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NIKOLAS JASPERT: BUSSE UND APOKALYPSE IN ZEITEN DER CORONA-KRISE – UND IM MITTELALTER

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Wird die Menschheit durch die gegenwärtige Pandemie für ihr Verhalten bestraft? Ernten wir das, was wir gesät haben? Immer lauter werden Stimmen vernehmbar, die einen Kausalzusammenhang zwischen dem Handeln der Menschen in den letzten Jahren und unserem gegenwärtigen, globalen Leid zu erkennen glauben. Apokalyptiker erleben ihre Sternstunde! Für sie ist die Corona-Krise nur ein Anzeichen des kommenden Endes der Menschheit: Die Natur schlüge zurück, sie räche sich für die Übergriffe des Menschen. Der Homo sapiens sei die eigentliche Krankheit der Erde – so sieht es etwa ein kursierender, bitter-satirischer Witz: „Treffen sich zwei Planeten im All. Sagt der eine zum anderen: ‚Wie geht’s?‘. Der andere: ‚Nicht so gut: Ich habe Menschen.‘ Darauf der erste: ‚Keine Sorge, das geht vorbei.‘“

Wer die Menschheit hier zur Rechenschaft ziehen wird, das bleibt vorerst offen. In stark säkularisierten Gesellschaften wie der deutschen wird diese Rolle immer seltener Gott, dafür immer häufiger der Natur zugeschrieben. Sie hat angeblich die Handlungsmacht, um Übeltäter ihrer gerechten Strafe zuzuführen – die moderne Vergottung der Natur gewissermaßen.

Im Mittelalter hingegen gab es hierüber keinen Zweifel: Allein Gott kam diese Aufgabe zu, und vollstreckt wurde sie von seinen Amtsträgern auf Erden: den Herrschern und ihren Dienstleuten. Doch wann erwartete den Menschen die gerechte Strafe? Noch zu Lebzeiten oder erst nach dem Tod? Und glaubte er, durch sein Verhalten das Schicksal der Menschheit oder auch sein eigenes Los beeinflussen zu können?


Christus führt als apokalyptischer Weltenrichter christliche Ritter in den Kampf – British Library, Royal MS 19 B XV, Queen Mary Apocalypse (frühes 14. Jahrhundert).

Mit diesen Fragen beschäftige ich mich genau in diesen Tagen, während um uns herum die Epidemie wütet. Genauer: Ich erforsche, was im Mittelalter Teilnehmer an den Kreuzzügen zum Aufbruch veranlasste. Neben vielen anderen Motiven – dem Wunsch, die biblischen Stätten zu sehen, Mitchristen zu unterstützen, dem jeweiligen Herrscher Gefolgschaft zu leisten, dem Papst und den Kirchenleuten zu gehorchen und anderes mehr – spielten offensichtlich auch Glaube und Spiritualität eine große Rolle, d.h. Bußvorstellungen und Endzeiterwartungen. Doch über deren Verhältnis zueinander herrscht gegenwärtig eine Forschungskontroverse, und sie bringt uns wieder zu dem Witz über die beiden Planeten zurück. Meinten diese Männer des ausgehenden 11. Jahrhunderts, durch ihre Beteiligung an einem von Gott gewollten Krieg das Ende der Welt, die Apokalypse, herbeiführen zu können? Glaubten sie, mit ihrem Kampf einen Plan Gottes zu erfüllen? Trugen sie letztlich dazu bei, die Erde vom Menschen zu befreien? Oder wollten sie vielmehr durch ihren anstrengenden und gefährlichen Kriegszug Buße leisten für ihre persönlichen Sünden? Dachten sie, ihre Beteiligung an einem von der Kirche gutgeheißenen Kampf würde ihnen für die Zeit nach ihrem Tode als Sühneleistung gutgeschrieben werden?

Ich beobachte in diesen Tagen, wie unsere und auch meine Einschätzung dieser Frage von unserem eigenen Erleben geprägt wird. Das war auch früher schon der Fall: Bereits vor der Corona-Krise fand eine apokalyptische Deutung der Kreuzungsmotivationen immer mehr Anhänger – nicht zuletzt deshalb, weil wir in Zeiten von al-Qaida und Daesch (dem sogenannten Islamischen Staat) leichter erkennen, dass es Gewalttäter gibt, die glauben, durch ihr Handeln ein zukünftiges Gottesreich herbeiführen zu können. Ein israelischer Kollege hat vor Kurzem aufgezeigt, dass der Klimawandel des ausgehenden 11. Jahrhunderts auch auf die politische Großwetterlage im Mittleren Osten Auswirkungen hatte und damit die Kreuzzüge begünstigte. In der Tat beobachteten mittelalterliche Autoren wie der fränkische Chronist Ekkehard von Aura (gest. nach 1125) neue Wetterphänomene, Missernten und Ähnliches.


Testament eines Jerusalempilgers aus dem Jahre 1169 Barcelona, Kathedralsarchiv, perg 1-5-428 R

Doch infolge der Corona-Epidemie dürften Historikerinnen und Historiker wieder verstärkt auf Endzeiterwartungen der Kreuzfahrer hinweisen, denn es ist vorauszusehen, dass auch in der Wissenschaft durch unser eigenes Erleben die Sensibilität für apokalyptische Ängste und Erwartungen der Vergangenheit gesteigert wird. Ob diese tatsächlich so einflussreich waren? Ich untersuche gerade Testamente, welche Pilger und Kreuzfahrer jener Zeit aufsetzten. Sie lassen erkennen, dass zumindest bei diesen Männern und Frauen doch eher die Sorge um das eigene Seelenheil überwogen zu haben scheint.

Das Ergebnis meiner Forschungen werde ich in einem Band zur Diskussion stellen, den spanische Kollegen veröffentlichen möchten. Nur die Zukunft wird zeigen, ob dies angesichts der aktuellen Katastrophe überhaupt möglich sein kann. Denn gegenwärtig ist die Situation in Spanien besonders dramatisch, und sie macht weder vor Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern noch vor Universitäten halt. In diesen Tagen ist ein geachteter Pariser Kollege dem Virus zum Opfer gefallen, Professor Michel Parisse, einer jener Grenzgänger, die zwischen deutscher und französischer Forschung Brücken bauen. Dass diese Brücken gerade in diesen Tagen aufrechterhalten werden müssen, dass wir nicht in nationale Blickverengung zurückfallen: Dies ist ein Gebot der Stunde!

Doch bei allen Beschwernissen und Verlusten: Die Corona-Epidemie bringt auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über neue Medien, Videokonferenzen, Chats wieder enger zusammen. Zahllos sind in diesen Tagen die bangen Anfragen nach dem gesundheitlichen Wohlergehen – eine Wissenschaftsdisziplin übt sich in Anteilnahme und gegenseitiger Sorge. In Zeiten von Bibliotheksschließungen unterstützt man sich international über alle Grenzen hinweg durch die Versendung einschlägiger Literatur. Die Absagen vielfältiger Tagungsverpflichtungen und der erzwungene Rückzug an den eigenen Schreibtisch erhöht die Produktivität – schon melden die Redaktionen wissenschaftlicher Zeitschriften eine wahre Flut an Rezensionen und Aufsätzen, lange liegen gebliebene Schulden werden nun abgearbeitet.

Ob aber die Erfahrung existenzieller Bedrohung das allgemeine Verhalten ganzer Gesellschaften im 21. Jahrhundert verändern wird, das kann erst die Zukunft zeigen. Im Gegensatz zu den meisten Männern und Frauen des Mittelalters sind wir Menschen der Moderne in aller Regel davon überzeugt, die Geschicke der Erde lenken zu können: durch ökologisch angemessenes oder unangemessenes Verhalten der Wirtschaft, durch falsche oder richtige politische Entscheidungen von Regierungen, durch medizinischen Fortschritt oder Entwicklungen der Pharma-Unternehmen usw. Es ist zu hoffen und zu erwarten, dass in diesen übergeordneten Bereichen ein Umdenken einsetzen wird. Ob wir auf individueller Ebene umdenken, aus der gegenwärtigen Erfahrung gute Vorsätze ableiten und damit eine modern abgewandelte Form der Buße leisten, das wird jede und jeder selbst entscheiden.

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