Читать книгу Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren - Группа авторов - Страница 15

3. Zentrale Konzepte kultureller Nachhaltigkeit 3.1 Kulturökologie – kulturelle Ökologie – literarische Ökologie

Оглавление

Einen wegweisenden Beitrag zur Debatte um kulturelle Nachhaltigkeit hat Peter Finke mit seinem Konzept der ‚Kulturökologie‘ geliefert. Unter Verweis auf den Biologen Jakob von Uexküll versteht Finke Kultur als „ein Evolutionsprodukt der Natur“ und plädiert dafür, der Naturökologie die Kulturökologie an die Seite zu stellen. Anhand ökologischer Fragestellungen untersucht die Kulturökologie „Systeme im menschlich-kulturellen Raum“, indem sie „die Innenwelten des Menschen mit seinen kulturellen Umwelten in Beziehung setzt und hierbei von den in der Biologie […] erprobten Grundmustern ökologischen Denkens profitiert“ (Finke 1998, 294). Finkes Theorie kultureller Ökosysteme (1993 und 2006) beruht auf der Grundlage, dass bei der Analyse kultureller Handlungsfelder und Prozesse „Strukturen sichtbar werden, die den Binnenstrukturen und Außenbeziehungen von Ökosystemen auffällig ähneln und wahrscheinlich Relikte eines evolutionären Erbes sind, das die Kultur aus ihren Anfängen in der Natur bis heute mitgenommen und nur an der Oberfläche vielfach institutionell überformt hat.“ (Finke 1998, 295). Wichtige kulturelle Ökosysteme sind etwa die Literatur, die Kunst, die Architektur. Finke versteht diese zwar als Quellen kultureller Kreativität, die „der kulturellen Evolution nicht nur Ausdruck verleihen, sondern den Prozeß ihrer weiteren Entwicklung antreiben“ (Finke 1998, 295), er überträgt also Begriffe aus der Ökologie auf den kulturellen Bereich, „ohne jedoch“, wie Gabriele Dürbeck und Urte Stobbe richtig anmerken, „Hinweise auf eine spezifisch ökologische Interpretation von Kunstprodukten zu geben“ (2015, 12).

Hubert Zapf knüpft an Finkes Konzept von Kulturökologie, Gregory Batesons ‚ecology of the mind‘ (1972) und die Systemtheorie an und unterstreicht die enge Verzahnung von Kultur und Natur, macht aber darüber hinaus das ökologisch-systemische Denken für die Kultur- und Literaturwissenschaft fruchtbar (2002, 2008, 2016a, 2016b, 2019a, 2019b). Die von ihm entwickelten Konzepte der ‚kulturellen Ökologie‘ und ‚literarischen Ökologie‘ plädieren für eine enge Kollaboration von Natur-, Geistes- und Kulturwissenschaften, weil darin der Schlüssel für die Bewältigung von Umwelt- und ökologischen Problemen liege. Für Zapf sind Literatur, Kunst und andere Formen kultureller Kreativität wichtige symbolische Medien, um das Verhältnis zwischen Umwelt und Innenwelten stetig neu zu kalibrieren und so neue Optionen für die Zukunft zu schaffen. Denn Kunstwerke, Filme und Literatur – so Zapf – repräsentieren Natur-Kultur-Verhältnisse nicht nur, sie sind auch eine ökologische Kraft, die grössere kulturelle Systeme beeinflusst und so Kreativität, Innovation und Selbsterneuerung ermöglicht (vgl. Zapf 2008, 852). Kulturelle Produkte wie beispielsweise Klimawandelliteratur oder ökologische Utopien und Dystopien sind genauso wie guerilla gardening als gesellschaftliche Gegendiskurse zu verstehen, die ein Sensorium für gesellschaftliche Fehlentwicklungen bereitstellen und zur kritischen Reflexion einladen. Literatur etwa leistet „in ihrer ästhetisch-imaginativen Transformation von Wirklichkeit nicht nur einen unverzichtbaren Beitrag zu einem Diskurs, sondern stellt auch selbst eine nachhaltige Form kultureller Praxis dar“ (Zapf 2019b, 361). Zapf, ein Wegbereiter des Ecocriticism5 der ersten Stunde, arbeitet aus seiner kulturökologischen Perspektive verschiedene Bedeutungen der Literatur für den Nachhaltigkeitsdiskurs heraus und diskutiert, wie imaginative Texte zum einen Kritik an dominanten anthropozentrischen Narrativen üben und zum anderen „eine Form von regenerativer Energie in der Kultur“ sind, eine „Quelle erneuerbarer kreativer Energien für immer neue Generationen von Lesern“ (Zapf 2019b, 361), die „fehlgeleitete[] Werte, Konzepte und Ideologien, die in der Kultur- und Zivilisationsgeschichte zur Entstehung und Eskalation der ökologischen Krise beigetragen haben“, reflektiert und imaginativ aufarbeitet (Zapf 2019b, 363): „Dies gilt vor allem für die Trennung und radikale Entgegensetzung von Subjekt und Objekt, Geist und Körper, Kultur und Natur“ (Zapf 2019b, 363). Die Auflösung dieser fehlgeleiteten Dualismenbildung (Geist-Körper, Kultur-Natur) wird von der kulturökologischen Perspektive befördert, wobei in diesen Prozessen Formen der künstlerischen und literarischen Imagination eine besonders wichtige Rolle spielen. Das zukunftsfähige kreative Potenzial literarischer Texte liegt eben nicht nur in der inhaltlichen Auseinandersetzung mit Aspekten von Nachhaltigkeit, sondern darüber hinaus in ihrer eigenen „kreativen kulturellen Praxis“ (Zapf 2019b, 366). Literarische und andere künstlerische Auseinandersetzungen mit Kontinuität und Erneuerung, mit Zivilisationskritik und Zukunftsimagination sowie die ästhetische Transformation üblicher Geist-Körper- und Kultur-Natur-Dichotomien in komplexe, konnexive Vorstellungen der Wechselbeziehungen von Mensch und nicht-menschlicher Umwelt sind essenziell, da sie einen „Gegendiskurs zum linearen anthropozentrischen Fortschrittsnarrativ [bilden], das zu den Krisen der gesteigerten Moderne bis hin zur Weltrisikogesellschaft geführt hat“ (Zapf 2019b, 369; vgl. auch Buell 2005).

Ein Beispiel für kulturelle Nachhaltigkeit aus dem literarischen Bereich liefert die kanadische Autorin Margaret Atwood mit ihrer MaddAddam-Romantrilogie (2003, 2009, 2013). Letztere lotet mögliche zukünftige Lebensbedingungen in einer zerstörten Umwelt und unter einem korrupten, menschenverachtenden, totalitären sozio-politischen System aus. Sie erlaubt es Leser*innen, eine postpandemische Welt kognitiv, normativ und emotional zu erleben. Atwood beschreibt guerilla- und urban gardening-Projekte als nachhaltige Formen von Gartenbau und Landwirtschaft und als dringliche Optionen alternativer Lebensführung, die Respekt für Natur und Tiere miteinschließt und die Mensch-Natur-Beziehung, den Umweltschutz sowie alternative Formen der Ökonomie und Gemeinschaftsbildung zentral setzt. Sie lädt Leser*innen dazu ein, die eigene Lebensführung zu reflektieren und sich u.U. sogar in Nachhaltigkeitsprojekten und für nachhaltigere Lebensformen zu engagieren. Kulturelle Produkte haben folglich das Potenzial, einen wichtigen Beitrag zur Nachhaltigkeit zu leisten und zur Entwicklung einer neuen, ökologisch orientierten Ethik beizutragen, die den anthropozentrischen Fokus traditionell ausgerichteter Ethiken durch einen ersetzt, der die nicht-menschliche Welt, d.h. Natur und Tiere miteinschließt (s.u. 3.2; vgl. Rippl 2019a, 223–224; Zapf 2008, 854).

Kulturelle Nachhaltigkeit lässt sich auf besonders fruchtbare Weise nicht nur im Zusammenhang mit Literatur, sondern auch anhand anderer kultureller Produkte wie Kunstwerke, Filme, religiöse Narrative etc. diskutieren, da diese un-/ökologische Vorstellungen verhandeln, aber auch prägen können. Seit den 1970er-Jahren erfährt z.B. ökologisch orientierte bildende Kunst, häufig Eco-Art genannt, weltweit zunehmende Aufmerksamkeit (Weintraub 2015). Eco-Art macht auf verschiedene innovative Weisen, etwa über eine spezifische Themen-, Format- oder Materialwahl, auf die Dringlichkeit von Nachhaltigkeit aufmerksam (Kagan 2011 und 2019). Beispiele sind Robert Smithsons Installationen in Wüstenlandschaften oder George Steinmanns gesellschaftspolitisch relevante transdisziplinäre Installationen, die darauf abzielen, im Zeitalter des Anthropozäns Nachdenken und damit ethisches, nachhaltigeres Verhalten zu initiieren. Auch Eduardo Kacs ‚bio art‘, dessen biotechnologische Kunstpraktiken in Labor stattfinden, wo Bakterien und andere lebende Organismen verwendet und modifiziert werden, ist in unserem Zusammenhang zu nennen. In seinem Werk Natural History of the Enigma (2003–2008) verschmolz der Künstler seine eigene DNA mit den genetischen Komponenten einer Petunie und nannte das hybride Wesen ‚plantimal‘. Ein weiteres Beispiel ist Carsten Hoellers SOMA-Installation im Berliner Hamburger Bahnhof 2010 (cf. Hildebrandt 2011).

Interessanterweise lässt Atwood im zweiten Roman ihrer Trilogie, The Year of the Flood (2009), eine Künstlerin auftreten, Amanda Payne, die sich genau wie die oben genannten Gegenwartskünstler*innen der ‚bio/land art‘ verschrieben hat und monumentale Installationen aus Tierknochen oder vergifteten toten Tieren kreiert, die sie in der Form von riesigen Großbuchstaben zu Wörtern wie ‚KAPUTT‘ anordnet, mit Sirup übergießt, Insekten daraufsetzt und schließlich aus der Luft Fotos schießt, die dann in Galerien für reiche Kunstliebhaber*innen ausgestellt werden. Mit ihrer kryptischen, vergänglichen Bio-Schrift verbindet die Künstlerin Natur und Kultur aufs Engste und fasst mit dem Wort ‚KAPUTT‘ nicht nur die geschilderte postpandemische Lage des Planeten Erde zusammen, sondern verweist darüber hinaus auf die prekären sozialen und politischen Umstände. Indem Atwood ihren Leser*innen zahlreiche Beschreibungen nicht-menschlicher Natur präsentiert und darüber hinaus mit ihren Öko-Ekphrasen6 der ‚bio/land art‘ Amanda Paynes den Dualismus zwischen Natur und Kultur auflöst, trägt sie zu Nachhaltigkeit bei: Erstens präsentiert sie eine ganze Reihe von sehr unterschiedlichen Gefühlen und Meinungen, die ihre Figuren zu ökologischen Fragen an den Tag legen; zweitens implementiert ihre Romantrilogie ökologische Konzepte im sozialen Imaginären (s.u. 3.2), was den Leser*innen erlaubt, unterschiedliche Lebensstile fiktiv zu erleben; drittens präsentieren ihre Romane eine Form von Ethik, die es den Leser*innen ermöglicht, über ökologisch nachhaltiges Verhalten und Technologien nachzudenken. Kulturell nachhaltig sind Atwoods Romane aber auch deshalb, weil eine so berühmte Autorin wie Atwood durch die Preise, die ihre Werke erhalten, und aufgrund ihrer großen Präsenz in der Öffentlichkeit und den Massenmedien selbst für kulturelle Nachhaltigkeit sorgt.

Neben Romanen wie Atwoods The Year of the Flood oder Don DeLillos Underworld (1998), der sich mit der technisch-ökonomischen Globalisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auseinandersetzt und neben Abfalldeponien, Müllhalden, Ablagerungen von Giftmüll und der ‚waste art‘ der Künstlerin Klara Sax in langen Ekphrasen auch die Unterwelten des kulturell Verdrängten Amerikas beschreibt (vgl. Zapf 2019b, 373–374), dürften Science-Fiction-Filme wie James Camerons Avatar (2009) ebenfalls grossen Einfluss auf die Art und Weise haben, wie wir unseren Planeten Erde, die rasante Globalisierung, den Kampf um Ressourcen und unsere Beziehung zur nicht-menschlichen Natur denken. Sich mit solchen kulturellen Produkten auseinanderzusetzen heisst, sich auf abweichende Vorstellungen von einem guten Leben und einer nachhaltigen Zukunft einzulassen, ohne andere Sichtweisen vorschnell abzutun, sondern sich der Komplexität unserer Welt zu stellen. Im Sinne einer kulturellen und literarischen Ökologie lässt sich festhalten, dass die kulturwissenschaftliche Nachhaltigkeitsforschung Visionen möglichen Handelns und Erlebens analysiert, wie sie besonders im fiktionalen Bereich, aber auch in anderen Narrativen zu finden sind, wo durch kreatives Experimentieren eine kulturelle Erneuerung der Gesellschaft ständig antizipiert wird und Kontinuität und Innovation austariert werden.

Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren

Подняться наверх