstriert, inwieweit ihr begriffliches Gerüst dazu geeignet ist, Prozesse des Ausbaus, der Standardisierung und überhaupt des sprachlichen Wandels zu typisieren – Prozesse, die in der Forschung bis dahin entweder eher theoriefern5 oder aber allzu generalisierend, ohne hinreichende Berücksichtigung varietätenlinguistischer Differenzierungen,6 behandelt wurden. Die Zusammenhänge, die Koch und Oesterreicher in ihren sprachhistorischen Beiträgen – wiederum stets modellhaft, mit einem Fokus auf dem Prinzipiellen – anhand von Fallbeispielen aus verschiedenen Epochen, Kommunikationsräumen und sprachlichen Phänomenbereichen aufzeigten,7 sind seither in unzähligen, oft direkt von ihnen angeregten Einzelstudien methodologisch weiterentwickelt, empirisch unterfüttert und auf neue Untersuchungskontexte übertragen worden. Zwar folgt dieser Boom historisch-varietätenlinguistischer Forschung einem allgemeinen Trend, der sich keineswegs auf die ‘Freiburger Schule’ der deutschen Romanistik reduzieren lässt: Just in den 1980er Jahren hat die historische Sprachwissenschaft bekanntlich ihr Interesse an der Variation (neu) entdeckt und systematisch zu reflektieren begonnen.8 Die seither im Rahmen innovativer, korpusbasierter Ansätze erfolgte Rephilologisierung (und, damit einhergehend, die Überwindung teleologischer Limitierungen auf das Narrativ der Entwicklung von Nationalsprachen9) hat aber zweifelsohne in entscheidender Weise dazu beigetragen, dass das Nähe/Distanz-Modell sehr schnell auch jenseits der gegenwartssprachlichen Varietätenlinguistik – und, wie es scheint, favorabler als dort – aufgenommen und methodologisch fruchtbar gemacht wurde. Die vielfache Kritik, die seit der Erstpublikation der Gesprochenen Sprache an Kochs und Oesterreichers Theorie geübt wurde (s.u.), steht jedenfalls in einem merkwürdigen Kontrastverhältnis zur nach wie vor sehr erfolgreichen Anwendung des Nähe/Distanz-Modells in der empirisch basierten sprachhistorischen Forschung, und es dürfte wohl kaum jemand den deskriptiven Wert und die didaktische Attraktivität in Abrede stellen, die das konzeptionelle Kontinuum bei der Untersuchung historischer Variations- und Kontaktszenarien sowie darin angelegter Entwicklungsdynamiken erweist (cf. dazu etwa Oesterreicher 1995; Koch 2003; Koch 2008 und 2010; Koch/Oesterreicher 2008b).

Abbildung 1:

Das Nähe/Distanz-Kontinuum mit den konzeptionell-medialen Affinitäten (Koch/Oesterreicher 2011, 13)

Wie Helmuth Feilke und Mathilde Hennig in der Einleitung zu dem von ihnen besorgten Jubiläumsband Zur Karriere von ‘Nähe und Distanz’ betonen, bemisst sich der Erfolg eines wissenschaftlichen Paradigmas aber nicht allein an der Zustimmung, die ihm die Fach-Community entgegenbringt („Das ist nicht das Geschäft der Wissenschaft“; Feilke/Hennig 2016b,1). Vielmehr zeigt sich die Bedeutung einer Theorie auch im kritischen Echo und in der Lebendigkeit der Kontroverse, die sie hervorruft, denn wissenschaftliche Erkenntnis lebt vom Widerspruch und von der Revision bestehender Modelle. Die kritischen Positionierungen, die die von Koch und Oesterreicher entwickelte Varietätenlinguistik auf den Plan gerufen hat, sind nun in der Tat zahlreich, und meist richten sich die vorgebrachten Einwände gegen zentrale, axiomatische Annahmen des Nähe/Distanz-Modells, so dass dessen Beschreibungsadäquatheit dadurch grundlegend in Frage gestellt scheint (cf. etwa Albrecht 1986/1990 und 2003; Hunnius 1988 und 2012; Aschenberg 1991; Dufter/Stark 2003; Androutsopoulos 2007; Glessgen/Schøsler 2018, 35, Anm. 21). Vor allem in der medienlinguistischen Diskussion stößt das Modell überwiegend auf Ablehnung (s.u.). Dabei fällt die Kritik mitunter so vehement aus, dass man sich – gerade als überzeugter Anhänger des Nähe/Distanz-Modells – die Frage stellen muss, inwieweit die Berufung auf ein derart kontrovers beurteiltes Paradigma in Forschung und Lehre eigentlich noch zu rechtfertigen ist (cf. zur Kritik etwa Hunnius 2012; Krefeld 2015 und 2018 sowie den Großteil der Beiträge in Feilke/Hennig 2016a; cf. allerdings auch die Relativierungen von Selig 2017 und Winter-Froemel 2020).

Die Kluft, die heute zwischen teils vernichtender Kritik am Nähe/Distanz-Modell und dessen gleichwohl ungebrochenem Erfolg in bestimmten Forschungstraditionen besteht, legt es nahe, eine metakritische Perspektive einzunehmen und den Widersprüchlichkeiten auf den Grund zu gehen, die die Geschichte der Koch/Oesterreicher-Rezeption kennzeichnet. An partikulären Revisionen, die das Modell aus dem spezifischen Blickwinkel einer linguistischen Subdisziplin und der darin erprobten Methodik betrachten, herrscht ja offenkundig kein Mangel, und es steht auch selbstverständlich jedem Rezipienten frei, die Tauglichkeit eines Theorieangebots für sich, nach Maßgabe seiner individuellen Erkenntnisziele, zu bewerten. Im Fall des Nähe/Distanz-Modells haben aber solche Beurteilungen, die ihrerseits auf bestimmten, in der Regel impliziten theoretisch-methodologischen Voreinstellungen beruhen, immer wieder zur Zurückweisung bestimmter Annahmen geführt, ohne dass, komplementär dazu, die Frage gestellt wurde, weshalb das Modell in anderen Theorie- und Anwendungsperspektiven gleichwohl derart populär und wirkmächtig ist. Um den in der Diskussion häufig ausgeblendeten oder gar als ungerechtfertigt dargestellten Erfolg des Nähe/Distanz-Modells erklären zu können, möchten wir im Folgenden der Frage nachgehen, ob der immer wieder erhobene Vorwurf der Überholtheit und deskriptiven Unbrauchbarkeit nicht ein Stück weit aus Fehldeutungen und Usurpationen resultiert, die das Modell bei seiner Rezeption und perspektivischen Auslegung in verschiedenen linguistischen Schulen erfahren hat.10

Der Eindruck, dass sich die Koch/Oesterreicher-Kritik in den letzten Jahren zunehmend verselbständigt hat, entsteht unter anderem aufgrund der gängigen Praxis, dass das Nähe/Distanz-Modell meist vergleichsweise oberflächlich, auf der Basis programmatischer Synthesen in besonders einflussreichen Publikationen (wie etwa Koch/Oesterreicher 1994, 2001 oder [1990] 22011), rezipiert wird. Dabei unterbleibt jedoch eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den sprachtheoretischen Grundlagen, auf denen Koch und Oesterreicher – in weniger bekannten Texten – ihre Modellierung aufgebaut haben. Das Modell wird also nicht einfach nur aus dem historischen Kontext seiner Entstehungszeit gerissen (dieser Gedanke wird oft apologetisch geäußert, um die vermeintliche Hilflosigkeit des Modells bei der Beschreibung des Sprachgebrauchs in den Neuen Medien zu erklären; cf. dazu Abschnitt 3); es wird vielmehr seiner theoretischen Substanz beraubt und damit in gewisser Weise sinnentleert. Die große Resonanz, die dem Modell über die Jahre zuteil wurde, ist ja auch eine Folge der intuitiven Nachvollziehbarkeit und didaktischen Attraktivität seiner prägnanten graphischen Visualisierung (cf. Abbildung 1; cf. Dürscheid 2016, 359). Dieser rezeptionsgeschichtliche Selektionsvorteil (cf. RAIBLE i.d.B.) scheint dem Modell aber unter der Hand auch zum Nachteil gereicht zu haben – insofern nämlich, als die eingängige graphische Darstellung einer vorschnellen, eklektischen, eben intuitionsbasierten Aneignung Vorschub leistet und damit zur stillschweigenden, womöglich unbeabsichtigten Umdeutung nach Maßgabe eigener Erkenntnisinteressen und methodologischer Gewissheiten geradezu einlädt. Wie sich aber bei genauerer Prüfung der gegen Koch und Oesterreicher ins Feld geführten Einwände zeigt, sind die epistemisch voreingestellten Lektüren, zu denen das Nähe/Distanz-Modell angeregt hat, oft gar nicht mit dessen theoretischem Fundament kompatibel. Im Ergebnis führt die unterlassene Auseinandersetzung mit den theoretischen Voraussetzungen des Nähe/Distanz-Modells dann auch nicht selten zu dessen erfolgloser Anwendung auf Fragestellungen, für die es eigentlich nicht gemacht ist, und in der Folge zu dessen ungerechtfertigter Abqualifizierung. Um derartige Anwendungsirrtümer zu vermeiden und eine objektive Würdigung des Modells zu ermöglichen, scheint es uns somit geboten zu sein, die Kritik in ein adäquates Verhältnis zur sprachtheoretischen Innensicht von Kochs und Oesterreichers Varietätenlinguistik zu setzen. Wie sich zeigt, führt dieser Schritt in vielen Fällen zu der Einsicht, dass die dem Nähe/Distanz-Modell vorgeworfenen Schwächen zuallererst ein perzeptives Phänomen sind, das aus der Projektion von epistemisch-methodologischen Voreinstellungen resultiert, die allerdings im Widerspruch zur universalistischen, sprachtheoretisch anspruchsvollen Idee des konzeptionellen Kontinuums stehen.

Es sind vor allem zwei Aspekte, die in der Rezeption des Nähe/Distanz-Modells für Diskussion und teils erbitterten Widerspruch gesorgt haben. Der abgesehen von Oesterreicher/Koch (2016) ausschließlich germanistische Beiträge umfassende Band von Feilke und Hennig vermag nur von einer dieser beiden Traditionslinien einen Eindruck zu geben, denn die darin versammelten Aufsätze stellen fast ausschließlich auf die im Wesentlichen erst um die Jahrtausendwende lautgewordene Kritik an der „Medienindifferenz“ des Nähe/Distanz-Modells ab (cf. dazu Abschnitt 3 sowie DÜRSCHEID i.d.B.).11 Die etwas ältere Debatte setzt dagegen schon unmittelbar nach der Erstveröffentlichung der Gesprochenen Sprache in der Romania (1990) ein und wurde, soweit wir sehen, bislang nur innerhalb der Romanistik geführt: Sie betrifft die erstmals von Oesterreicher (1988) vorgeschlagene,12 dann in Koch/Oesterreicher (1990) wiederholte Verknüpfung des universellen Nähe/Distanz-Kontinuums aus dem 1985er-Aufsatz mit Coserius (1969; 1988) Modellierung des einzelsprachlichen Varietätenraums als dreigliedrige, hierarchisch organisierte ‘Architektur’ von Teilsystemen, die einer räumlichen (‘diatopischen’), einer sozialen (‘diastratischen’) und einer stilistischen (‘diaphasischen’) Dimension13 zugeordnet sind (cf. dazu etwa Aschenberg 1991; Kiesler 1995; Dufter/Stark 2003). In der Tat erscheint Coserius strukturalistisch inspiriertes, auf einem Vorschlag von Flydal (1951) basierendes Modell des einzelsprachlichen ‘Diasystems’ von seinen theoretischen Voraussetzungen her nicht ohne weiteres mit einem Ansatz vereinbar, der die sprachliche Variation „kommunikativ-funktional“ (Koch 1999, 156) begreift und auf universelle Grundprinzipien der menschlichen Sprechtätigkeit zurückführt.14 Der Clou des von Oesterreicher (1988) hergeleiteten Kombinationsmodells (cf. Abbildung 2) besteht aber gerade darin, dass es das theoretische Spannungsverhältnis zwischen (einzelsprachlichem) ‘Diasystem’ und (universeller) ‘Nähe/Distanz’ – eine Spannung, der wissenschaftsgeschichtlich die pragmatische Wende der 1970er Jahre entspricht – in eine zusammenhängende, nunmehr vierstufige Hierarchie von Varietätendimensionen übersetzt. Die konzeptionelle Variation im Nähe/Distanz-Kontinuum – die „anthropologisch verankerte Verflechtung zwischen situationeller und sprachlicher Variabilität“ (Selig 2011, 113) – wird dabei aufgespalten in eine universelle (1a) und eine einzelsprachliche Ebene (1b) und bildet dergestalt das leitende Prinzip der diasystematischen Variation à la Coseriu (Ebenen 2–4).

Abbildung 2:

Der einzelsprachliche Varietätenraum im ‘Kombinationsmodell’ (Koch/ Oesterreicher 2011, 17)

Es ist im Rahmen dieses Einleitungskapitels nicht möglich, im Detail die facettenreiche – und vielfach hoffnungslos verfahrene – Diskussion nachzuzeichnen, zu der die im Kombinationsmodell verdichtete, von Koch und Oesterreicher stets konsequent verteidigte varietätenlinguistische Theorie in den vergangenen Jahrzehnten geführt hat. Auf den folgenden Seiten begnügen wir uns deshalb damit, schlaglichtartig einige zentrale Fragestellungen zu umreißen, die in der Rezeption des Nähe/Distanz-Kontinuums und seines diasystematischen Unterbaus kritisch diskutiert wurden und die auch Gegenstand der elf in diesem Band versammelten Beiträge sind (die Namen der Autoren setzen wir hier in Kapitälchen).

In einem ersten Schritt (Abschnitt 2) sollen dabei überwiegend theoretische Probleme angesprochen werden, die aus der von Koch und Oesterreicher vorgenommenen Hierarchisierung von universeller und einzelsprachlicher (bzw. von konzeptioneller und diasystematischer) Variation im Kombinationsmodell erwachsen: Hier geht es zum einen um die Frage nach dem Platz der Standardvarietät im Modell sowie um das damit verbundene Problem der Unterscheidung zwischen diasystematisch ‘markierten’ und diasystematisch ‘nicht-markierten’ Varianten (DEL REY QUESADA). Zum anderen wird das für Kochs und Oesterreichers Theorie zentrale, im Einzelnen aber nicht geklärte Verhältnis zwischen konzeptioneller Variation und Diskurstraditionen zu erörtern sein (RAIBLE, LÓPEZ SERENA). In diesem Kontext erweisen sich auch die Ergebnisse zweier quantitativer Studien als interessant, die der empirischen Überprüfung des von Koch und Oesterreicher beschriebenen Zusammenhangs zwischen außersprachlichen Faktoren der Kommunikationssituation und konzeptioneller Variation gewidmet sind (HESSELBACH zur syntaktischen Komplexität am Beispiel des Spanischen; BÜLOW/STEPHAN zu syntaktischer Komplexität, Abtönung und lexikalischer Vielfalt am Beispiel des Deutschen). Außerdem werfen wir einen Blick auf die Rolle der einzelsprachlichen Nähe/Distanz-Variation im Rahmen der frühneuzeitlichen Standardisierungsgeschichte (MOSER).

Einen zweiten Schwerpunkt des Bandes stellt das in der neueren Rezeption intensiv diskutierte Verhältnis von ‘Konzeption’ und ‘Medium’ dar (Abschnitt 3), und zwar besonders im Hinblick auf spezifische Verfahren der Zeichenprozessierung und damit zusammenhängende diskurstraditionelle Entwicklungen, die heute im Kontext der digitalen Schriftlichkeit zu beobachten sind. Diesem Problembereich sind in unserem Band sowohl stärker theoretisch ausgerichtete Beiträge gewidmet (DÜRSCHEID, CALARESU/PALERMO, SELIG/SCHMIDT-RIESE) als auch zwei datenbasierte Studien zum Französischen bzw. Italienischen (HAKULINEN/LARJAVAARA; BARBERIO/INGROSSO).

Bei den folgenden Ausführungen werden wir nicht jeden der im Band versammelten Beiträge systematisch zusammenfassen, sondern ziehen es vor, ausgehend von den skizzierten, eng miteinander verwobenen Problemfeldern punktuell und in variabler Reihung auf die jeweils relevanten Kapitel des Bandes zu verweisen. Wer sich einen Überblick über die Argumentation einzelner Beiträge verschaffen möchte, der sei auf die englischen Résumés verwiesen, die die Autoren den von ihnen verfassten Artikeln vorangestellt haben. Die Anordnung der Kapitel im Band folgt der Unterscheidung zwischen theoretischen Beiträgen und empirischen Fallstudien.

Was bleibt von kommunikativer Nähe und Distanz?

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