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PIERRE MONNET: DIE COVID-19-PANDEMIE, GESEHEN DURCH DAS PRISMA DES SCHWARZEN TODES 1348
ОглавлениеEin französisches Sprichwort lautet „comparaison n’est pas raison“. Diese alte Weisheit besagt, dass ein Vergleich nicht immer eine Schlussfolgerung rechtfertigt und auch nicht immer eine vernünftige intellektuelle Operation ist. Und dennoch ist die Versuchung groß, und auch viele Beobachter und Journalisten konnten in diesen Tagen nicht widerstehen, die derzeitige Pandemie mit den großen Epidemien zu vergleichen, die der Menschheit in ihrer Geschichte widerfahren sind. Als Vergleichsgegenstand drängt sich unmittelbar der Schwarze Tod auf; die Pest wütete von 1348 an in Europa und dem Mittelmeerraum und prägte auf Jahrhunderte hinaus das soziale, gesundheitliche und kulturelle Leben auf diesem Kontinent.
Warum lassen wir uns zu diesem Vergleich verführen? Wie bei der aktuellen Pandemie soll die Pest aus Asien gekommen sein und einen Weg nach Westen genommen haben, den Menschen und Waren schon lange nutzten. Das bedeutet auch, dass schon vor dem 14. Jahrhundert die großen Zivilisationen kulturell wie ökonomisch miteinander verbunden waren. Dieser Austausch in großem Maßstab, den man noch nicht „Globalisierung“ nannte, ermöglichte den Kaufleuten, Handelswaren über weite Entfernungen zu transportieren, und den Viren und Krankheiten, mit ihnen zu reisen. Im Übrigen handelte es sich bei der sog. Justinianischen Pest mehr oder weniger um dasselbe Phänomen, als diese in der Mitte des 6. Jahrhunderts aus dem Osten, also Zentralasien, in den Westen kam und dort bis in das 8. Jahrhundert hinein das Mittelmeerbecken sowie Teile Kontinentaleuropas bis hoch nach England heimsuchte. Jedenfalls folgte die Krankheit dem Weg der Seidenstraße mit ihren Verästelungen nach China, Zentralasien und Indien. Bei der Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts vermutet man ebenfalls mit einiger Sicherheit einen asiatischen Ursprung. Weil diese spätmittelalterliche Pest als erste Pandemie schriftlich so gut dokumentiert ist, weiß man, dass ihre Ausbreitung 1346 während der Belagerung des Kaufmannskontors von Caffa am Schwarzen Meer durch die mongolischen Truppen begann. Genueser Schiffe haben sie anschließend eingeführt und verbreitet: zuerst in Konstantinopel und dann im Herbst 1347 in Italien. Die Halbinsel wurde, so wie es auch heute der Fall ist, als Erste und am schwersten getroffen. Dies hing wahrscheinlich auch schon damals mit Italiens „globaler“ Offenheit durch seine Händler, Schiffe und Häfen zusammen. Zu Beginn des Jahres 1348 eroberte die Pest Spanien, dann das Königreich Frankreich, folgte den Flussläufen, den großen Handelsrouten und insbesondere den Pilgerwegen mit ihren großen Begegnungszentren der Christenheit, den Heiligtümern mit ihren Reliquien oder Avignon, das damals das Papsttum beherbergte. Sie erreichte das Heilige Römische Reich und den Norden des Kontinents 1349 und gelangte schließlich 1351 bis nach Skandinavien und Russland. Zu dieser Zeit waren also die großen bekannten und bevölkerten Weltregionen betroffen: Asien, der indische Subkontinent, der Nahe Osten, das Byzantinische Reich, Nordafrika (es fehlen, fast so wie im Augenblick, Angaben darüber, in welchem Maße das subsaharische Afrika betroffen gewesen ist), Süd-, Mittel- und Nordeuropa sowie Russland.
Wenn nun die Pest und die aktuelle Pandemie hinsichtlich der Verbreitung der Krankheit (Straßen, Flüsse, Orte mit hoher Bevölkerungsdichte, Städte etc.) aneinander ähneln, so unterscheiden sich beide durch die sehr viel langsamere Ausbreitung im 14. Jahrhundert: Drei bis vier Jahre brauchte die Krankheit, um das Mittelmeerbecken und die europäische Peripherie zu bereisen. Ein weiterer großer Unterschied betrifft die Sterblichkeitsrate. Was den Zeitgenossen am meisten an der Pest zwischen 1348 und 1350 überraschte, war das massive Sterben. In wenigen Wochen verloren Städte und Provinzen zwischen 30 und 40 % ihrer Bevölkerung, manche unter ihnen mit einer sehr hohen Bevölkerungsdichte verzeichneten sogar Todesraten von bis zu 60 %, was heutzutage viele Millionen Menschen in jedem Land bedeuten würde. Außerdem wurde geschätzt, dass 60 % der Infizierten die Krankheit nicht überlebten. Ein weiterer Unterschied zu heute: In der Mitte des 14. Jahrhunderts waren alle sozialen Schichten und alle Altersgruppen betroffen – ohne Unterschied, ob jung, ob alt, ob gesund oder bereits durch andere Krankheiten geschwächt. Darüber hinaus, und auch deswegen befördert das aktuelle Phänomen den Reflex eines Jahrhunderte überspannenden Vergleichs, waren bestimmte Regionen sehr viel härter als andere getroffen: Generell haben die Länder des Südens, also Italien, Spanien und Südfrankreich, einen größeren Tribut zwischen 1348 und 1350 gezahlt als Nordeuropa. Einige Gegenden blieben sogar mehr oder weniger verschont, wie z.B. die „geografische Tasche“, die von Brandenburg bis zum heutigen Polen und ins Böhmische Königreich reichte. Das hatten die Chronisten jener Zeit bereits beobachtet und damit zu erklären versucht, dass die unterschiedliche Behandlung gewisser Regionen Zentraleuropas nicht mit einem göttlichen Willen zusammenhing, sondern mit einer geringeren Bevölkerungsdichte, einer geringeren Verstädterung, einem größeren Waldbestand, der die Kommunikationswege trennte, einem anderen Tierbestand und, wie es ein Historiker am Hofe Kaiser Karls IV. (1316–1378), ausdrückte, mit „der Gegenwart eines frischeren Windes, der über die Hügel weht“. Da nun die Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts die Menschen mit ihrer Gewalt erschütterte, rief sie alsbald Erklärungsversuche hervor, die unmittelbar aus medizinischer Sicht zwei konstante Merkmale privilegierten: die Übertragung durch den Kontakt von Mensch zu Mensch und die Verbreitung durch die Luft. Interessanterweise sind diese beiden Aspekte auch in den großen aktuellen Diskussionen präsent, insbesondere was die Rolle der Übertragung durch körperliche Nähe und durch Atmung betrifft. Wenngleich keine Eindämmungsmaßnahmen entwickelt wurden oder die Pflicht, eine Maske zu tragen, auferlegt wurde, haben sich die spätmittelalterlichen Bevölkerungen dennoch zu schützen versucht: im Hause bleiben, flüchten, sich auf dem Lande isolieren, was die Reichsten unternahmen (ein Reflex, der bei städtischen Besitzern von Zweitwohnungen heute beobachtet werden kann), die Luft zu reinigen. Jedoch hat es in den Jahren 1348 bis 1350 keine öffentlichen, einschränkenden Maßnahmen seitens der Staaten gegeben. Dafür gibt es mehrere Gründe. Auch wenn die Höfe der Könige, Fürsten und des Papstes bereits recht früh die Expertise der Mediziner in Anspruch nahmen, die im Übrigen erst seit Kurzem und zunehmend an bestimmten großen Universitäten ausgebildet wurden, existierte weder etwas, was man öffentliche Gesundheitspolitik nennen könnte, noch ein zentralisiertes und durch Steuern finanziertes Gesundheitssystem. Man hat viel über die Opulenz und die Korruption der Kirche am Ende des Mittelalters gespottet, und manche Prälaten haben tatsächlich kein gutes Beispiel abgegeben, indem sie bei Ausbruch der Epidemie vor ihrer gläubigen Herde flohen. Aber der allergrößte Teil der Kirche als der einzigen umfassenden Institution, die die gesamte Gesellschaft täglich zusammenhielt, hat sich den Herausforderungen der Pest gestellt und eine sehr große Zahl an Mönchen, Nonnen, Mendikanten, Diakonen und Pfarrern hat ihr Leben im Dienst der dezimierten Bevölkerung gelassen. Im großen Unterschied zur aktuellen Lage war es für ein geistiges und religiöses christliche Universum, das Körper, Tod und Leiden so eng mit Heil und Erlösung verband, undenkbar, dass die Kirche ihre grundlegende Pflicht zur Begleitung der Kranken öffentlich einschränken sollte. Die Kirchen, Kultorte, die Pilgerzentren, die Wallfahrtsstätten aller heiligen Fürsprecher und Beschützer schlossen niemals ihre Pforten, was wahrscheinlich eine fatale Verbreitung der Krankheit, aber mehr noch eine ausufernde kollektive Frömmigkeit beförderte. Die Kehrseite der Medaille bestand in der Suche nach einer spirituellen, symbolischen, übernatürlichen Schuld für das, was angesichts des Ausmaßes der Sterblichkeit den spätmittelalterlichen Menschen als göttliche Geißel, als Verkünder einer Form des Weltenendes erscheinen musste.
Die Pest in Tounai 1349: Beerdigung von Opfern der Epidemie. Aus: Gilles li Muisis, „Antiquitates Flandriae“ (Brüssel, Königliche Bibliothek).
… und die Folgen: Juden, die lebendig auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Aus: Gilles li Muisis, „Antiquitates Flandriae“ (Brüssel, Königliche Bibliothek).
Dieses Schuldgefühl konnte zwei Gesichter haben. Einerseits wandte man sich der Analyse der eigenen Fehler zu, was mal Kritik an der etablierten Kirche auslöste, mal zur Anklage der Sünden der Gläubigen und zu kollektiven, manchmal sogar blutigen, Bekundungen christlicher Reue führte, so in Form von Prozessionen der Flagellanten, die sich an öffentlichen Orten auspeitschten, um an die Wunden und Leiden Christi zu erinnern.
Das andere Gesicht dieses Schuldgefühls wandte sich gegen den anderen, den Fremden, den Eindringling, den Ungläubigen, der die weise Anordnung der christlichen Gesellschaft störte. Da dieser Mechanismus bereits fest in den Gewohnheiten der Menschen verankert wurde, wurden die Juden erneut zum Hauptziel, indem sie beschuldigt wurden, Brunnen vergiftet, die Luft verschmutzt, verseuchtes Blut von Tieren oder Kadavern vergossen zu haben. Das war die Pest des 14. Jahrhundert nämlich auch: die Suche nach Verantwortlichen, die Hinrichtung von ausgegrenzten und gefährdeten Minderheiten sowie der Wunsch nach Veränderung und Reinigung angesichts einer ungeordneten Welt.
Man übersieht aber schnell, dass zwei Elemente die beiden historischen Situationen, die der Vergleich ungeschickterweise zusammenzubringen versucht, ganz unterschiedlich geprägt haben. Das erste Element ist die Dimension von Zeit und Rhythmus. In den Jahren 1348–1350 hat niemand daran gedacht, sich darüber zu empören, dass eine Lösung, ein Behandlungsansatz oder gar eine Heilung nicht in wenigen Wochen und Monaten gefunden werden könne. Das zweite Element betrifft auch die zeitliche Dimension, aber auf einer anderen Ebene. Europa und das Mediterraneum mussten ab 1348 lernen, mit einer lang anhaltenden Epidemie und ihren dauerhaften Konsequenzen zu leben. Dies betrifft in erster Linie das wirtschaftliche und ländliche Leben: Manche Regionen haben die Anzahl der Dörfer und Bauernhöfe, die sie vor 1348 hatten, nie wieder erreicht; man schätzt, dass das demografische Niveau aus der Zeit vor der Pest in Europa oft erst wieder ein Jahrhundert später erreicht worden ist.
In Folge der Großen Pest musste der Friedhof der Aître Saint-Maclou (Normandie, Dép. Seine-Maritime) erweitert werden: Totenkopf an der Fassade des Beinhauses.
In den folgenden Jahrhunderten setzte sich die Pest im täglichen Leben und der Vorstellungswelt der Bevölkerungen fest. Nach einem ersten Höhepunkt der Epidemie in der Mitte des 14. Jahrhunderts kehrte die Pest immer wieder ins Herz Europas zurück: sporadisch im 15. und 16. Jahrhundert, dann in Toulouse und Umgebung 1628–1633, anschließend in Norditalien und London in den 1660er-Jahren, in Marseille 1720, erneut in London 1764, in Moskau 1771, abermals in Asien in den 1880er- und 90er-Jahren, in Marseille 1902 und sogar in Paris 1920 auf dem Höhepunkt der Spanischen Grippe. Bekanntlich wurde der verantwortliche Bazillus erst 1894 endgültig identifiziert. Ebenso spät wurde der Übertragungsweg vom Floh über die Ratte zum Menschen verstanden. Und erst 1896 wurde der erste Impfstoff entwickelt – also quasi gestern.
Was schließlich die Aufmerksamkeit der Historiker bei einer solchen Übung im Vergleich über viele Jahrhunderte hinweg auf sich ziehen sollte, sind nicht die Fakten selbst, sondern der Umgang mit ihnen und die Konsequenzen hieraus, das heißt das Verhältnis zur Zeit, was bei einem historischen Ansatz nicht überraschen sollte, der für die Dauer und das Verständnis vom Leben dieser Gesellschaften in der Zeit geeignet ist. Dieses Verhältnis zur Zeit zeigt als Erstes, dass jede Gesellschaft anders reagiert und dass die Gesellschaft aus der Mitte des14. Jahrhunderts nicht zusammenbrach, als die Hälfte der Menschheit in wenigen Monaten verschwand. Dies lag vielleicht daran, dass die damaligen Bevölkerungen nicht in einem den täglichen Horizont sättigenden Präsentismus versunken waren, sondern in gewisser Weise das Gefühl hatten, dass sich die Entfaltung des Heils und der Menschwerdung über jene lange Zeit erstreckte, deren Ende nur Gott allein kannte. Dieses Verhältnis zur Dauer, was auch mit der vorhergehenden Beobachtung zusammenhängt, zeigt, dass der Zeithorizont einer Pandemie in der Mitte des 14. Jahrhunderts Jahre, ja sogar Jahrhunderte, und keinesfalls wenige Wochen umfasste, die uns aufgrund der ständigen Beschleunigung unseres modernen Lebens bereits die Geduld verlieren lassen. Diese unerträgliche Geduld, ein besonderes Zeitempfinden der Hoffnung und in Bezug auf das Ende der Krise sowie die Verlangsamung des Lebenstempos: Auch dies lehren uns die Reaktionen auf Epidemien in der Vergangenheit, wenn sie uns heute noch etwas zu sagen haben.