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Carmen Sippl & Erwin Rauscher Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren: transformativ bilden im Anthropozän

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Nur alle Menschen machen die Menschheit aus, nur alle Kräfte zusammengenommen die Welt. Diese sind unter sich oft im Widerstreit, und indem sie sich zu zerstören suchen, hält sie die Natur zusammen und bringt sie wieder hervor.

Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre1

Das Anthropozän ist Denkrahmen und Reflexionsbegriff für transformative Bildungsprozesse – denn es fordert dazu auf, in Hoch-/Schulen aktiv die Notwendigkeit einer zukunftsorientierten, nachhaltigen Neugestaltung der Mensch-Natur-Beziehung zu thematisieren. Kreative kulturelle Perspektiven, Praktiken, Produkte spielen dabei eine zentrale Rolle. Wie lassen sich ‚Kultur‘ und ‚Nachhaltigkeit‘ zusammenführen? Welche Chancen bietet ‚kulturelle Nachhaltigkeit‘ als Bildungskonzept für die gesellschaftliche Transformation?2

Schule ist Wiege von Gesellschaft, nicht ihr Echo. „Was droben in den Wipfeln rauscht, | das wird hier unten ausgetauscht“3, ironisiert Christian Morgenstern und beschreibt metaphorisch eine Aufgabe von Schule als Sandkasten des Lebens. Wie lässt sich wissenschaftliche Erkenntnis zu schulischem Bekenntnis transformieren? Dieser Frage widmen sich die folgenden Beiträge, fokussiert in ihrer Vielfalt auf die Herausforderungen des Anthropozäns, nach einem ersten interdisziplinären Sammelband als Ausgangspunkt (Sippl, Rauscher & Scheuch 2020) insbesondere ausgerichtet auf die kulturellen Kontexte: Denn Kultur ist die anthropogene Transformation von Natur als Aufgabe in der Gegenwart, Zukunft zu gestalten, als schulpädagogisches Stimulans, Zukunftsfähigkeit als Bildungsverantwortung zu deklinieren.

Die Fakten, als empirische Daten von den Erdsystemwissenschaften zur Verfügung gestellt (vgl. IPCC 2021), machen die Wirkmächtigkeit des Menschen als geologischer Faktor sichtbar. Das Anthropozän, zunächst von dem Atmosphärenchemiker Paul Crutzen als provozierender Fachbegriff zur Bezeichnung eines neuen Erdzeitalters in die Diskussion gebracht (vgl. Leinfelder 2012), hat sich mit einer Dynamik vergleichbar der ‚großen Beschleunigung‘ zu einem transdisziplinären Konzept entwickelt (vgl. Horn & Bergthaller 2019).

Seine simplistische Übersetzung als ‚Menschenzeitalter‘ (vgl. den Beitrag von Fritz Lošek in diesem Band) erweist sich als janusköpfig, könnte sie doch dazu verleiten, in an thropozentrischem Denken alles auf die Karte des technologischen Fortschritts zu setzen. Der globalen Herausforderung will die „Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ der Vereinten Nationen dagegen mit einer gesamtgesellschaftlichen „Transformation unserer Welt“4 begegnen, deren Ziel der Schutz und die Sicherung der menschlichen und nichtmenschlichen Lebensbedingungen im Anthropozän ist. Die technologische Entwicklung ist dabei ein Faktor von vielen, eingebunden in eine Voraussetzungskette von Wissen und Wissensvermittlung, um verantwortungsvolle Folgenabschätzung zu gewährleisten. Die Rede ist von „kühnen und transformativen Schritten, die dringend notwendig sind, um die Welt auf den Pfad der Nachhaltigkeit und der Widerstandsfähigkeit zu bringen“, wie es die Agenda 2030 formuliert. Die 17 Nachhaltigskeitsziele (Sustainable Development Goals, SDGs), die dafür gesteckt wurden, sind an den Dimensionen der Ökonomie, der Ökologie, des Sozialen ausgerichtet.

„Nachhaltigkeit ist eine Frage der Kultur“ (Krainer & Trattnig 2007; vgl. Sorgo 2011, Braun-Wanke & Wagner 2020), wurde jedoch schon vor der Verabschiedung der Resolution durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen 2015 deutlich gemacht. „Die Transformation ist der Ursprung des Kulturellen“, betont François Jullien (2017, 47; Hervorh. i. Orig.). Und weil der Klimawandel „in seiner Gesamtdynamik kein natürliches, sondern ein kulturelles Phänomen“ ist, „bedarf es eines kulturellen Perspektivenwechsels, durch den sich kollektive Lebensformen aus eigenem Antrieb ändern und so gesellschaftliche Transformationen in Gang bringen“ (Heidbrink 2010, 55). Die Transformation betrifft also insbesondere „Bildung als Schlüsselbereich für nachhaltige Entwicklung“5 und das damit verbundene Konzept transformativen Lernens (vgl. Singer-Brodowski & Taigel 2020). Denn Lernen und Lehren sind zentrale kulturelle Praktiken des Menschen.

Das Anthropozän als kulturelles Konzept richtet den Fokus auf den Menschen als „Teilnehmer an Netzwerken sehr unterschiedlicher Handlungsträger, die Pflanzen, Tiere, Landschaften, Ressourcen, Atmosphären und Dinge umfassen“ (Horn 2017, 9). Um in diesem Verständnis menschliches Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Interpretieren, Handeln neu zu orientieren und ökologisches Bewusstsein zu schaffen, braucht es Erfahrungsräume als Zukunftslabore, in denen Bildung als transformatives Geschehen kognitiv, emotional, sozial erfahren werden kann. Die Schulen und die Hochschulen stellen diese Erfahrungsräume als Zukunftslabore dar.

Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Das Anthropozän lernen und lehren“ der Pädagogischen Hochschule Niederösterreich (PH NÖ), gefördert von der Abteilung Wissenschaft und Forschung der NÖ Landesregierung6, hat sich die Frage gestellt, wie das für eine Neugestaltung der Mensch-Natur-Beziehung notwendige interdisziplinäre Denken und Wissen in aktiven Lernprozessen generiert, angeeignet, transformiert werden kann. Der Sammelband Das Anthropozän lernen und lehren (Sippl, Rauscher & Scheuch 2020) hat dafür in der Zusammenführung fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Perspektiven eine Vielzahl an Impulsen angeboten. Diese werden an der PH NÖ in der seminaristischen Arbeit mit Lehramtsstudierenden aufgegriffen und von diesen zu beispielhaften Lernszenarien ausgearbeitet, welche sie als Lehrende auf ihrem Berufsweg in die Schulen tragen.7

Bei diesem partizipativen Suchprozess wird deutlich, dass Faktenwissen individuell bedeutungsvoll werden muss, um ein Verstehen in Zusammenhängen und das Beschreiten der Brücke vom theoretischen Wissen zum praktischen Handeln zu ermöglichen. Für diesen Weg braucht es Transportmittel wie Visualisierungen, Metaphern, Narrative, die in eigenem Tun kreativ erdacht, erkundet, erfahren werden. Kultur- und medienpädagogischen Zugängen kommt bei transformativen Lernprozessen daher eine zentrale Rolle zu, so lautet eine wesentliche Erkenntnis dieses Projekts.

Wir haben eingeladen, zuerst bei einem Symposium8, dann in diesem Sammelband das transformative Potenzial kultureller Praktiken, Produkte, Perspektiven in Bildungsprozessen zu fokussieren. Ausgangspunkt dafür ist ein Verständnis von kultureller Nachhaltigkeit als Querschnittsthema, „weil jede Art der Thematisierung [von Nachhaltigkeit – C.S./E.R.] immer kulturell vermittelt wird, d.h. auf bestimmten Wahrnehmungsmustern, Erkenntnismethoden, Wissensbeständen und Werten beruht“ (Gabriele Rippl, in diesem Band, S. 38). Erkundet wurden die Bedeutung und die Möglichkeiten kultureller Nachhaltigkeit als Bildungskonzept für eine gesellschaftliche Transformation.

Das Symposium „Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren“ der Pädagogischen Hochschule Niederösterreich am 22./23. April 2021 musste pandemiebedingt im virtuellen Raum stattfinden, konnte sich dafür aber einer Anzahl von interessierten Teilnehmer*innen aus fünf Ländern öffnen, die das Fassungsvermögen des an der PH NÖ „Aequalitas“ benannten Auditorium maximum9 um ein Mehrfaches überstiegen hätte. Während die Keynotes von Willy Puchner, Gabriele Rippl, Berbeli Wanning, Reinhold Leinfelder und Kaspar H. Spinner zum Nachschauen und Nachhören zur Verfügung stehen10, versammelt der vorliegende Sammelband darüber hinaus die Beiträge aus den Workshops11 zum Nachlesen und Vertiefen, zur Auseinandersetzung und Anregung. Sie bieten innovative Impulse für den Theorie-Praxis-Transfer, ausgehend von Fragen nach der theoretischen Fundierung und den didaktischen Konzepten, der Gestaltung von Lehr-Lernprozessen und der Rolle von Literatur, Kunst und Ästhetik in einer Bildung für kulturelle Nachhaltigkeit. Auf diese Weise werden hier Modellprojekte „für eine kulturintegrierende Bildungspraxis im Sinne nachhaltiger Entwicklung“ vorgestellt bzw. in der Folge initiiert, die „Kultur als Perspektive“ (Holz 2016, 11) und in ihrer Brückenfunktion verwirklichen.

Theorie und Praxis werden daher in diesem Band bewusst nicht in getrennten Blöcken vorgestellt – vielmehr stellt jeder einzelne Beitrag einen Baustein bzw. ein Transportmittel für das Beschreiten jener Brücke zwischen Theorie und Praxis dar, im schulischen wie im hochschulischen Kontext und in die Gesellschaft hineinwirkend. Der erste Block „Words & Stories“ zeigt Wege auf aus deutschdidaktischer (Sabine Anselm, Christian Hoiß, Wilhelm Trampe), literaturdidaktischer (Felix Heizmann, Elisabeth Hollerweger, Anke Kramer, Thomas Kronschläger, Carmen Sippl), elementarpädagogischer (Simone Breit) Perspektive, mit besonderem Blick auf Genres der Kinderliteratur (Georg Huemer, Jana Mikota), den Sachunterricht der Primarstufe (Sabine Apfler, Bettina Mikas, Margarethe Kainig-Huber, Franz Vonwald) und die epistemischen Voraussetzungen (Tanja Obex, Madeleine Scherrer), deren kritische Reflexion erst den Blick für Alternativen öffnet. Diesem ersten Block zur Orientierung vorangestellt sind die grundlegenden Einblicke von Gabriele Rippl in die zentralen Konzepte kultureller Nachhaltigkeit und von Berbeli Wanning in die kulturökologische Literaturdidaktik. Sie plädieren nachdrücklich für die Reflexion der kulturellen Dimension von Nachhaltigkeit und ihre kreative Erkundung und imaginative Erprobung als wesentliche Impulse für die Transformation.

In den Einblicken vor dem zweiten Block, „Learning & Teaching“, geht Fritz Lošek dem ‚Ánthropos‘ des Anthropozäns begriffsgeschichtlich auf den Grund. Erwin Rauscher zeigt die zentrale Bildungsverantwortung der Schule für Zukunftsfähigkeit auf und legt erstmals Zielperspektiven für eine ‚Anthropozänkompetenz‘ als Diskussionsgrundlage vor. Der Fokus dieses Blocks liegt auf veränderten Lehr-Lernprozessen aus Sicht der Schulentwicklung (Uta Hauck-Thum, Michael Holzwieser, Micha Pallesche, Simon Probst), der Inklusion (Sabine Höflich), einer ethischen Didaktik (Jan Christoph Heiser, Tanja Prieler, Alexandria Krug, Jochen Laub, Christian Wiesner), der Mathematikdidaktik (Franziska Kirchhoff, Caroline Mölter, Christain Hoiß), der Fremdsprachendidaktik (Jasmin Peskoller), der Literaturdidaktik (Carmen Sippl) und der Bindungstheorie (Christian Wiesner, Michael Gebauer).

Dem dritten Block, der „Arts & Sciences“ zusammenführt, stehen als Einblicke diese zwei Perspektiven in interdisziplinärer Verflechtung und transversaler Praxis (im Sinne einer „Educational Ecology“, Bartosch 2021) voran. Reinhold Leinfelder stellt die „Biosphäre als Modell für die Technosphäre im Anthropozän“ vor und damit eine naturwissenschaftlich-faktenbasierte Metabolismus-Metapher, die den für eine Neugestaltung der Mensch-Natur-Beziehung notwendigen Perspektivenwechsel im Sinne kultureller Nachhaltigkeit fördert. Kaspar H. Spinner richtet den Blick auf die „ästhetische Erfahrung als Grundlage für Nachhaltigkeit“. An Beispielen aus Natur, Kunst und Literatur macht er die Ambivalenzen und Widersprüche deutlich, die sich beim Zusammenführen von Kultur und Nachhaltigkeit ergeben, und zeigt auf, wie sie insbesondere für fächerverbindenden Unterricht genutzt werden können. Wertvolle Impulse bieten die Beiträge zur Kunst (Katharina Anzengruber, Elke Zobl, Heidelinde Balzarek, Christina Schweiger), zur Musik (Hubert Gruber, Mike Rumpeltes) und zum Theater (Ingrid Krottendorfer, Lara Paschold) als Reflexions- und Experimentierräume für Zukunftsbildung und Nachhaltigkeit. Durch Partizipation wirkungsvoll zum Perspektivenwechsel anregend erweisen sich museumspädagogische Zugänge (Margarethe Kainig-Huber, Ramona Rieder, Tanja Seider).

Aleida Assmann macht in ihrem, diesen Band abschließenden, Beitrag deutlich, dass „Nachhaltigkeit […] als Schlüssel- und Oberbegriff sowohl für Natur wie Kultur verstanden werden“ kann. Welche „Parallelen zwischen ökologischer und kultureller Nachhaltigkeit“ bestehen und wie sie ineinandergreifen, erläutert sie durch einen kritischen Blick auf den Begriff und das Konzept ‚Nachhaltigkeit‘ im Kontext der sich wandelnden Medialität der Kultur. „Mithilfe des Begriffs ‚kulturelles Gedächtnis‘ untersuchen wir […] die medialen Bedingungen der Überlieferung und den Stoffwechsel von Erinnern und Vergessen innerhalb der Gesellschaften. Keine Kultur ohne kulturelles Gedächtnis.“ Vor diesem Hintergrund zeigt sich die Notwendigkeit inter- und transdisziplinärer Zusammenarbeit: „Globaler Wandel und planetarische Veränderungen machen gemeinsame Anstrengungen immer dringlicher.“ (Aleida Assmann, in diesem Band, S. 677, 682f.) Ihr Beitrag ist Ausblick und Coda für diesen Sammelband und sein Themenfeld, gleichzeitig Eröffnung, Auftakt, Impuls zum Weiterdenken des „Doing Future[s]“.

Gerahmt werden die drei Einblicke, die drei Blöcke und der Ausblick durch den künstlerischen Impuls des Bilderbuchkünstlers und Fotografen Willy Puchner.12 In seinem Bildessay, der diesen Band als Prolog eröffnet, stellt er seine „Welt der Natur“ vor, den er im Dialog als Epilog reflektiert. Nach hundert Folgen seiner Serie „Puchners Farbenlehre“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verrät er hier erstmals die „Farben des Anthropozäns“.

Eine Kurzinformation zu jedem Beitrag bieten die Abstracts am Ende dieses Bandes.

Dialektisch mag Kultur als Antithese von Natur dienen, anthropologisch ist jene verwoben in diese, seit es Menschen gibt. Gesellschaft, ihre Technik, ihre Künste, gründen in menschlicher Natur und prägen Kulturen der Menschengeschichte. Die Umwelt des Menschen als seine Wirwelt zur Aufgabe zu machen, prägt das Wesen von Schule vom Zielparagraphen des Schulwesens (SchOG §2) bis in jede Unterrichtsstunde. Denn Unterrichten ist auch Aufgabe, um Kultur in die Natur hineinzutragen. Nachhaltigkeit bewusst zu machen bedeutet „erhalten – nutzen – schützen – fördern – pflegen – erforschen – vermitteln – genießen – weiterentwickeln“13. Diesem menschlichen Ziel widmet sich dieser zweite Band: „Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren“ als Schul-Weg zur Futures Literacy.

Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren

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