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2. Kulturelle Nachhaltigkeit

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Nachhaltigkeit ist ein normatives Konzept, das auf den sorgsamen und gerechten Umgang mit Ressourcen der Erde und folglich auf eine Balance von ökologischer Schonung, sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlichem Wachstum abzielt. Neben diesen drei ‚Säulen‘ der Nachhaltigkeit wird meist vergessen, dass der Begriff Nachhaltigkeit von Anfang an auch eine wichtige kulturelle Dimension hatte. Was aber ist genau der Beitrag, den Kultur und Kulturwissenschaft zur Nachhaltigkeitsdebatte leisten können? Wenn man davon ausgeht, dass die Intervention der Kulturwissenschaft die Nachhaltigkeitsdebatte verändert, wie sie in ökologischen, ökonomischen und sozialen Kontexten geführt wird, welche neuen Sichtweisen können erbracht werden? Wie kann sie im inter- und transdisziplinären Dialog mit anderen Fächern der Environmental Humanities/der Umweltgeisteswissenschaften (Heise et al. 2017) – etwa Literaturwissenschaft, Theologie, Philosophie oder Kunstwissenschaft – in Nachhaltigkeitsdebatten eine wichtige Rolle spielen? Die Klärung dieser Fragen liefert die Grundlagen für Transformationen zur Nachhaltigkeit und insbesondere für die Entwicklung neuer transformativer Bildungskonzepte samt transdisziplinärer Ansätze und Methoden im Bereich nachhaltiger Entwicklung und ermöglicht innovative Überlegungen zu einer zukunftsorientierten Neugestaltung der Mensch-Natur/Umwelt-Beziehung.

Zweifelsohne beeinflussen die eingangs diskutierten engeren und weiteren Verständnisse des komplexen Begriffs ‚Kultur‘, was man unter ‚kultureller Nachhaltigkeit‘ versteht, welche Rolle und Bedeutung man der Kultur und Kulturwissenschaft zumisst. Während ökologische, ökonomische und soziale Aspekte von Nachhaltigkeit seit dem Brundtland-Bericht von 1987 in öffentlichen und politischen Debatten als Themen präsent und mittlerweile auch in den Lehrplänen europäischer Universitäten und Schulen verankert sind, wird von kulturellen Dimensionen von Nachhaltigkeit bislang zu selten und meist nur im Zusammenhang mit sozialen Aspekten von Nachhaltigkeit im Sinne von ‚kulturellem Erbe‘, ‚kultureller Diversität‘ oder ‚regionaler kultureller Vielfalt‘ gesprochen. Erfreulicherweise reflektieren jedoch internationale Nachhaltigkeitsdebatten in den letzten Jahren zunehmend die Funktion von Kultur im Sinne eines weiter gefassten Begriffs. Während die von der UNESCO organisierte Intergovernmental Conference on Cultural Policies for Development in Stockholm (UNESCO 1998b), aber auch der UNESCO and UNEP 2002 Johannesburg Roundtable on Cultural Diversity and Biodiversity (UNEP 2003) sowie der Beschluss des Johannesburg Summit on Sustainable Development für eine UN Decade of Education for Sustainable Development (UNESCO 2002) Anregungen gaben und sich jedoch auf Themen wie Respekt für kulturelle Diversität und Kreativität konzentrierten (UNESCO 1998a, 13–14; UNESCO 1998b, 93–104; UNEP 2003), wurde die umfassende Bedeutung der kulturellen Dimension von Nachhaltigkeit erst durch die Hanghzou Declaration der UNESCO anerkannt: Sie erklärte die Absicht, die Kultur ins Zentrum der Politik nachhaltiger Entwicklung zu stellen (UNESCO 2013). Zwar hätten die korrespondierenden UN-Resolutionen hinsichtlich der Rolle von Kultur konkreter ausfallen und früher publiziert werden können (65/166, 2010; 66/208, 2011; 68/223, 2013; 69/230, 2014; 70/214, 2015; vgl. Gerber 2019), aber immerhin proklamiert die 2015 verabschiedete UN-Agenda 2030 Sustainable Development Goals (SDGs = Ziele für nachhaltige Entwicklung), darunter einige Ziele, die sich direkt auf Kultur in einem weiteren Sinne beziehen, etwa hochwertige Bildung und nachhaltige (auch künstlerische) Gestaltung von Städten.

Nicht nur politische global players, auch nationale Politiker*innen plädieren jetzt immer häufiger dafür, Kultur nicht nur als eine vierte Säule von Nachhaltigkeit, sondern vielmehr als den allumfassenden Horizont für jegliche nachhaltige Entwicklung zu verstehen. Der Schweizerische Bundesrat, um ein Beispiel zu geben, unterstrich in seiner Kulturbotschaft 2016–2020, dass politische Strategien bei der Förderung nachhaltiger Entwicklung deutlich stärker auf die Aspekte der Kultur und Kreativität ausgerichtet werden müssen.4 Nur durch das Einbinden von Kultur, so die Einsicht, kann der Wandel zu einer nachhaltigen Gesellschaft beschleunigt werden. Dass gerade die Kulturpolitik eine maßgeblichere Rolle bei der Erreichung nachhaltiger Entwicklung spielen sollte, indem sie kulturelle Praktiken und Rechte bewahren hilft, darauf hinarbeitet, dass kulturelle Organisationen und Industrien grüner werden, sich stärker an der Bewusstmachung in Sachen Nachhaltigkeit und der Prävention von Klimawandel beteiligt und schließlich auch zum Handeln und zur Änderung des Lebenswandels im Sinne der nachhaltigen Entwicklung auffordert – das fordern Nancy Duxbury, Anita Kangas und Christiaan De Beukelaer (2017, 214).

Die oben beschriebene Kritik am Nachhaltigkeitsbegriff ist der Interventionspunkt für die Kulturwissenschaft, die auf das kulturelle Defizit des Nachhaltigkeitskonzepts aufmerksam macht (vgl. z.B. LeMenager & Foote 2012; Meireis & Rippl 2019). Es gibt eine Reihe von Gründen, weshalb die Kulturwissenschaft in Nachhaltigkeitsdebatten unverzichtbar ist. Erstens lanciert sie die unerlässliche Diskussion darüber, welchen Typus einer nachhaltigen Gesellschaft oder Weltgemeinschaft man schaffen möchte (Johns-Putra et al. 2017, 4) und welche moralischen, ethischen und sozialen Optionen bestehen, um die ausgehandelten Nachhaltigkeitsziele (etwa soziale Gerechtigkeit, Rückbau aggressiver Formen des Kapitalismus, ausgeglichenes Verhältnis zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden) zu erreichen. Weil der naturwissenschaftlich-technologische Fokus die Nachhaltigkeitsforschung lange dominierte, wurden Fragen zu Machtgefällen, sozio-politischen Unterschieden, symbolischen Universen und kulturellen Werten kaum berücksichtigt. Nach Meinung von Forscher*innen wie Stacy Alaimo liegt dies daran, dass die Nachhaltigkeitsforschung auf einer Epistemologie beruht, die das Erkenntnissubjekt vom Erkenntnisobjekt trennt, d.h. auf einer Subjekt-Objekt-Dichotomie beruht. Solch traditionelle Modelle wissenschaftlicher Objektivität und Autorität zu hinterfragen, ist eine zweite zentrale Aufgabe der Kultur- und Geisteswissenschaften. Alaimo spricht in diesem Zusammenhang von „posthumanities“ (Alaimo 2012, 562) und knüpft damit an den ‚material turn‘ und Überlegungen von Rosi Braidotti an, die das Subjekt/menschliche Akteure nicht nur in soziale, sondern immer auch in nicht-menschliche Netzwerke eingebettet sieht (Braidotti 2006). Eine dritte Funktion kulturwissenschaftlicher Nachhaltigkeitsforschung bezieht sich auf die Überwindung einer reduktiven, auf die menschliche Sphäre bezogenen Nachhaltigkeitsdebatte, welche die nicht-menschliche Welt von ihren Überlegungen ausschließt (vgl. Alaimo 2012). Zudem hilft die ausgeprägte hermeneutische Kompetenz der Kulturwissenschaft hinsichtlich der kulturübergreifenden Bedeutung von Schlüsselbegriffen dabei, die Tradition und Tradierung von Wissensbeständen, Erkenntnis- und Wahrnehmungsmustern zu analysieren.

Wie unterschiedlich kulturelle Nachhaltigkeit heute verstanden wird, zeigen mehrere Publikationen. Ein Abschlussbericht des europäischen Forschungsnetzwerks (COST – European Cooperation in Science and Technology, Dessein et al. 2015) weist ebenso wie ein wegweisender Aufsatz, den Joost Dessein und Katriina Soini 2016 vorlegten, nach, dass Kultur ein wichtiger Faktor in Bemühungen um nachhaltige Entwicklung ist, da Kultur ökologische, soziale und ökonomische Aspekte von Nachhaltigkeit integriert. Besonders aufschlussreich ist auch die von Katriina Soini und Inger Birkeland vorgelegte Analyse verschiedener Verwendungen des Begriffs ‚kulturelle Nachhaltigkeit‘ in wissenschaftlichen Publikationen (Soini & Birkeland 2014; Banse et al. 2011), weil sie die Wichtigkeit kultureller Werte in den jüngsten Nachhaltigkeitsdebatten ins Zentrum rückt (Soini & Birkeland 2014, 214) und aufzeigt, dass kulturelle Nachhaltigkeit häufig sehr unterschiedlich verwendet wird, „from both narrow (culture as art and heritage) to broad (culture as a way of life; network of meanings)“ (Soini & Birkeland 2014, 218). Kultur wird zuweilen als Instrument aufgefasst, um ökonomische, soziale und ökologische Nachhaltigkeit zu erreichen (Soini & Birkeland 2014, 220); andere Forscher*innen verstehen kulturelle Nachhaltigkeit neben der ökonomischen, ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit als vierte Säule der Nachhaltigkeit (vgl. Hawkes 2001; Krainer & Trattnigg 2007; Krainer & Heintel 2012). Für Hildegard Kurt und Bernd Wagner umfasst kulturelle Nachhaltigkeit „gleichberechtigt zu den drei Säulen Ökonomie, Ökologie, Soziales auch Kultur als quer liegende Dimension“ (2002, 13) und hat integrative Wirkung. Das heisst, dass kulturelle Nachhaltigkeit als Querschnittsthema der ökonomischen, ökologischen und sozialen Komponenten von Nachhaltigkeit verstanden wird, weil jede Art der Thematisierung immer kulturell vermittelt ist, d.h. auf bestimmten Wahrnehmungsmustern, Erkenntnismethoden, Wissensbeständen und Werten beruht. In diesem Verständnis ist Kultur nicht nur ein Instrument, sondern die notwendige Grundlage für die Erreichung nachhaltiger Entwicklungsziele, was schlussendlich zu einem neuen Paradigma in der Nachhaltigkeitsdebatte führt: „culture is considered in terms of a new, overarching concern or even a new paradigm in sustainable development thinking“ (Soini & Birkeland 2014, 221). Dieses neue Paradigma geht konsequent von der Naturzugehörigkeit des Menschen aus, was epistemologische Umorientierungen zur Folge hat. Hier liegt ein umfassender Kulturbegriff zugrunde, der nicht nur ‚kulturelle Vielfalt‘ und die Künste meint, sondern die ganze Lebensweise von Menschen im Netzwerk und Austausch mit ihrer Umwelt, ihrem Gebrauch semiotischer Systeme und Medien sowie ihre Konstruktionen von Welt und Werten. In diesem Sinne verstehen auch Torsten Meireis und Gabriele Rippl (2019) Kultur und schlagen vor, die kulturelle Dimension von Nachhaltigkeit nicht als vierte Nachhaltigkeitssäule aufzufassen, sondern Kultur als den alle anderen Dimensionen umfassenden Horizont zu verstehen. Gemäss Meireis und Rippl ist Nachhaltigkeit ohne Rückbezug auf „inner dimensions of sustainability“ (Horlings 2015), d.h. auf eine Wertedebatte und -orientierung, nicht zu denken, und Kultur damit der zentrale Faktor, wie Werte gebildet und vermittelt werden.

Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren

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