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HANS-JOACHIM GEHRKE:
SEUCHE UND KRIEG

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Die Strategie war bestens durchdacht. Der Krieg, den der führende Politiker, Perikles, mit Unterstützung des Volkes der Athener vom Zaun gebrochen hatte – wir nennen ihn den Peloponnesischen Krieg (432–404 v. Chr.) –, konnte nicht verloren werden. Er würde total werden: Der Gegner, Sparta mit seinen Alliierten, der die Freiheit der Griechen gegen die tyrannische Dominanz der Athener zu verteidigen vorgab, würde mit ganzer Macht ins Land Attika einfallen, alles kurz und klein schlagen und die Ernte vernichten. Die Landbevölkerung würde sich nach Athen zurückziehen, zu Zehntausenden. Dort waren die Stadt selbst, der Hafen Piräus und das Areal zwischen beiden durch Mauern gesichert. Die Versorgung wäre durch Importe aus Übersee in großem Stil gewährleistet, solange Athen mit seiner riesigen Flotte die Meere beherrschte. Das war garantiert angesichts von deren konkurrenzloser Überlegenheit, quantitativ an Schiffen und Menschen, qualitativ durch nautische Kompetenz. Die Kriegskasse war prall gefüllt, an Reserven gedacht. Irgendwann würde der Gegner, gereizt und dezimiert durch Flottenoperationen an seinen Küsten, klein beigeben und Athens Herrschaft über seine sogenannten Verbündeten – in Wirklichkeit Untertanen – anerkennen müssen. Diesen Krieg konnte Athen nicht verlieren: „Einsicht und finanzieller Überschuss“ seien im Krieg entscheidend, beruhigte Perikles angesichts des ersten bevorstehenden Einfalls seine Mitbürger. Ressourcen, überlegene Planung und eine klare Strategie würden für den Erfolg sorgen. Selbst im Nachhinein müssen wir heute sagen: Es hätte funktionieren können.


Perikles, der Stratege des Peloponnesischen Krieges. Römische Kopie nach griechischem Original, um 440/430 v. Chr. (London, British Museum).

Wie aber alle guten Pläne durchkreuzt werden können, zeigte sich schon im zweiten Kriegsjahr, durch eine Naturkatastrophe, die nicht „in Zeitlupe“ kam. Vermutlich aus Afrika stammend verbreitete sich in Athen eine Seuche, zunächst im Hafen, dann in dem ganzen vollgepferchten Gebiet innerhalb der Mauern. Feinde hätten angeblich die Brunnen im Piräus vergiftet, hieß es. Aber dieser Feind war unsichtbar. Mit Hitzeausbrüchen im Kopf sowie Hals- und Atemwegsproblemen begann es. Schwere Krämpfe in Magen und Galle folgten, Blasen und Geschwüre bedeckten den Körper, unerträgliche Hitzewallungen quälten die Kranken, von denen viele nach gut einer Woche verstarben. Wer diese Attacken überstanden hatte, den konnten aber noch schlimme Beschwerden im Unterleib, verbunden mit Durchfall, treffen, die für den ohnehin geschwächten Körper tödlich waren. Sogar die Enden der Gliedmaßen, Geschlechtsteile und Augen konnten dann noch befallen werden. Gegen das alles war niemand gefeit: Diejenigen, die anderen halfen, starben wie Schafe, und wer sich selbst isolierte, endete einsam und ohne Pflege. „Das schlimmste von dem ganzen Übel aber war die Mutlosigkeit“, konstatiert der Historiker Thukydides. Dieser war selbst erkrankt, hatte die Seuche aber überstanden und beschreibt ihre Symptome wie ihre Folgen detailliert (Historien, Buch 2, Kapitel 47–53): Er will damit ein Zeichen setzen. In Bezug auf die von ihm durchgemachte und geschilderte Krankheit spricht man gerne von der („attischen“) Pest: Doch um welche Krankheit es sich wirklich handelte, Pocken, Masern, Typhus, Fleckfieber oder anderes, bleibt unklar; ausgeschlossen ist nicht, dass ihr Erreger ausgestorben ist.

Die Folgen waren jedenfalls enorm, nicht nur, weil der Spitzenpolitiker Perikles selbst der Krankheit zum Opfer fiel. Bei archäologischen Ausgrabungen beim Bau der Athener Metrostation Kerameikos (benannt nach dem antiken Friedhof) im Jahre 1984 kamen zwei Massengräber zum Vorschein, in denen Tote auf chaotische Weise beigesetzt waren. In einer Kultur, in der auf die ordentliche Bestattung so viel Sorgfalt verwendet wurde – man denke nur an die Gestalt der Antigone –, war dies ein Zeichen erheblicher sozialer, religiöser und moralischer Verwirrung. Genau diese Folge, nicht weniger bedenklich als die medizinische Katastrophe, hebt Thukydides hervor. Lassen wir ihn selbst zu Wort kommen (Kap. 52f.), in der kraftvollen Übersetzung von Georg Peter Landmann:

„Die Menschen, völlig überwältigt vom Leid und ratlos, was aus ihnen werden sollte, wurden gleichgültig gegen Heiliges und Erlaubtes ohne Unterschied. Alle Bräuche verwirrten sich, die sie sonst bei der Bestattung beobachteten; jeder begrub, wie er konnte … Überhaupt kam in der Stadt die Sittenlosigkeit erst mit dieser Seuche richtig auf. Denn mancher wagte jetzt leichter seinem Gelüst zu folgen, das er bisher unterdrückte, da man in so enger Kehr die Reichen, plötzlich Sterbenden, tauschen sah mit den früher Besitzlosen, die miteins deren Gut zu eigen hatten, so dass sie sich im Recht fühlten, rasche jedem Genuss zu frönen und zu schwelgen, da Leib und Geld ja gleicherweise nur für den einen Tag seien … Da war keine Schranke mehr, nicht Götterfurcht, nicht Menschengesetz; für jenes kamen sie zum Schluss, es sei gleich, fromm zu sein oder nicht, nachdem sie alle ohne Unterschied hinsterben sahen, und für seine Vergehen gedachte keiner den Prozess noch zu erleben und die entsprechende Strafe zu zahlen; viel schwerer hänge die über ihnen, zu der sie bereits verurteilt seien, und bevor die auf sie niederfalle, sei es nur recht, vom Leben noch etwas zu genießen.“

Das Wüten der Krankheit hielt womöglich noch drei bis vier Jahre an, und die Zahl der Opfer war beträchtlich. Festhalten muss man aber auch: Die „Pest“ hatte die Athener keineswegs in die Knie gezwungen. So bestechend es ist, man muss das Horrorgemälde des Thukydides relativieren. Neben den und gegen die geschilderten Entgleisungen muss es noch ein Mehr an Kraft und Durchhaltevermögen gegeben haben; von Resilienz würde man heute sprechen. Das zeigt sich gerade, wenn man darauf sieht, wie es weiterging, gerade angesichts und nach der Katastrophe. Man ist also versucht, Thukydides mit modernen Medien zu vergleichen: Mit einer forcierten Deutungsabsicht und gekonnt eingesetzten rhetorischen Mitteln nimmt er gerade das Negative, ja das Schlimmste in den Fokus, anderes verschwimmt. Das sollte man nicht vergessen, wenn der antike Historiker heute (gerade auch von Kundigen) gerne herangezogen wird, um mögliche Folgen katastrophaler Ereignisse zu beschwören.

Wenn wir genauer hinsehen und langfristig denken, lassen sich andere Beobachtungen hinzufügen: Die Athener waren durch die Seuche keineswegs entscheidend getroffen. Auf den Verlauf des Krieges wirkte sie sich nicht entscheidend aus. Zusammenhalt und Stehvermögen, aber auch Ehrbewusstsein und Machtstreben der Athener waren größer. Den Krieg hätten sie mithilfe der perikleischen Zielsetzung und Strategie über die folgenden Jahrzehnte mehrfach gewinnen können. Aber sie bekamen den Hals nicht voll, wollten mehr und mehr und schließlich die Weltherrschaft – mindestens im griechischen Kosmos. Was Athen schließlich in die Katastrophe führte, war nicht die Naturkatastrophe. Es waren politische Fehler, Mangel an Maß und „Einsicht“, Übermaß an Machtgier und imperialem Gehabe, bei vielen seiner Politiker und der aggressiven Mehrheit seines Demos. Das kann man durchaus von Thukydides lernen, denn es hat sich im Ergebnis und im Geschehen bestätigt. Hier ist sein Werk, wie er es wollte, ein „Besitz für immer“ (Buch 1, Kapitel 22).

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