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Erde, Grund

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Erde ist ein Metapherngenerator ersten Ranges. Die Gründe dafür sind vielfältig: biologisch-anthropologisch und sozio-kulturell. Erde ist der Bezugsraum, der „Grund“ für pflanzliches, animalisches und humanes Leben; als solcher stellt sie das Terrain bereit für Fortbewegung, Kommunikation und Interaktion; im Inneren birgt sie flüssige und feste Lebensressourcen für kulturelle Praktiken. Sie ist die unhintergehbare Basis menschlicher Existenz und Evolution, und sie ist, in nicht wenigen Kulturen, die Sphäre, der die Toten rituell überstellt werden. Im Ensemble natürlicher Elemente trägt sie polyhybriden Charakter. Sie zieht Blitze an und konfiguriert Elektrizität und Magnetismus; sie umschließt und trägt die Wasser, sie umfaßt Feuerherde, sie kann Fluten, Erdbeben oder Vulkanausbrüche entfesseln.

Aus diesen Gründen ist die Erde als ambivalentes Reflexionsfeld seit den frühen Hochkulturen nachweisbar. Verschiedene Konzeptionsebenen lassen sich unterscheiden: 1. Erde als konsistente Fläche für Bewegung, Kommunikation und Interaktion, als räumlich-horizontale Lebensgrundlage, auch im Sinn von Land und Festland (topologische Dimension); 2. Erde als individueller, kollektiver, nationaler oder gesamtkultureller Eigentumstitel im Sinn von Grund und Boden (juristische Dimension); 3. Erde als stoffliche Schicht und als biologischer Lebensraum (agrikulturell-stoffliche Dimension); 4. Erde als räumlich-homogenes Gebilde, auch mit gestaffelter Tiefendimension von harten zu flüssigen Schichten, kalten zu heißen Bezirken, erschlossenen zu unerschlossenen Zonen (geologische Dimension); 5. Erde als planetarischer, kosmischer Körper (astronomische Dimension); 6. Erde als Ressourcenspender und sozio-kultureller Lebensraum (ökonomischökologische Dimension); 7. Erde als Natur bzw. Landschaft (ästhetische Dimension); 8. Erde als ein bzw. der Ort von Leben schlechthin (metaphysischphilosophische Dimension).

Die Philosophie setzt auf diesem semantischen Feld eigene Akzente, ohne dabei jederzeit zwischen rational-begrifflichen und metaphorisch-bildhaften Gehalten streng zu unterscheiden. Allein aus methodischen Gründen können Begriffliches und Metaphorisches nicht absolut voneinander getrennt werden; beides sind Funktionsprädikate. Was in einer Hinsicht Begriff ist, kann in anderer Hinsicht metaphorisch sein. Dementsprechend soll hier die Grundannahme gelten: Erde ist immer schon eine philosophische Metapher, und die philosophische Rede von ihr ist tendenziell – wenn auch nicht ausschließlich – metaphorisch. Aus diesem Grund muß nicht der metaphorische Gehalt herausgearbeitet werden, sondern der begriffliche.

1 Die große Mutter – Die epischen Dichtungen HESIODS stellen kosmische Welt, irdisch-natürliche Welt und Menschenwelt in komplexe Ordnungsbezüge hinein. Eines ihrer wichtigsten Merkmale: die Personifizierung von göttlichen Wirkmächten, die damit der menschlichen Weltwahrnehmung nähergerückt werden.

In der Theogonie HESIODS stellen, hervorgegangen aus dem Ursprungsprinzip Chaos, die drei Instanzen Gaia, Tartaros und Eros die Primärwesen dar, aus denen sich das kosmische und irdische Geschehen entfaltet. Bereits hier, in den Anfängen rational-systematischer Welterklärung, ist der stark metaphorisierende Charakter von Erde unübersehbar. Erde ist ein Universalwesen, stofflich greifbar und dennoch transzendente Macht, die Götterwelt und irdischen Naturraum gleichermaßen verkörpert. Anthropomorph aufgeladen, agiert sie nach dem Maßstab des menschlichen Leibes und menschlicher Sexualität: „Zuallererst wahrlich entstand das Chaos, aber dann/die breitbrüstige Gaia, der niemals wankende Sitz von allen/Unsterblichen, die das Haupt des schneebedeckten Olymps bewohnen,/und der dämmerige Tartaros im Innern der breitstraßigen Erde/und der Eros, der schönste unter den unsterblichen Göttern“.1

Die eigentlichen Anfänge explizit philosophischen Denkens werden herkömmlich in das 6. Jahrhundert v. Chr. gelegt, und hier, unter den ionischen Naturphilosophen, finden sich erstmals naturalistische Theorien über die Entstehung und die Struktur der Erde. Sie kommen ohne göttliche Schöpfer aus, ebenso fehlen anthropomorphe Bezüge. Per theoretischer, sprachlicher und metaphorischer Analogiebildung bleiben Erdtheorien dennoch soziomorph konturiert. Das heißt, Metaphern haben eine klar-rationale Erkenntnisfunktion. So ruht für THALES die Erde auf dem Urgrund Wasser, wie Holz auf dem Wasser ruhen oder treiben würde. ANAXIMANDROS zufolge – von dem eine erste Erdkarte stammen soll – befindet sich die Erde schwebend und ruhend im Mittelpunkt der Welt. Sie hat die Gestalt eines Zylinders, dessen Höhe ein Drittel seiner Breite einnimmt. Ihre bewohnte Oberfläche sei als ein nach oben ragender, gewölbter Säulenstumpf anzusehen. Für ANAXIMENES, der Luft als Urgrund des Seins ansieht (und annimmt, Luft sei wie der menschliche Atem ein generelles Seelen- und Lebensprinzip), ist die Erde eine Art extrem verdichteter Luft. Da sie von flacher Gestalt sei, schwimme sie obenauf. Die anderen Gestirne und Planeten seien aus aufgestiegener Erdfeuchtigkeit entstanden und drehen sich, wie der griechische Kirchenschriftsteller HIPPOLYTOS diese Thesen des Anaximenes zusammenfaßt, um die Erde herum „gerade wie sich um unseren Kopf der Filzhut dreht“.2

Das Abstraktum Erde kann auf zwei verschiedenen Wegen metaphorisch konkretisiert werden: nach Maßgabe bekannter Naturvorgänge (Thales, Anaximenes) oder nach dem Vorbild bekannter Artefakte (Anaximandros oder auch LEUKIPP, für den die Erde einer Handtrommel gleicht3). In beiden Fällen findet eine Translationsleistung statt, bei der sich die Metapher selbst verändert. Wenn, wie bei Anaximenes, Erde im Rang eines philosophischen Metaphernspenders auftritt, unterliegt sie als Metapher selbst dieser universalisierenden Ausweitung und reproduziert sich in erweiterter Form. Denn sie ist nicht lediglich Erde, sondern Erde, die dem durch sie Bezeichneten in struktureller oder genealogischer Hinsicht ähnlich wird. Sie trägt nunmehr Züge der von ihr sprachlich generierten kosmischen Körper, die sich um sie drehen. Die Erde selbst wird – metaphorisches Cross-over – durch rückwirkenden metaphorischen Gehalt zum kosmischen Körper.

XENOPHANES bindet den Körper Erde explizit in Vorgänge der Menschheitsentstehung ein, wobei göttliche Instanzen fehlen. Die Menschen sind aus Erde entstanden, präziser: aus Schlamm. Das Besondere ist, soweit die spärliche Quellenüberlieferung nicht trügt: Diese Menschwerdungstheorie ist nach vorwärts wie nach rückwärts erzählt: als Katastrophen- und Vernichtungstheorie, als Weg nicht nur aus dem Schlamm, sondern auch in den Schlamm zurück. „Es würden aber sämtliche Menschen umkommen, wenn die Erde in das Meer rutsche und dann zu Schlamm würde. Danach aber beginne sie wieder mit ihrer Entstehung“.4 Erde verschlingt, und Erde bringt hervor. Der erwähnte Rückkopplungseffekt von Erdmetaphern wird hier deutlich: Erde ist und wird metaphorisiert, und ebenso metaphorisieren Erdmetaphern, z.B. das Entstehen und Vergehen des menschlichen Lebens. Versteht man „Mensch“ nicht nur als absolute Metapher, sondern als philosophische Supra-Metapher, dann sind spätestens seit Xenophanes Menschen Erd- und Schlammgeborene. Der Mythendichter PHEREKYDES sowie die späteren Philosophen EMPEDOKLES, DEMOKRIT, PROTAGORAS lassen die Menschen aus Erde und Schlamm entstehen.

Für diesen Aspekt sind Ausführungen von Empedokles überliefert, von dem berichtet wird, er habe sich in einem Akt der Erd- und Naturverklärung in den Ätna gestürzt. Neben Feuer, Wasser und Luft gehört Erde in sein Konzept der vier natürlichen Elemente, die ewig sind und durch Streit und Liebe in stetiger Bewegung gehalten werden. Geprägt von Trockenheit und Feuchtigkeit, Wärme und Kälte entstehen permanente Materiemixturen, darunter auch die Mixtur Mensch: „Als aber die Erde in dem vollkommenen Hafen der Liebe vor Anker gegangen war, traf sie mit ihnen – dem Feuer, dem Wasser und der hell leuchtenden Luft – in ungefähr gleichem Verhältnis zusammen, sei es ein wenig stärker oder schwächer gegenüber der Mehrzahl. Daraus entstand das Blut und die andern Arten des Fleisches“. Diese Mixtur hatte, evolutionär gesehen, anfangs reinen Experimental- und Zufallscharakter. Der Erde „entsprossen viele Köpfe ohne Hälse, Arme irrten für sich allein umher, ohne Schultern, und Augen schweiften allein umher, der Stirnen entbehrend“.5 Bei der Kombination einzelner Körperteile entstanden monströse Gebilde, Menschenleiber mit Kuhköpfen, Rinder mit Menschengesichtern, Zwitterwesen. Bei der Suche des Gleichen nach dem Gleichen kam es aber offenbar allmählich zu konstanten Kreationen. Von Bestand sind sie jedoch nicht. Ähnlich wie bei Xenophanes gibt es bei Empedokles einen von Streit und Liebe in Gang gehaltenen Weltkreislauf, der sich durch stetes Vergehen, Entstehen und neue, dem Zufall geschuldete Kombinationen auszeichnet, zu denen auch die Menschen gehören, die mehr oder weniger geglückte Kombinationen aus Erde, Feuer, Wasser, Luft darstellen.

Aus dieser Tradition erklären sich die metaphorisch aufgeladenen, naturphilosophischen Spekulationen aus PLATONS Timaios. Bereits im Phaidon wird die Erde als kugelförmiges Gebilde bezeichnet, das wie ein zwölfteiliger lederner Ball aussehe. Auf diesem hausen die Menschen wie die Ameisen und Frösche um einen Sumpf. Im Grunde würden sie sich aber nur einbilden, auf ihm zu hausen. In Wirklichkeit lebten sie in unwirtlichen Höhlen, in zerklüfteten und verfallenen Regionen. Lediglich diejenigen, die sich durch Tugend und Weisheit auszeichneten, hätten das Privileg die „wahre Erde“,6 wie Platon sie nennt, zu kennen. Den Göttern nahe sei das Leben auf dieser Erde ein fortwährendes Glück, verbunden mit der Aussicht, noch schönere Wohnungen an noch schöneren Orten zu erlangen – so unsagbar schön, daß eine Beschreibung gar nicht möglich sei. Erde wird damit zum Gefängnis. Schwache und träge, noch nicht zu sich selbst gekommene Menschen hausen im Inneren einer Erde, die abgenutzt und verfallen ist. Doch auf ihrer Oberfläche wohnen menschliche Halbgötter. Diesen wird eine nichtirdische Zukunft beschieden sein, über die man nichts aussagen kann.

Das Gefängnismodell variierend, greift Platon im Timaios auf jene Erde-Mensch-Synthesen zurück, die spätestens seit Xenophanes die griechische Philosophie beschäftigt hatten. Die stark metaphorisch durchsetzten Spekulationen lassen sich wie folgt aufschlüsseln: Der Gott der Götter, der väterliche Demiurg, schuf die Elemente, vier an der Zahl, wobei jedes eine bestimmte geometrische Form zugewiesen bekam – das Element Erde die Würfelform. Durch Interaktion entstehen weitere formale und materiale Mischkonfigurationen, das Universum aller Dinge. Das ist der rein naturphilosophische Aspekt. Kulturphilosophisch kommt hinzu, daß dieser Gott auf die Erde, den Mond sowie andere Weltkörper Seelensamen ausstreut. Anschließend – und hier wird das globale Gefangenenmodell in ein physisches Kleinkörpergefängnis transformiert – haben die Seelen den Auftrag, dem Andrang genau dieser Naturelemente mit Vernunft zu begegnen, um schließlich als reine, ihrer materiellen Hülle entledigte Wesen an ihre einstigen Sternensitze zurückzukehren. Fazit: Als irdischer Körper ist Erde ein Gefängnis, und die philosophische Geschichte der Erd-Metapher von den Vorsokratikern zu Platon ist der Tendenz nach eine Distanzierungsgeschichte. Vom astronomischgeologischen Träger menschlichen Lebens (Vorsokratiker) wird Erde zum direkten biophysischen Lebensbestandteil und zum Generator von Leben, das mittels Kreisläufen aus Erde entsteht und zwangsläufig zu Erde wird (Xenophanes, Empedokles). Bei Platon aber schafft Erde kein Leben, sondern sie fesselt es, sie kerkert es ein. Platon ersinnt philosophische Vernunftmythen mit entschiedener Mythenferne. Er hält seinen Lieblingsfeinden, den erd-enthusiastischen Dichtern, den Spiegel vor, mit der Pointe, daß es ein Zerrspiegel von Erdgefängnissen ist.

In den mythischen Entwürfen der vorklassischen Zeit erlangten Natur und Mensch nicht selten geschlechtliche Qualitäten. Menschsein war in der Regel männlich, Natur und Erde hingegen wurden weiblich konnotiert. Diese Vorstellung der mütterlichen Natur stützte das Bild einer den Menschen gewogenen Schöpfung. Hesiods Theogonie mit dem Mythologem der breitbrüstigen Gaia, das vielfach aufgegriffen und fortgeschrieben wurde, ist bereits angeführt worden. Dieser Mythos fand auch in der Philosophie seinen Widerhall. In nachfolgenden, naturalistisch orientierten und materialistischen Philosophien verstärkte er sich sogar. So heißt es etwa bei THEOPHRAST: Die Erde „ist nämlich der gemeinsame Herd der Götter und Menschen, und wir alle, die [wir uns] an sie wie an unsere Ernährerin und Mutter schmiegen, müssen sie preisen und als unsere Gebärerin zärtlich lieben“.7 Im ersten vorchristlichen Jahrhundert schreibt LUKREZ den Diskurs in ambivalenter Weise fort. Sein Lehrgedicht beginnt mit einer Widmung an Venus und an die durch sie belebte Natur. Als daedala tellus, als Künstlerin Erde, bringt sie auch Erdenkinder hervor. Aber, und das ist die Kehrseite ihres Wirkens: Als Frau und Mutter versiegten ihre Potenzen, sie wurde alt, erschöpft: „Weil sie jedoch einmal zum Schluß kommen muß des Gebärens,/hörte die auf, wie ein Weib, das erschöpft vom Alter des Lebens“.8 Als Ursprungsinstanz hat sich Mutter Erde erübrigt. Einmal geschaffen, ist sie in einem Kreislauf des Entstehens und Vergehens begriffen, in dem nichts mehr geschaffen zu werden braucht, weil alles geschaffen wurde und nichts verloren geht.

In mittelalterlichen Kontexten wird dieser Topos aufgenommen und weitergeführt. BERNARDUS SILVESTRIS schildert, wie der Schoß der Materie bei der ordnenden Weltvernunft um kunstvolles Maß nachsucht, und in ALBERTUS MAGNUS’ aristotelisch beeinflußten mineralogischen Schriften, die um die Mitte des 13. Jahrhunderts entstehen, gilt die Erde als Mutter des Metalls, das sie in ihrem Schoß trägt. Schließlich erleben positive Bilder der weiblichen Natur (beeinflußt durch arabische Autoren, kabbalistische Texte und neuplatonische Entwürfe) noch in der frühen Neuzeit auch in der Philosophie eine Renaissance. Terra, Magna Mater, Cybele, Demeter gehören zum unverzichtbaren Repertoire neuplatonisch-mystischer Weltentwürfe. Aber spätestens seit Beginn des 18. Jahrhunderts lehnen die neuen Wissenschaften diese Weltsicht weitgehend ab. Das Ideal empirischer Faktizität setzt sich durch.

2 Erdbeben als Provokation der Aufklärung – Es gibt Ereignisse, die neben der Welt auch die Sprache über die Welt verändern. Nicht nur Staatsaktionen und politische Umwälzungen gehören dazu: „Am 1. November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon, und verbreitete über die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken“.9 Die Katastrophe von Lissabon veränderte das Bild der Welt. Stärker als bisher avancierte die Erde zu einer problematischen Größe, denn nun verbreitete sich der Eindruck, auf schwankendem Boden zu stehen. Die Handgreiflichkeit dieser Erfahrung verband sich mit der Erwartung, daß der Richterstuhl der Vernunft alle Gewißheiten ins Wanken bringen könne, bis schließlich auch er selbst wanken werde. Der idealtypische Aufklärungsvertreter lebte in einem latenten terrestrischen Trauma. Paradigmatisch klagt GOETHE über die von „Gängen, Kellern und Cloaken“ untergrabenen Städte, darüber, daß die Erde einstürze und die moralische und politische Welt überhaupt untergraben sei.10 Unter solchen Vorzeichen –1755 soll es die Prognose für ein vernichtendes Beben in der preußischen Hauptstadt gegeben haben11 – nimmt KANT die Arbeit an seinen naturphilosophischen Erdbebenschriften auf. Zu den wichtigsten philosophischen Verständniserleichterungen dienen ihm anthropomorphe und soziomorphe Metaphern. Berechtigterweise ist festgestellt worden, ebenso wie er als Metaphysiker zu gelten habe, müsse Kant auch als Metaphoriker verstanden werden.12

Tätigkeitsmetaphern machen die Natur zum menschlichen Spiegel. Kant selbst hat diesem Vorgehen eine methodische Rechtfertigung gegeben mit der Erklärung, Analogien aus der menschlichen Erfahrung seien bei der Naturerkenntnis unverzichtbar.13 Demnach bedarf die menschliche Vernunft anthropomorpher oder soziomorpher Gerüste. Diese sind keine bloßen Ergänzungsmittel, sondern bestimmen von vornherein die Theoriebildung. Ausdrücklich spricht Kant von der Arbeit der Natur: Die Erde setze ihre Werkzeuge in Bewegung; sie sei von Höhlungen oder Kanälen untergraben, in denen sich Herde oder Wasserhalter befänden; die irdische Kruste sei als Fußboden anzusehen; darunter erstreckten sich irdische Hallen und Kamine. Die unterirdischen Gänge gleichen, wie Kant betont, den Schächten in den sächsischen Gebirgen. Ihre Lavaglut sei den Feuern in Steinkohlebergwerken ähnlich. Ein weiterer Motivkomplex aus dem Bereich menschlicher Tätigkeit kommt hinzu: die Metaphorik unterirdischer Gewölbe und Grüfte. Die Feststellung: „Die Erdbeben haben uns offenbart, daß die Oberfläche der Erde voller Wölbungen und Höhlen sei, und daß unter unsern Füßen verborgene Minen mit mannigfaltigen Irrgängen allenthalben fortlaufen“,14 zieht den direkten Vergleich von Erdbeben und Minentechnik. Kant – und hier wird die Ambivalenz seiner Metaphorik deutlich, die Ängste abbaut, und doch zugleich furchterregende Metaphern einsetzt – sieht ein gefahrbringendes System unterirdischer Gänge und neuralgische Punkte, an denen Ausbrüche drohen. Die Erde ist von Explosionsherden durchsetzt. So spricht Kant vom „verborgenen Zunder“ unterirdischer Luft, der diese in Explosionen versetze. Ein Erdbeben gleiche der „Bewegung einer Pulvermine“, die „im Aufspringen vermögend ist die Körper, die darüber befindlich sind, 15 Fuß hoch zu werfen“.15

Damit schien die Erdbebentätigkeit erklärt. Die Theorie hatte ihr Vermögen unter Beweis gestellt, Unverständliches verständlich zu machen und Kompliziertes zu vereinfachen. Erdbeben waren nicht die zufällige Entzündung von Naturmaterialien, sondern eine militärisch konzeptualisierte, erschließbare Explosion. Verbunden mit Bergbau- und militärischen Praktiken übten Explosionstheoreme kulturelle Anziehung aus und waren bis Ende des Jahrhunderts verbreitet. Den vermutlich ersten Versuch eines laborhaften Nachvollzugs von irdischen Gärungen soll, inspiriert von antiken Einflüssen, bereits Albertus Magnus mit Druckbehälter, Wasserdampf und Feuer unternommen haben. Aber was bei ihm und bei anderen geheimes Werk geblieben war, rückte seit Anfang des 18. Jahrhunderts in das Licht der Akademien und der Öffentlichkeit. Möchte man Hans Blumenberg variierend behaupten, daß Sprache schon als solche Angstableitung ist, dann leistet die Erdbebenmetaphorik „Bebenableitung“.

Doch entgegen dieser Erwartungsrichtung weist Kant in seiner dritten Erdbebenschrift alle praktischen Erdbebenableitungen zurück und spricht von einem schönen Traum. Der Anspruch auf Ableiter sei ehrenwert, aber angesichts der natürlichen Umstände vermessen. Wissenschaft habe sich Wünschen und Träumen zu entschlagen, sie diszipliniere sich und gehe kritisch vor. Erdbeben abzuleiten, sei ein unangebrachter Traum der Vernunft. „Von dem Prometheus der neuern Zeiten, dem Hrn. Franklin, an, der den Donner entwaffnen wollte, bis zu demjenigen, welcher das Feuer in der Werkstatt des Vulkans auslöschen will, sind alle solche Bestrebungen Beweisthümer von der Kühnheit des Menschen, die mit einem Vermögen verbunden ist, welches in gar geringem Verhältniß dazu steht, und führen ihn zuletzt auf die demüthigende Erinnerung, wobei er billig anfangen sollte, daß er doch niemals etwas mehr als ein Mensch sei.“16

Kant folgt hier der rhetorischen Figur der Concessio: Anspruch in Form der Abbitte. Das vorläufige Eingeständnis der Ohnmacht dient dazu, den Anspruch des Subjekts zu befestigen. Denn Concessio ist Simulatio: Das Eingeständnis täuscht vor, mit einem an sich unliebsamen Argument übereinzustimmen, mündet aber in die überraschende Conclusio, der Mensch sei immerhin ein Mensch. Niemals mehr, aber auch nicht weniger. Stellt man Kants drei Erdbebenschriften nebeneinander, ist zu sehen, wie die Ohnmachtserfahrungen wachsen. Kants dritte Erdbebenschrift zeigt, wie schwach es um den Optimismus bestellt war. Die göttlichen und natürlichen Werke, so das Fazit, lassen sich nicht verbindlich erklären. Sie entziehen sich dem Zugriff der erkennenden Vernunft. Was unumstößlich bleibt, ist allein die moralische Integrität des Subjekts. Eine Selbsterhaltung ganz anderer Art, die unerschütterliche moralische Selbstgewißheit, ist der feste Haltepunkt in einer schwankenden Welt.

3 Irdische Wirklichkeiten des 19. Jahrhunderts – „Wir spielen jetzt auf ebener Erde“17 – die Proklamation des jungen MARX hat deskriptiven Charakter. Dennoch kann sie als metaphorische Hyperbel angesehen werden. Erde spielte in seinem heterogenen Werk eine bedeutende Rolle. Vermittelt über Debatten im Umfeld der Hegelianer ist Erde für Marx ein metaphorischer Kampfplatz.

Marx kämpft metaphorisch mit Erde, aber auch um Erde, und gelegentlich sogar – Marx spricht vom „stumm fortwirkenden Maulwurf des wirklichen philosophischen Wissens“ – in der Erde.18 Erde ist das glaubwürdige Versprechen, mit den politischen, ideologischen oder wissenschaftlichen Auffassungen sicheren und festen Boden, eine „irdische Basis“19 erschlossen zu haben. Erdbezug ist Wirklichkeitsbezug. Die aufklärerische Skepsis, sicheren Boden nie wieder erlangen zu können, sondern einem permanenten Schwanken der Verhältnisse ausgesetzt zu sein, wird grandios hinweggefegt. Seit der Romantik gilt das chthonische Versprechen, welches besagt: Wo Erde, da Wahrheit und Gewißheit, wo Erde, da materiell-metaphysische Geborgenheit.

Anders als in den Aufklärungsrhetoriken gab es, metaphernhistorisch gesehen, nun nicht mehr den Sturz ins Grundlose, ins Bodenlose. Vielmehr schien metaphorisch ein Pakt mit der Erde geschlossen. Würde man – Gegenbeispiele natürlich eingerechnet – ein verallgemeinerndes Fazit der Erdmetaphoriken um die Mitte des 19. Jahrhunderts ziehen, dann die eines progressiven oder utopischen Erd-Enthusiasmus. Noch die Revolutionsmetaphorik, die zur radikalen Umwälzung aller Verhältnisse auffordert, operiert im Zeichen dieses Pakts. Selbst den Verweis auf die Gegenrevolution figuriert Marx in Metaphern des gegen den eigenen Willen subversiven Maulwurfs oder in Metaphern des erdgebundenen Riesen Antaios. Dieser sauge stets neue Lebenskräfte aus der Erde und richte sich nach jeder vorübergehenden Niederlage wieder auf – bis er, als unzeitgemäßer Repräsentant unzeitgemäßer Mächte, von der „Ungeheuerlichkeit“ neuer Mächte endgültig niedergeworfen werde.20

„Daß alles, was existiert, daß alles, was auf der Erde und im Wasser lebt, durch Abstraktion auf eine logische Kategorie zurückgeführt werden kann, daß man auf diese Art die gesamte wirkliche Welt ersäufen kann in der Welt der Abstraktionen“21 – gegen diese Zumutung stemmt sich der junge Marx seit Mitte der vierziger Jahre. Die idealistische Weltverflüchtigung will er beenden. Welt ist nicht die Verwirklichung abstrakter Ideen, nicht die Resultante vorgängiger ideeller Konfigurationen und Mächte. Es gibt keine Seinsverdoppelung. Die Alternative lautet deshalb: philosophischer Materialismus. Alles auf der Erde soll real sein und ohne doppelten Boden bei sich selbst und sich selbst genug. Dieser philosophische Materialismus ist keine Marxsche Erfindung, es gab ihn seit der Antike und verstärkt in der englischen und französischen Aufklärung. Die Besonderheit des Marxschen Materialismus besteht in mindestens zwei Facetten. Erstens ist es ein Materialismus, der dem Idealismus abgerungen ist, der sich durch die explizite Kritik an idealistischen Systemen gebildet und weitergebildet hat. Dieser Materialismus will kein abgeschlossen fixiertes System sein, sondern eine offene Methode. Und zweitens ist er ein universeller Materialismus, der die Erscheinungen der Welt in allen ihren Formaten als primär gesetzmäßig strukturiert begreift.

Dieser Materialismus konzeptualisiert seinen Weltbezug im metaphorischen Radius des Irdischen. Er hat einen Pakt mit der Erde geschlossen und verteidigt ihn polemisch. Die metaphorische Emphase der frühen journalistischen Zeit gewinnt bei Marx ab 1844 eine neue Qualität hinzu: Erdverklärung als Verklärung materialistisch konfigurierter Wirklichkeit, in ihren Facetten naturaler und sozialer Realität. Unter dem Vorzeichen dieser Erd-Apotheose verwundert es nicht, daß Marx in den frühen Auseinandersetzungen mit den Junghegelianern und den sogenannten „wahren Sozialisten“ Erdmetaphern polemisch einsetzt. Marx entfesselt einen wahren Erd-Diskurs, der seinen politischen Gegnern polemisch attestiert, daß es ihnen um eine neue Verkündigung gehe, um das Reich der Liebe, darum, sich von den Schlacken des Irdischen zu befreien. „Ganz im Gegensatz zur deutschen Philosophie, welche vom Himmel auf die Erde herabsteigt, wird hier von der Erde zum Himmel gestiegen.“22 Die metaphorischen Qualitäten von Erde und Himmel müssen hier nicht eigens herausgestellt werden – es geht um die Gegensätze von Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit, von Realem und Irrealem, von Tatsachen und Fiktionen, um den Gegensatz von Materialismus und Idealismus. Immerhin verbirgt sich ein theoretisches Problem hinter den ausufernden Polemiken: In materialistischer Manier können auch diese an den Pranger gestellten idealistischen Verfehlungen auf materialistische Basisverhältnisse zurückgeführt werden, man müsse und könne sie, heißt es bei Marx, aus „den wirklichen irdischen Verhältnissen“23 heraus erklären. Philosophiekritik wird angewandte Sozialkritik. „Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik“.24

In den sozio-ökonomischen Untersuchungen nimmt Marx den Pakt mit dem Irdischen auf und erklärt, daß „die Erde in einem Rohmaterial, Instrument, Frucht ist“.25 Das heißt, Erde wird nicht als bloßes Substrat menschlicher Wertschöpfungstätigkeit angesehen, sondern als universelle schöpferische Potenz, oder, wie es in der Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie heißt: „die Erde, die Quelle aller Produktion und allen Daseins“.26 Die Erde, von der hier die Rede ist, ist weit mehr als eine ökonomische Kategorie. Sie ist Ursprung allen Daseins. Marx spricht von der „Erde als des ursprünglichen Arbeitsinstruments, sowohl Laboratoriums wie Behälters der Rohstoffe“, sie ist „ursprüngliche Proviantkammer“, „ursprüngliches Arsenal von Arbeitsmitteln“.27 Die Quelle allen Daseins wird zum Ursprung von Kultur erhoben, zu einer Erst- und Letztinstanz, die nicht zu hintergehen ist. Sie ist die Basis aller ökonomischen und ebenso aller kulturellen Entwicklungen.28 Sie ist autoproduktiv, ist autoproduktives Arbeitsmaterial und Arbeitsmittel, und sie ist Experimentalstätte zur Autokreation von Kultur. Als dieses natürlich-kulturelle Ursprungsmedium wird sie nochmals als Mutter aktualisiert, als schöpferisch-gebärendes Prinzip. Es gebe zwei „Springquellen alles Reichtums […]: die Erde und den Arbeiter“. Und: „Die Arbeit ist sein Vater, wie William Petty sagt, und die Erde seine Mutter“.29 Marx zufolge ist die Mensch-Natur-Verschränkung weltgeschichtlich grundlegend. Durch Arbeit entäußern sich menschliche Wesenkräfte, und durch Arbeit eignen sie sich im Gegenzug natürliche Wesenkräfte an. Bereits im Werkzeuggebrauch „wird das Natürliche selbst zum Organ seiner Tätigkeit, ein Organ, das er seinen eignen Leibesorganen hinzufügt, seine natürliche Gestalt verlängernd“.30 So auch im Ackerbau, durch den sich „die Erde, der Grund und Boden“ als „der verlängerte Leib des Individuums“ konstituieren. Die Erde wird zur „unorganischen Natur des lebendigen Individuums“, wird zu seinem „unorganischen Leib“.31

Angesichts dieser Mensch-Erde-Symbiosen ergeben sich ökologische Überlegungen wie selbstverständlich. Daß Marx verurteilt, wie „an die Stelle der Ehrenehe mit der Erde die Ehe des Interesses tritt und die Erde ebenso zum Schacherwert herabsinkt wie der Mensch“,32 ist nicht nur Bestandteil seiner Kapitalismuskritik, sondern führt seinen Pakt mit dem Irdischen fort. Dieser Pakt gewinnt in Marx’ Forderung eines ausgewogenen Umgangs mit der Erde kommunistische Züge. Naturrechtliche Traditionsstränge aufgreifend (nach Kant beispielsweise hätten Menschen kein automatisches „Gastrecht“, sondern lediglich ein „Besuchsrecht“ auf der Erde33), schreibt Marx dem Kommunismus mit Verve ins Stammbuch: „Vom Standpunkt einer höhern ökonomischen Gesellschaftsformation wird das Privateigentum einzelner Individuen am Erdball ganz so abgeschmackt erscheinen wie das Privateigentum eines Menschen an einem andern Menschen. Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen“.34

4 Moderne Metaphernexplosion – Das 20. Jahrhundert hat eine so große Vielfalt von philosophischen Erdmetaphern generiert, wie es philosophische Strömungen, Richtungen und Schulen gibt. Andere Einflüsse haben die Metaphorik gleichfalls stimuliert. Weder die großen Kriege noch die völkerrechtlichen Ordnungsversuche sind an Erdrhetoriken spurlos vorbeigegangen. Ökonomische und ökologische Fragen haben sich ihnen eingeschrieben. Globalisierungsvorgänge schufen und schaffen ein neues Bild der Erde, das sich auch in neuen sprachlichen Bildern niederschlägt. Raum- und Raumfahrtsrevolutionen haben ebenso wie Medienrevolutionen den Denk-, Sprach- und Kommunikationsstil der Philosophie verändert. Interdisziplinarität führt zum Austausch zwischen Wissenschaftszweigen, die sich gleichfalls auf philosophische Inhalte und Formen auswirken. Und nicht zuletzt: Ganz verschiedene philosophische Ansätze, die hier mit den Termini „Aufklärungskritik“ und „Remythisierung“ zumindest umrißhaft bezeichnet werden sollen, haben die Erdrhetoriken beeinflußt.

Unmißverständlich hatte Marx postuliert: „Die Erde ist die natürliche Form des logischen Grundes“,35 und damit den metaphorisch-semantischen Sinn des Terminus verdeutlicht. Seit dem späten Mittelalter umschloß „Grund“ räumliche Qualitäten.36 Im philosophischen Diskurs der Neuzeit war er ein Erstes oder Letztes, etwas Unhintergehbares. Und er war etwas scheinbar Sicheres, Festes. Ein Grund gründete auf nichts. Er war, im Idealfall, sich selbst Grund genug. EDMUND HUSSERLS transzendental-phänomenologisches Konzept der Lebenswelt ringt mit diesem Phänomen. Es geht um den Anfang von Wissen und um Fundamente für Kultur schlechthin. Denn Wissen, Wissenschaft und Kultur sieht Husserl in einer tiefgreifenden Krise begriffen, in einer Krise des Fundaments. Husserl sucht dieses Fundament wiederzuerlangen. Er sucht nach festen Schichten, auf die sich die Gebäude von Wissen und Kultur erbauen lassen. Wissenschaft im gegenwärtigen Status – so die Diagnose Husserls von 1936 – „geriet ins Wanken“, ihr drohe die Gefahr, in einer „skeptischen Sintflut zu versinken“.37 Dieser Radikalbefund sucht nach einer radikalen Lösung, und Husserl erhofft sie von einer Wissenschaft, die „auf einem einzigen Grunde“ beruhen soll, er sucht nach „Wissen […] aus dem letzten Grunde“, nach einer „Fundierungsordnung“ aller Wissenschaft, nach „dem Urboden alles theoretischen wie praktischen Lebens“.38

In geschichtlichem Herangehen und in der Einheit von historischer und systematischer Analyse unternimmt Husserl eine Sichtung der neuzeitlichen Philosophie mit ihren beiden naturwissenschaftlichen und philosophischen Eckpolen: GALILEI und DESCARTES. Beide hätten das Ursprungsproblem nicht entschieden genug thematisiert, wären ihm, trotz allen Methodenbewußtseins, letztlich ausgewichen. Die nachfolgenden empiristischen Schulen hätten nur skeptisch reagiert. Erst Kant habe transzendentalphilosophisch „einen Anlauf zu einer direkten, zu den ursprünglichen Quellen herabsteigenden Begründung“ des Wissens unternommen. Diese unvollendete Wende, die dem Ursprungsproblem trotz aller Verdienste nach wie vor ausweiche, sei nunmehr radikal voranzutreiben, eine letzte Wende stehe bevor: „Der in seiner Unendlichkeit eröffnete Erfahrungsboden wird alsbald zum Ackerfeld einer methodischen Arbeitsphilosophie, und zwar in der Evidenz, daß von diesem Boden aus alle erdenklichen philosophischen und wissenschaftlichen Probleme der Vergangenheit zu stellen und zu entscheiden sind“.39

Dieser „Erfahrungsboden“ ist nach Husserl die Sphäre oder die Schicht der Lebenswelt. Auf dieser Lebenswelt, dieser Schicht ursprünglicher Evidenzen, ruhe das Wissen gleichermaßen auf. Die neue Philosophie wäre „eine Wissenschaft von dem universalen Wie der Vorgegebenheit der Welt, also von dem, was ihr universales Bodensein für jedwede Objektivität ausmacht“. Sie wäre es, fiele nicht selbst dieser grundierte Boden in Bodenlosigkeit. Auch diese Lebenswelt (in ihrer Unterscheidung von objektiver und konkreter Lebenswelt), so sehr ihre Basalqualitäten in Rechnung zu stellen sind, kann nicht als Letztinstanz von Wissen fungieren: „Jeder erreichte ‚Grund‘ verweist in der Tat wieder auf Gründe“.40 Unendliche Gründe, unendliche Abgründe? Was wäre der Ausweg aus dieser Aporie? Nach Husserl sollen die komplexen Konzepte der transzendentalen Reduktion und der Epoché vom „altvertrauten Welt-Boden“ zum „Eingangstor des nie betretenen Reiches der ‚Mütter der Erkenntnis‘“ führen. Diese Konzepte umfassen selbstreflexive Korrelationseinstellungen, die dem Basiskonzept der Lebenswelt nochmals vorgeordnet sind und das scheinbare Paradox der Selbstbegründung des Unbegründbaren auflösen und bewältigen. Eine in der menschlichen Subjektivität sich objektivierende transzendentale Subjektivität ist letztendlich der Schlüssel zur „Bodengeltung der Welt als Welt“.41 Wissen findet einen letzten Grund in sich oder durch sich selbst und konstituiert rückwirkend die Lebenswelt, die umgekehrt Wissen bedingt.

Über das wissenschaftliche wie persönliche Verhältnis von MARTIN HEIDEGGER zu Husserl wird weiter gestritten werden. Sicher scheint zu sein, daß Heideggers Erd-Metaphysik bestimmte Husserlsche Motive aufgreift und modifiziert (der singuläre Terminus „geschichtlicher Boden“42 in Sein und Zeit ist offenbar eine direkte Entlehnung). Ideologische Einflüsse kamen hinzu, auch martialische Phrasen wie im Jahr 1940: „Der Kampf um die Erdherrschaft und die Ausfaltung der ihn tragenden Metaphysik bringen ein Weltalter der Erde und des geschichtlichen Menschentums zur Vollendung“.43 Vor allem das seinstheologische Spätwerk beschwört die Re-Irdifizierung des Seins, und der zunehmend zivilisationskritische Gestus verstärkt diese Tendenz.

Hier soll ein Theorem und Metaphorem des späten Heidegger nachgezeichnet werden, das die Re-Irdifizierung und Re-Theologisierung von Sein auf signifikante Weise vorantreibt: das „Geviert“. In dieser Lehre vom Geviert sind re-irdifizierende Momente unübersehbar. Mittels einer Kreuzung von natürlicher und kultureller Weltachse werden vier seinshafte Basiselemente zueinander in Beziehung gesetzt. Es sind Erde und Himmel als natürliche sowie Göttliche und Sterbliche als nichtnatürliche Instanzen. Keines dieser Elemente hat eine zeitliche oder kausale Priorität, sondern jedes evoziert in einer spiegelhaften Bindung prinzipiell das andere. Erde wird dabei vor allem im Bild archaischer Ackerbaupraktiken und Vegetationskulte gezeichnet: „Die Erde ist die bauend Tragende, die nährend Fruchtende, hegend Gewässer und Gestein, Gewächs und Getier. […] Der Himmel ist der Sonnengang, der Mondlauf, der Glanz der Gestirne, die Zeiten des Jahres, Licht und Dämmer des Tages, Dunkel und Helle der Nacht, die Gunst und das Unwirtliche der Wetter, Wolkenzug und blauende Tiefe des Äthers. […] Die Göttlichen sind die winkenden Boten der Gottheit. Aus dem verborgenen Walten dieser erscheint der Gott in sein Wesen, das ihn jedem Vergleich mit dem Anwesenden entzieht. […] Die Sterblichen sind die Menschen.“44

Mindestens zwei philosophische Probleme bewältigt dieser Mythos: Das Sein ist eine Einheit, und die Menschen sind integriert. Aber das Besondere des Modells ist seine Konkretheit. Es handelt sich um angewandte Metaphysik, die sich aus der Ebene des Abstrakten in konkrete Bilder und Metaphern hineinbegibt und diese Identitäten und Differenzen als konkrete Identitäten und konkrete Differenzen erfaßt. Kunst ist das bevorzugte Medium dieses Weltzugangs, und ohne diesen Weltbezug, ohne dieses Geviert zu dingen, sei gar keine echte Kunst möglich. Das scheint symptomatisch für Heideggers Spätwerk zu sein: Er verändert den Status von Philosophie radikal. Nicht der ohnehin individualsprachliche Duktus provoziert, sondern ein gewagtes Metaphern- und Mythenexperiment, das den Rand des philosophisch Sagbaren umspielt.

Die anhaltende Auseinandersetzung von PETER SLOTERDIJK mit Heidegger schlägt sich auch in den Erdrhetoriken nieder, die fast alle seine Werke durchziehen. Dabei sind Akzentverschiebungen unübersehbar. War Heidegger im Spätwerk trotz aller Zivilisationskritik zu einem theistisch-pantheistischen Weltvertrauen gelangt, tritt Sloterdijk als philosophischer Störer und Verstörer auf. Seinsvertrauen ist seine Sache nicht. Eines seiner wichtigsten Anliegen ist die Beförderung mißtrauensbildender Maßnahmen. So verwundert es nicht, daß er sich mit der Apostrophierung Heideggers als „letzten Kopf des agrarischen Weltalters“45 von der Erd-Apotheose distanziert und gerade dessen an sich singuläre Äußerung, die Erde sei „seynsgeschichtlich der Irrstern“,46 wiederholt würdigt. Sloterdijks philosophisches Schaffen kann letztlich als Paraphrase auf diese eine Metapher vom „Irrstern“ angesehen werden. Letztendlich erzeugt Sloterdijk die diagnostizierte Überbietung selbst. Als Metaphoriker macht er die heuristischen Leistungen von Metaphern noch in kalkulierten Überzeichnungen deutlich wie denen, daß Erde durch Mobilitäts-, Kommunikations- und Kapitalströme und im Zug der kopernikanischen Mobilmachung im Verschwinden sei. Das entscheidende Stichwort lautet: „Erdverdampfung“.47 Sloterdijk widmet sich der Geschichte der „terrestrischen Globalisierung“, mithin der Vorgeschichte dessen, was inzwischen als Globalisierung in ganz verschiedenen Wissenszweigen diskutiert wird. Der Durchgang durch die Weltbild-Geschichte bis hin zur neuzeitlichen Wissenschaft zeigt die metaphorischen Konfigurationen dessen, was hier „Globus“ heißt, unmittelbar auf. Im Sinn einer „Anthropo-Poetik, die die Menschwerdung vom Prozeß ursprünglicher Metaphernbildung her versteht“,48 wird Globalisierung mit Anspielung auf Marx als obsessive Großmetapher dechiffriert: „der Erdglobus, ein Ding voll metaphysischer Mucken […], die sich gern unter dem Anstrich des Gewöhnlichen verstecken. Er stellt einen geographisch-philosophischen Bastard dar, von dessen logischen und physischen Eigenarten sich einen Begriff zu machen keine ganz einfache Aufgabe ist“.49 Sich einen Begriff machen – genau das kann und will aber auch diese Metapherntextur nicht, denn sie spinnt am metaphorischen Gewebe fort: „Die Irre, in der sich Heideggers Erdbewohner gemeinsam mit ihrem Stern bewegen, ist die letzte Spur der verlorenen Chance, von einem Himmel umfangen zu werden. Aber auch als die Erde noch in den Ätherschalen lag, lange vor ihrer nautischen Umrundung und ihrer kosmischen Entmantelung, präsentierte sie sich, in thanatologischer Sicht, als der Stern, auf dem wissentlich gestorben wird.“50 Sloterdijks Dreiphasenmodell der terrestrischen Globalisierung will und kann nichts auf den „Begriff“ bringen. Es gewinnt gerade durch seinen eigenen metaphorischen Status Konsistenz und Plausibilität.

Wörterbuch der philosophischen Metaphern

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