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3 Konzeption und Medium – und die Rolle der Diskurstraditionen

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Die zunehmende Digitalisierung und die globale Vernetzung führten in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur zur Diversifizierung der kommunikativen Praktiken und einer regelrechten Multimodalität der Kommunikationskanäle, vor allem seitdem die Technologien und Anwendungen des Web 2.01 die Interaktion zwischen Internetnutzern, Inhalten und Daten ermöglichten. Die Emergenz der sogenannten ‘Neuen Medien’ hatte auch die Erweiterung des Spektrums linguistischer Untersuchungsfelder und Fragestellungen zur Folge. Dadurch wurde unter anderem die Medienlinguistik auf den Plan gerufen, deren Fokus sich programmatisch auf die Untersuchung medialer Aspekte der sprachlichen Kommunikation richtet.2 Im Rahmen medienlinguistischer Beschreibungen computervermittelter Kommunikation (CMC) erfolgte eine kritische Auseinandersetzung mit etablierten varietätenlinguistischen Konzepten, wobei dem Nähe/Distanz-Modell ein zweifaches Schicksal widerfuhr. Einerseits wurde es für die Untersuchung der CMC vielfach herangezogen. Andererseits führte aber gerade der Begriff des ‘Mediums’ (cf. Abbildung 1), den Koch und Oesterreicher anknüpfend an Söll (1985) ausschließlich auf die materielle Realisierung sprachlicher Äußerungen, mit einer strikten Dichotomie zwischen Graphie und Phonie, bezogen (Koch/Oesterreicher 1985, 17 und 2011, 3), zu teils heftiger Kritik. Der dabei erhobene Vorwurf der ‘Medienvergessenheit’ oder ‘Medienindifferenz’ (cf. auch Bittner 2003; Loos 2012) erscheint jedoch in zweierlei Hinsicht ungerechtfertigt: Denn zum einen griff die linguistische Internetforschung mit Koch/Oesterreicher (1985) auf einen Ansatz zurück, der „noch vor dem Siegeszug der Neuen Medien konzipiert wurde“ (Androutsopoulos 2007, 79) und dessen Instrumentarium diese somit noch nicht berücksichtigen konnte (cf. hierzu auch Dürscheid 2016, 357).3 Zum anderen haben Koch und Oesterreicher die Diversifizierung der Medienlandschaft in der überarbeiteten Auflage der Gesprochenen Sprache in der Romania (2011) sehr wohl zur Kenntnis genommen und haben auch begründet, inwiefern ihr Ansatz sich für die linguistische Beschreibung der CMC eignet. Entscheidend ist dabei, dass ihr dichotomes Konzept des ‘Mediums’, das sich ausschließlich auf die Realisierung sprachlicher Kommunikation im phonischen oder graphischen Kode bezieht, nicht mit den technischen Dispositiven, über die kommuniziert wird, verwechselt werden darf (cf. hierzu auch DÜRSCHEID i.d.B.):4

Die völlig neuen Kommunikationsformen, die sich vor unseren Augen im Bereich der computergestützten Medien inzwischen eingebürgert haben (E-mail, SMS, chat etc.), sind längst auch auf das Interesse der Linguisten gestoßen. Man könnte nun auf den Gedanken kommen, dass das Schema in Abb. 5 [cf. hier Abbildung 1], das allein die Medien Phonie und Graphie berücksichtigt, nicht ausreicht, die Komplexität dieser neuesten medialen Entwicklungen zu erfassen. Einer solchen Einschätzung ist jedoch entschieden zu widersprechen. Es muss nämlich klar getrennt werden zwischen ‘Medien’ als physikalischen Manifestationen, die bestimmte sensorische Modalitäten ansprechen (Phonie → akustisch, Graphie → visuell), und ‘technischen’ Speicher- und Übertragungsmedien, wie Telephon, Internet etc. […]. Selbst die neuesten Entwicklungen in der Elektronik bei Speicherung und Übertragung bauen im sensorischen Bereich letztlich immer nur auf dem akustischen Prinzip der Phonie oder auf dem visuellen Prinzip der Graphie auf. Es können daher selbstverständlich auch diese neusten Kommunikationsformen und Diskurstraditionen mit unseren anthropologisch fundierten Kategorien erfasst werden. Der chat ist sogar eines der schönsten Beispiele dafür, dass im graphischen Medium eine relative, allerdings auch in diesem Falle noch limitierte Annäherung an dialogische, spontane Nähesprachlichkeit möglich ist. (Koch/Oesterreicher 2011, 12–14)

Nichtsdestoweniger argumentiert die aktuelle Koch/Oesterreicher-Rezeption, dass die Spezifik der Zeichenprozessierung in neuen Kommunikationsformen (z.B. Chat Instant Messaging) nicht allein auf konzeptioneller Ebene, durch den Grad der Formalität (‘Distanz’) oder Informalität (‘Nähe’) des sprachlichen Handelns, erklärt werden könne. Vielmehr sei das Medium, im Sinne des Kommunikationskanals, mit all seinen physischen Voraussetzungen selbst schon ein wichtiger Aspekt der – bei Koch/Oesterreicher als außersprachliche Parameter zur Bestimmung des Nähe/Distanz-Profils einer sprachlichen Äußerung dienenden – „Kommunikationsbedingungen“, welche den sprachlichen Duktus und auch den Einsatz von nicht-sprachlichen Ausdrucksmitteln, ja überhaupt die Spezifik der Bedeutungskonstitution, determinierten (cf. Schneider 2016).

Müssen also die technischen Dispositive in das von Koch und Oesterreicher vorgeschlagene Inventar der „Kommunikationsbedingungen“ aufgenommen werden, um eine adäquate linguistische Beschreibung ‘neuer’, internetbasierter Formen der (medialen) Schriftlichkeit zu ermöglichen? Und inwiefern wäre es dann – nach der Integration des ‘Medialen’ in die außersprachlichen Parameter von Nähe und Distanz – überhaupt noch nötig oder sinnvoll, die von Koch und Oesterreicher verteidigte Unterscheidung zwischen ‘Medium’ (Phonie/Graphie) und ‘Konzeption’ (Nähe/Distanz) aufrechtzuerhalten (Dürscheid 2003; Kailuweit 2009; Albert 2013; Schneider 2016; Franko 2019; BARBERIO/INGROSSO und HAKULINEN/LARJAVAARA i.d.B)?

Trotz der tiefgreifenden Veränderungen, zu denen medientechnische Innovationen in den letzten Jahren geführt haben und die es selbstverständlich linguistisch zu beschreiben gilt,5 schließen wir uns der oben zitierten Auffassung von Koch/Oesterreicher (2011, 14) an, dass das universelle Nähe/Distanz-Modell auch den neuen kommunikativen Praktiken gerecht wird. Es ist nämlich zunächst einmal wichtig, sich bewusst zu machen, dass das von Koch und Oesterreicher verfolgte Erkenntnisinteresse stets ein genuin linguistisches war. Wenn die Autoren also in ihrem universellen Modell die materielle Realisierung (das ‘Medium’) analytisch von den außersprachlichen Bedingungen der Variation getrennt haben, dann taten sie dies, um den Blick zu öffnen für die anthropologischen, pragmatisch-kommunikativen Voraussetzungen der „Nicht-Einförmigkeit“ der menschlichen Sprechtätigkeit. Das von Lyons (1981) formulierte Prinzip der medium transferability, auf das Koch und Oesterreicher sich beriefen, gilt in dieser analytisch-abstraktiven, auf die semiotische Qualität sprachlicher Zeichen gerichteten Perspektive in der Tat ausnahmslos: Denn sprachliche Zeichen können vom graphischen ins phonische und vom phonischen ins graphische Medium übertragen werden, ohne dabei etwas von ihrer Bedeutungshaftigkeit einzubüßen. Die eigentliche, funktionale Basis der sprachlichen Variation – und besonders der Variation zwischen (konzeptionell) gesprochener und (konzeptionell) geschriebener Sprache – kann also nicht einfach nur die materielle Realisierung des signifiant sein (zumal dann logisch gar keine phonische Realisierung distanzsprachlicher Strukturen und keine graphische Realisierung nähesprachlicher Strukturen möglich sein dürfte). Vielmehr muss das Wesen der konzeptionellen Variation pragmatisch-kommunikativ, durch die situativ relevanten außersprachlichen Bedingungen des Sprechens, erklärt werden – so die Essenz der Argumentation von Koch und Oesterreicher.6

Selig (2017, 119–123) betont nun allerdings zu Recht, dass das Prinzip der medium transferability zwar gilt, solange man lediglich das universell-typologische Ziel der – sozusagen medienbereinigten – Inventarisierung unterschiedlicher Versprachlichungsstrategien zwischen den Polen von kommunikativer Nähe und Distanz verfolgt. Bezeichnenderweise wird das Lyons’sche Prinzip jedoch außer Kraft gesetzt, wenn es um die historisch konkretisierten, im kommunikativen Haushalt einer Gesellschaft funktionalisierten kommunikativen Praktiken (Luckmann 1997; 2008) und das damit verbundene elokutionelle Wissen geht, das die Sprechenden bei der Produktion individueller Diskurse ins Werk setzen. So ist etwa ein Gesprächsprotokoll (als graphisch niedergelegtes Produkt) offenkundig nicht dasselbe wie das zugrundeliegende, originale Gespräch (als phonisch realisierter Prozess). Die medium transferability greift also dann nicht mehr, wenn es gilt, sprachliche Handlungen in ihrer diskurstraditionellen Pragmatik zu begreifen. Peter Koch hat sich zu ebendiesem Punkt bereits im Jahr 1997 geäußert:

Es hat sich als sinnvoll erwiesen, bei Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu unterscheiden zwischen dem medialen Aspekt (phonisches vs. graphisches Medium) und dem konzeptionellen Aspekt (kommunikative Nähe vs. Distanz). Bei genauerer Betrachtung stellt man nun fest, daß sowohl das Medium als auch die Konzeption – beides auf seine Weise – auf diskurstraditioneller Ebene wichtig ist.

So kann man sagen, daß jede Diskurstradition ein bestimmtes mediales ‘Profil’ hat: z.B. small talk (phonisch); Gesetzestext (graphisch); wissenschaftlicher Vortrag (graphisch fixiert, dann durch Vorlesen phonisch realisiert) usw. Selbstverständlich ist jede Diskurstradition auch grundsätzlich konzeptionell festgelegt, d.h. man kann ihr einen Ort auf dem Nähe-Distanz-Kontinuum zuweisen, der prinzipiell unabhängig von ihrem medialen Profil ist. (Koch 1997a, 56s.)

Die Unterscheidung zwischen Konzeption und Medium ist also für Koch und Oesterreicher wichtig, um auf der universellen Ebene der nicht historisch konkretisierten menschlichen Sprechtätigkeit herauszustellen, in welchem formal-konzeptionellen (varietätenlinguistischen) Spektrum sich Versprachlichungsstrategien in Abhängigkeit von den außersprachlichen Nähe/Distanz-Parametern – den situativ-pragmatischen Voraussetzungen der „Nicht-Einförmigkeit“ des Sprechens – bewegen können. Die konzeptionelle Variation ist für die Autoren somit wesensmäßig kommunikativ-pragmatisch und nicht medial begründet. Auf der historischen Ebene der Diskurstraditionen (und natürlich auf der Ebene der Einzeldiskurse) gehen Konzeption und Medium aber spezifische, in der gesellschaftlichen Kommunikationspraxis konventionalisierte Verbindungen ein, die von normativer Relevanz und historisch wandelbar sind (Koch 1997a; Winter-Froemel 2020). Und genau hier, auf der Ebene der Diskurstraditionen, haben unseres Erachtens die medialen Dispositive ihren Platz, denn sie sind – funktional – mit bestimmten kommunikativen Praktiken und – formal – mit prototypischen diskurstraditionellen Ausgestaltungen assoziiert. Deshalb legen sie auch bestimmte konzeptionelle Profile und (schreib)semiotische Strategien nahe, ohne diese jedoch den Medienbenutzern aufzuzwingen (cf. dazu auch SELIG/SCHMIDT-RIESE i.d.B.). Bestimmte kommunikative Stile oder Haltungen sind also auf diskurstraditioneller Ebene konventionell mit bestimmten medialen Dispositiven assoziiert (und vice versa); diese konzeptionell relevanten Haltungen werden durch die Medien aber ebenso wenig determiniert, wie die oben angesprochene Gesprächssituation mit guten Freunden im Café zwangsläufig zu einem ausgelassenen, konzeptionell nähesprachlich gestalteten Smalltalk führt. Und so können eben auch E-Mails, WhatsApp-Nachrichten oder in Blogs geführte Diskussionen – prinzipiell medienunabhängig – zwischen den Polen der Nähe- und Distanzsprachlichkeit variieren.

Wenn nun beispielsweise HAKULINEN/LARJAVAARA (i.d.B.) zu dem Ergebnis kommen, dass das Nähe/Distanz-Modell nicht dazu geeignet sei zu erklären, weshalb sich Ratsuchende in einem juristischen Expertenblog stärker nähesprachlicher Ausdrucksverfahren bedienen, als sie dies vermutlich in einer traditionellen Briefkorrespondenz tun würden (die Autorinnen gehen davon aus, dass das Nähe/Distanz-Modell aufgrund bestimmter, das technische Dispositiv der Kommunikation nicht berücksichtigender Parameter ein festes konzeptionelles Profil für alle Exemplare einer Diskurstradition erwarten ließe), dann könnte man dem entgegenhalten, dass es in der digitalen Schriftlichkeit – die prinzipiell mit geringeren Formalitätsanforderungen assoziiert ist als die traditionelle, in der Schule erworbene Papierschriftlichkeit (cf. Dürscheid/Frick 2016, v.a. 109–129) – zu einem konzeptionellen Wandel der Diskurstradition ‘Beratungskorrespondenz’ kommt. Dieser Wandel wird zwar in der Tat durch das mediale Dispositiv und die damit qua gesellschaftlicher Konvention assoziierten Formalitätsanforderungen begünstigt, er wird dadurch aber nicht erzwungen (er ist also in letzter, logischer Instanz nicht ‘medial bedingt’). Zweifelsohne ist der Medienwandel unter diesem Aspekt von potentiell großer sprachhistorischer Bedeutung, denn über kurz oder lang kann die im Internet praktizierte Informalisierung des sprachlichen Kommunikationsverhaltens zu weitreichenden Veränderungen im einzelsprachlichen Varietätengefüge führen (Stichwort ‘Re-standardisierung’), und stärker nähesprachliche Ausdrucksverfahren, die über die Online-Schriftlichkeit Verbreitung finden, könnten über kurz oder lang in die Schriftnorm europäischer Standardsprachen Einzug halten (zumal das Schreiben heute eben nicht mehr nur eine Sache von Eliten ist, sondern im Internet eine umfassende Demokratisierung und ‘De-standardisierung’ oder ‘Vermündlichung’ erfahren hat; cf. Krefeld 2015, 271). All diese Veränderungen lassen sich aber, wie wir meinen, mit dem Konzept der Diskurstraditionen erklären, denn die historische Ebene der sozial funktionalisierten Kommunikationsroutinen ermöglicht die Integration der medialen Dispositive, welche ihrerseits mit bestimmten Sprachhandlungstypen, Kommunikationshaltungen, konzeptionellen Profilen und schreibsemiotischen Strategien assoziiert sind.

Dass die von Koch und Oesterreicher auf der universellen Ebene vollzogene Trennung von Konzeption und Medium gleichwohl auch bei der linguistischen Untersuchung neuer Kommunikationsformen sinnvoll ist, zeigt in diesem Band der Beitrag von CALARESU/PALERMO, die argumentieren, dass es gerade die analytische Entzerrung der beiden Begriffe erlaubt, den zentralen Wesenszug der (prototypischen) digitalen Schriftlichkeit und ihre Differenzqualität zu traditionellen Kommunikationspraktiken im Medium der Schrift zu erfassen, nämlich die Sichtbarkeit des diskursiven Prozesses im graphisch materialisierten Produkt („la visibilità all’interno del testo del suo stesso processo di costruzione“). Unter diesem Aspekt erinnert die digitale Schriftlichkeit an frühe Ausbauphasen der Sprachgeschichte, in denen nähesprachliche Strategien noch stärker im graphischen Medium dokumentiert sind, oder an Texte von ungeübten Schreibern, die den Normen distanzsprachlicher Diskurstraditionen nicht hinreichend gerecht werden. Zwar erlauben es aktuelle medienlinguistische Konzepte, die medienspezifischen semiotischen Verfahren – die fraglos ein integraler Bestandteil digitaler kommunikativer Praktiken sind – ungleich genauer zu beschreiben, als dies unter Beschränkung auf die (gleichwohl offene) Liste der von Koch und Oesterreicher genannten außersprachlichen Parameter möglich erscheint (cf. CALARESU/PALERMO i.d.B.). Funktional sind aber die medienspezifischen Verfahren der Zeichenprozessierung (seien sie nun sprachlicher oder nicht-sprachlicher Natur) nur innerhalb des begrifflichen Rahmens zu verstehen, der im universellen Nähe/Distanz-Kontinuum (hier freilich nur mit Bezug auf Sprachliches!) durch die situativen Kommunikationsbedingungen repräsentiert wird. Die medienspezifischen semiotischen Verfahren sind also konzeptionell zu begreifen, denn sie bedienen in ihrer Eigenart die vielfach abgestuften „Sprechhaltungen und -strategien“, die zwar prinzipiell universell und somit medienunabhängig sind, die aber auf der historischen Ebene – im Rahmen konventionalisierter kommunikativer Praktiken – mit medienspezifischen Gestaltungsmitteln umgesetzt werden können.

Was bleibt von kommunikativer Nähe und Distanz?

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