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Blitz
ОглавлениеDer Blitz ist ein Lichtphänomen, das in den tragenden Bildbereich des Feuers und des Lichtes hineingehört. Meteorologisch definiert er sich als gewitterbedingte plötzliche, kurz andauernde Lichtentladung (meist zusammen mit Donnerschlägen), deren metaphorisches Bedeutungspotential sich vor allem durch die kosmisch-vertikale Herkunft von oben nach unten (vom Himmel zur Erde) und die im Wortsinn „ereignishafte“ Plötzlichkeit der explosiv sich entladenden Helligkeitsdimension herstellt. Man redet von „Blitzeinfällen“ und „Geistesblitzen“. Gerade die in ihrer Unvorsehbarkeit überraschende Vertikale dieses Lichtereignisses1 eignet sich zur Darstellung der Erfahrung transzendenter Bezüge zwischen irdischer Menschenwelt und Göttlichem. Im Moment des „Plötzlichen“ kommen uralte Motive einer spontanen Ereignishaftigkeit der sich selber schenkenden, vom Menschen nicht erarbeiteten, sondern als intuitiv erfahrenen Wahrheit zum Zug, wie es paradigmatisch PLATON schildert, wenn er die Wahrheit als evidente Form sich verströmenden Lichtes darstellt.2 Das Bild des Blitzes rezipiert in seiner Dynamik das ganze Potential eines schon in der Antike breit gegenwärtigen Bildbereichs des Augenblicks, in dem ein Umschlag stattfindet. „Der Augenblick ist die Zeit als dieses Geschehen selbst, und zwar das Geschehen des Ans-Licht-Auftauchens, vielmehr der Geburt des Lichts selbst aus dem Dunkel, des Tages aus der Nacht. – Der Augenblick ist der Blitz. In ihm liegt ein immer unerwarteter, plötzlicher Umschlag vom Unsichtbaren zum Erscheinen und Scheinen, zum Licht und zur Sicht.“3 Das wird deutlich in Platons Er-Mythos, wo geschildert wird, wie die aus dem Leben geschiedenen Seelen sich über einen blitzartigen Neueintritt in die Welt reinkarnatorisch neu verkörpern.4 Der Grundbereich „Blitz“ begünstigt sowohl eine zeitliche (Plötzlichkeit)5 als auch eine räumliche Figuration transzendenter Bezüge (von Oben nach Unten), die sich in der Übertragung dann als die Evidenz des göttlich vermittelten und daher intuitiv Erkannten darstellt.
In seinem Versuch einer kritischen Ikonologie der Philosophie hat BERNHARD H. F. TAURECK6 die Blitzmetapher als „Zuspitzung“ einer Übergängigkeit von einer poetischen zu einer philosophischen Verwendung erläutert. Seine Darstellung ist außerordentlich verdienstvoll, gleichwohl möchte ich diesem methodischen Weg in dieser weit bescheidenderen Darstellung, die sich weitgehend an die geschichtliche Abfolge und beispielhaften Anwendungen hält, nicht folgen. Ich halte mich an eine weithin deskriptive Darstellungsweise im Sinne der von RALF KONERSMANN entworfenen Historischen Semantik,7 in welcher neben der poetischen und philosophischen Blitzmetaphorik deren unaufhebbare religiöse Komponente erhalten bleibt. Es wäre falsch, die sich durchhaltende religiöse Metaphorik nicht anerkennen zu wollen, da entwicklungsorientierte Gesichtspunkte in einer historischen Metaphorologie nur unter Berücksichtigung immer wieder möglicher neuer kombinatorischer Konfigurationen von Begriffen und Sprachbildern denkbar sind. Einlinige und eindeutige Entwicklungen sind die Ausnahme.
1. Anfänge der Blitzmetapher – Der kosmische Ort des Blitzes ist schon in den ersten Dokumenten der Menschheit als ein Ort der Selbstbezeugung göttlicher Macht empfunden worden. So zum Beispiel in älteren Stufen der indischen Religion – im Vedismus und Brahmanismus:8 Die ersten Frühlingsgewitter zeigen demnach mit Donner und Blitz das Erwachen der Natur aus dem Winterschlaf an (38). Indra – der kosmische Gott par excellence – hält Blitze in seinen Händen, um sie zum Zeichen seiner Macht zu verschleudern (82); selbst die von einem Drachen gegen ihn geschleuderten Blitze können dagegen nichts ausrichten (86ff.). Sturm-, Regen- und Gewittergötter dagegen werden in ihrer fruchtbringenden Tätigkeit gepriesen (87ff.). Der Gott Rudra – neben Vishnu der mächtigste der Götter – wird um seine heilenden Pfeile gebeten (106). Der sterbende Brahmane sieht Blitze und weiß, daß sein Ende nahe ist (132). Der Begriff prãna, der neben ãtman und brahman in der indischen Mythologie und Philosophie eine entscheidende Rolle spielt, hat – als „(Lebens-) Hauch, Geist, Organ“ und damit als kosmisches Prinzip – eine feste semantische Bezüglichkeit zum Blitz, die sich in großer Verehrung dokumentiert: „Verneigung deinem Blitz, o Prãna!“, denn er „erhebt den Wahrredenden in den höchsten Himmel“ (167). Im Herzraum des Menschen lebt und wirkt nicht nur Atman (das Selbst), sondern auch Brahman; deshalb wird das Herz „Brahmanburg“ genannt, weil in seinem Mikrokosmos der Makrokosmos enthalten ist. Wenn der Brahmane verstorben ist und sein Leib verbrannt wird, dann geschieht eine große Wanderung von der Flamme in den Tag, in die Monatshälfte, in die sechs Monate, ins Jahr, in die Sonne, in den Mond und schließlich – in den Blitz, dessen „Geist“ ihn zum Brahman geleitet (189). Zeit und Raum gehen so ein in den Kosmos, und Atman wird Brahman, so daß gesagt werden kann, daß „er (Atman) als Gott in der Luft sitzt“ (und als Blitzhauch kosmisch gegenwärtig ist; 210).
2. Antike – Griechische und römische Antike haben die kosmische Bildfunktion der Blitze im Sinne HERMANN USENERS als Demonstration eines „Augenblicksgottes“ gedeutet, der „die göttliche kraft, die im blitze sichtbar wird,“ als „sondergott“ verkörpert: „Der einzelne blitz, der zur erde fährt, ist selbst die gottheit“.9 Dazu kommt die persönliche Gestalt des obersten Himmelsgottes Zeus, dessen Bezug zum Blitzeschleudern sich schon in seinem auf indogermanische Herkunft zurückweisenden Namen bezeugt: „Zeus“< idg. *dieu- „leuchten“. Vom Blitz getroffene Orte sind numinose Stätten,10 da an ihnen der von Zeus geschleuderte Blitz das göttliche Feuer hat aufscheinen lassen.
Die Phänomene des Gewitters und des Vulkanismus, die in die Feuerepiphanie des Göttlichen einfließen,11 sind dann durchaus auch metaphorische Vehikel der jüdisch-christlichen Gotteswahrnehmung im Alten12 und Neuen Testament, insbesondere in eschatologischer Perspektive.13 Die neutestamentliche Lichtchristologie bevorzugt eine Schau des Messias in Licht und Feuer. „Der historische Jesus hat erwartet, der Menschensohn werde bei seiner Ankunft gleißendes Licht verbreiten, ‚wie der Blitz von einem Ende des Himmels bis zum anderen leuchtet‘ (Mt 24,27; s. a. Lk 17,24); den endzeitlichen Sturz des Satans hat Jesus visionär als zuckenden Blitz beschrieben (Lk 10,18). Die Verheißung, der Gottesknecht werde ein Licht für die Völker sein (Jes 42,6; 49,6), deutet der Lobgesang Simeons messianisch (,ein Licht, das die Heiden erleuchtet‘, Lk 2,32); dasselbe gilt für die Hoffnung des aufstrahlenden, Finsternis vertreibenden Gotteslichts (Jes 60,1; Mal 3,20) im Lobgesang des Zacharias (Lk 1,78f.).“14 Die Rede von der Doxa (dem Lichtglanz) Gottes und im speziellen im Antlitz Christi ist fester Bestandteil der Lichtchristologie des Neuen Testaments.
Die moderne Mythendeutung, die mit GIOVANNI BATTISTA VICO eingesetzt hat, versucht, die transzendentale Semantik des Blitzes – nach Gedanken des Stoikers KLEANTHES,15 die CICERO referiert16 – in den Anfang der Geschichte einzubinden, indem sie ihn entwicklungsgeschichtlich als Vehikel einer „volksmäßigen Metaphysik“ deutet,17 die den zu rohen Giganten verkommenen Söhnen Noahs Grundformen religiöser Lebensformen aufgenötigt habe. Vicos Darstellung18 geht zurück bis zu den Nachkommen Noahs, „die ein wildes, schamloses Dasein geführt hätten, bis eines Tages ein Gewitter über den ausgetrockneten Erdboden hinwegfegte und der erste Blitz die umherirrenden Menschen, die aufgrund der Rohigkeit ihres Daseins zu Riesen herangewachsen waren, aufschrecken ließ. Zum Himmel hinaufblickend, hätten sie, nach ihrer Art von sich selbst auf die äußeren Umstände schließend, dort oben eine Ursache der Himmelserscheinungen vermutet und sich den Himmel als einen belebten Körper vorgestellt, den sie Jupiter nannten – den ersten der Götter, der in diesem wahrhaft erschütternden Augenblick durch Blitz und Donner zu ihnen sprach. – Vico vergegenwärtigt die Szene als einen ursprünglichen Akt der Erweckung, ja, mehr noch, als das Schlüsselereignis der Kulturentstehung. Kultur – in die Tradition dieser ‚blitzhaft‘ gewonnenen Einsicht stellt Vico sein eigenes Denken hinein –, Kultur entsteht aus der Trennung von Faktizität (des Sinnesdatums ‚Blitz‘) und Bedeutung (die diesem zugeschrieben wird).“19 STEPHAN OTTO hat dieses mythische Ereignis als den „grenzbegrifflichen Anfang der Geschichte der Völker“ bezeichnet: „der ‚Schrecken‘ vor einem blitzenden und donnernden Gott und der solchem Schrecken sich entbindende ‚Gedanke‘ an ihn; dieser Gedanke läßt in der Geschichte die Humanität entstehen“.20
Die Frühzeit der griechischen Philosophie offeriert einen rätselhaften Spruch HERAKLITS, der im Kontext seiner Feuersprüche eine Art Zusammenfassung des Gesagten bedeuten könnte: „Alles steuert der Blitz“.21 FERDINAND LASSALLE verdanken wir die umfassendste Deutung dieses Satzes. Der heraklitische Blitz ist demnach Ausdruck der „gegensätzlichen Natur des Feuers“,22 wie sie später DIONYSIOS VON HALIKARNASSOS auf den Begriff gebracht habe, als er „die Blitze wegen ihrer Feuernatur qualifizierte als „,Umwandlungen des zu Grunde Liegenden, in das Gegenteil wendend die menschlichen Geschicke‘ […] Denn jenes Blitzfeuer selbst sei zuerst gezwungen, seine eigene Natur umzuwandeln, wenn es nach Unten getragen wird, da ihm vermöge seiner Natur nicht erlaubt sei, auf der Erde zu lasten, sondern von der Erde nach Oben sich kehrend zu wandeln. Dies beweist auch, fügt er hinzu, unser Feuer, welches, ob es nun ein Geschenk des Prometheus oder des Hephästos ist, sobald es die Bande löst, in denen es hier zu verbleiben gezwungen wird, durch die Luft in die Höhe getragen wird zu jenem ihm verwandten. Wenn also […] jenes göttliche Feuer, durch eine starke Nothwendigkeit dazu gezwungen, auf die Erde herabsteigt, so bedeutet dies ‚Umwandlungen und Wendungen ins Gegentheil‘.“23 Damit wird klar, daß der Blitzstrahl die Aufschließung des Geheimnisses der heraklitischen Philosophie darstellt.24 Im Blitz verdeutlicht sich der heraklitische Elementarsatz vom Weg nach Oben und Unten („Der Weg hinauf und hinab ist ein und derselbe“),25 in dem sich die Beharrlichkeit der reinen Idee des Werdens mitten im Fluß des konkreten Werdens bezeugt. Der Blitz, absteigend, stirbt – zurückgehend in seinen ihn tragenden und begründenden Gedanken des Feuers. Heraklit markiert mit seinem Denken also ein Doppeltes: Der Satz „Alles steuert der Blitz“ zeigt, daß dieser als „die reinste und hellste Art, m. a. W. gleichsam das Feuer des ätherischen, göttlichen Blitzstrahls – die Fähigkeit zu leiten [hat]. Zum Teil spiegelt das die dem Äther in der populären Konzeption zugeschriebene Göttlichkeit. Wichtiger aber ist vielleicht die Tatsache, daß alles Feuer […] offenkundig die Regel eines Maßstabs in der Veränderung verkörpert, die dem Weltprozeß innewohnt und von der der Logos ein Ausdruck ist.“26 Im Rückgriff auf die Metapher wird hier nicht ein meteorologisches Phänomen benannt, sondern dessen Name für eine Funktionsbeschreibung eingesetzt, die am schwersten zu beschreiben ist: „die Einwirkung einer Kraft auf die sich wandelnden Dinge“.27
In den Oden PINDARS erscheint unser Motiv als Attribut des Zeus,28 der angesichts der Hybris der Semele, die ihn in seiner ganzen Göttlichkeit erblicken möchte, diese durch seinen Blitz tötet. In diesen Kontext gehören die folgenden Verse: „Selbst den kriegerischen Blitz löschest du [der Klang der goldenen Harfe]/Des immerwährenden Feuers“.29 Aber auch die Variante eines Blitzbezugs auf die Musik ist bekannt.30 In einem erst 1919 entdeckten Prooimion einer Dithyrambe Pindars steht nicht die besänftigende Wirkung des Harfenklangs im Vordergrund, sondern die Musik der Pauken und Kastagnetten, durch welche Dionysos den rasenden Tanz der Neaden, der wild gewordenen Frauen und Waldtiere antreibt und sogar die Götter in den Kreis der Orgie hineinzieht. Der donnernde und klirrende Rhythmus dieser stampfenden Musik „weckt den allesherrschenden Blitzstrahl selbst und treibt ihn an“, indem er „wieder einmal das Feuer zündet“.31 Ganz allgemein ist in der Signifikanz des Blitzes das göttliche Vermögen angedeutet, als lichthafte, gleichwohl undurchschaubare Transzendenz zu erscheinen und als deren göttlicher „Strahl, der in die Schattenwelt der Tageswesen fällt und deren Leben von Grund auf verändert“, auch historisch belangvolle Veränderungen zu bewirken. Es geht um das „Aufglänzen des Göttlichen“ im Augenblick,32 das aber, wie dann HEGEL betonen wird, durchaus geschichtsmäßig wirken kann. Der Blitz wird zum Prozeßgeschehen einer eigentlichen göttlichen Epiphanie33 und einer darin bewirkten Veränderung der geschichtlichen Situation.34
Der Stoiker CHRYSIPP bringt eine Semantik ins Spiel, die dann später auch bei SENECA bedeutsam wird: die Unaufhaltsamkeit und Schnelligkeit des Blitzes. Bezeichnend dafür ist die Bemerkung, „daß es den Menschen nicht zukomme, auch nur den Finger nach einer kurz anhaltenden Phronesis [Erkenntnis] auszustrecken wie nach einem Blitz“.35 Ebenso unsinnig wäre es demnach, eine nur kurz währende areté (Tugendhandlung) festhalten zu wollen wie einen Blitz. Die Blitzmetapher verdeutlicht hier ein transitorisches Geschehen, das erkenntnismäßig wie moralisch negativ zu bewerten ist. In der römischen Antike wird dieses Wirken einer göttlichen Transzendenz jedoch umgekehrt zu einer Verteidigung der Versatilität und Geistigkeit der Seele. So bei Seneca. In einem Brief an Lucilius vergleicht er die Beweglichkeit der Seele mit dem Blitz, der, „auch wenn er weithin gedonnert und geleuchtet hat, durch einen schmalen Spalt den Rückweg findet“ – „so hat die Seele, die noch feiner ist als Feuer, durch jeden Körper einen Fluchtweg“.36
In der Sammlung der Chaldäischen Orakel wird dem Blitz nochmals eine dominante Rolle im Sinne einer prisca theologia37 zuerkannt. Hier erfolgt mit großem Nachdruck der metaphorische Bezug auf das höchste Vermögen der göttlichen und menschlichen Vernunft. Nach der Auskunft des ersten Chaldäischen Orakels gibt es etwas Einsehbares,38 das nur durch die „Blume des Intellekts“, das heißt die gegenüber der zeitverhafteten diánoia (dem diskursiven Verstand) intuitiv erkennende ewigkeitlich orientierte Vernunft (nous),39 erfaßt werden kann. Dieses Intelligible läßt sich nicht wie ein beliebiger Gegenstand auffassen, denn letztlich ist es „die Macht eines leuchtenden Schwertes, das von intellektiven (Unter-) Scheidungen blitzt“.40 Adäquat erkennbar ist dieses Intelligible nur „mittels der subtilen Flamme eines subtilen Intellekts, der alles außer diesem Intelligiblen zu messen vermag“.41 Dieser „reine (vom Sinnlichen abgewendete) Blick“ der Seele, bemüht um einen „von Gedanken leeren Intellekt“, vermag dann dieses Intelligible zu erkennen.42 Der Blitz ist gewissermaßen sowohl von unten wie von oben das wirkende Prinzip.43 Sinn dieser gnosiologischen „Keraunologie“ ist der Versuch, eine heilbringende Erkenntnisweise vorzustellen, die nicht das Objekt vergewaltigt und die statt dessen versucht, sich dem Objekt zu nähern, indem sie sich ihm übergibt, um sich mit ihm auf einfache Weise zu vereinen. Sie intendiert eher, das Intelligible zu sein, als es in Begriffe zu bringen.44 Die stark theurgisch orientierten Chaldäischen Orakel übermitteln eine komplexe Denkfigur, die sich über das rein Philosophische hinaus am Blitz als an einem Vehikel göttlicher Transzendenz orientiert; sie findet zunächst im Neuplatonismus, dann vor allem in der italienischen Renaissance ihre Weiterentwicklung.45 Noch einmal sei es gesagt: Die Blitzmetapher läßt sich nicht puristisch auf ihren poetischen oder philosophischen oder religiösen Gebrauch einengen. Sie ist ein mixtum compositum, eine offene Struktur, in die immer wieder transzendierende Strahlen überraschend einschießen können.
Offensichtlich werden diese Zusammenhänge in der neuplatonischen Luminologie des DIONYSIOS AREOPAGITA, der am Ausgang der Antike eine apophatische Mystik des göttlichen Lichtes im Sinn einer Überschwenglichkeit entwickelt, aus der das Oxymoron hypérphotos gnóphos („überhelle Finsternis“) entstehen konnte. Die Ein- und Ausstrahlung des göttlichen Lichts begründet hier eine Lichtmetaphysik, nach der in einer einzigartigen Lichterscheinung „in den verschiedenen abgeschatteten Seinsregionen der Schöpfung“ Gott als lebendige Konstitution allen Seins aufscheint.46 Bereits AUGUSTINUS hat eine christliche Lichtlehre konzipiert, in welcher er die vitale Aussage über Jesus Christus in Joh 1,9: „Erat lux vera, quae illuminat omnem hominem, veniens in mundum“ mit der neuplatonischen Lichtlehre zusammenbringt.47 Daraus datiert dann die auf lebendige Gotteserfahrung abzielende Erzählung über sein Einsicht schaffendes Erlebnis, wonach sein Erkennen „zu dem gelangte, was ist, in einem Blitzschlag [in ictu] eines zitternden Anblicks“.48 Wenn er die platonische Gotteslehre auf ihre apophatische Komponente und ihre Erfahrungskompetenz auf eine „übersinnliche Erkenntnis“ festlegt, dann geschieht diese Erkenntnis „nur so, wie bisweilen in tiefster Finsternis ein heller Lichtschein flüchtig aufblitzt [uelut in altissimis tenebris rapidissimo coruscamine lumen candidum intermicare]“ und „wie ein flüchtig aufblitzender heller Lichtschein“, der sich dem Geiste der über den Körper erhobenen Weisen kundtut.49 Dieser rein intellektualen mystischen Erfahrung (visio intellectualis), die Augustinus als höchste Möglichkeit der Schau vorstellt, sind die beiden Formen der „körperlichen“ (visio corporalis) und der „einbildlichen“ Vision (visio imaginalis), welche sinnliche Vorstellungen und körperliche Wahrnehmung nicht ausschließen, ergänzend zur Seite zu stellen, die einem menschgewordenen Mittler zwischen Gott und Menschen konform sind. Christliche Mystik rechnet – über neuplatonische Vorstellungen hinaus – immer mit der menschlichen Leiblichkeit und ihrem Instrumentarium der Sinne.
3 Mittelalter – Die Behauptung, daß zwischen Dionysios und der Moderne „tausend Jahre“ vergehen mußten, „ehe wieder Metaphern des Blitzes gewagt wurden“,50 ist in dieser Zuspitzung sicher falsch. Die Literatur des Mittelalters ist reich an intensiv-rasanten Blitzerkenntnissen, die sich allerdings nur im Intertext von Theologie-Philosophie-Dichtung finden und nicht als rein philosophische isoliert werden können. Schon die Literatur über die Jenseitsreisen, in denen Topographie und Meteorologie des Jenseits erkundet werden,51 und dann vor allem die mittelalterliche Visionsliteratur setzen eine luminale Blitzmetaphorik in Szene, die weite Wahrnehmungs- und Erkenntnisbereiche des Menschen zu öffnen versuchen. Daneben entwickelt sich die Metaphorik der blitzhaften Erkenntnis aus Intuition und privilegiert weiterhin den Begriff des fulgor veritatis.52
Nicht BERNHARD VON CLAIRVAUX, sondern seinem Freund und Gesinnungsgenossen WILHELM VON ST. THIERRY ist die Formel vom Wahrheitsblitz (fulgor veritatis) zu danken, die dann für DANTE ALIGHIERI53 – hier allerdings wiederum unter der Ägide Bernhards54 – bedeutsam werden konnte. Der Blitz spielt als Metapher in der ganzen Divina Commedia eine entscheidende Rolle als Zeichen einer auf Gott bezogenen Herrlichkeit: Engel blitzen mit ihren Schwingen (31, 132), Selige erscheinen in der Klarheit des Blitzes (5, 108 u. pass.), Beatrices Schönheit gibt sich blitzhaft zu erkennen (21, 11), der Himmel blitzt (30, 51, 62), ebenso und zuhöchst die mystische Erscheinung Gottes als offenbares Geheimnis (25, 79f. u. pass.) – dies alles aber ereignet sich nicht in einem bloß phänomenalen Rahmen, sondern immer in Zusammenhang mit Initiationen ins menschliche und göttliche Geheimnis und mit Erkenntnisvorgängen. Das interessante Problem, ob Dantes Metaphernverwendung eher poetisch als philosophisch ist, also eher von den Bildern ausgeht oder von deren Erklärungen,55 bleibt eine Ermessensfrage. Im Grunde ist wohl beides vorauszusetzen: höchste Bildungsvorgaben, gewonnen aus einer wirksamen mittelalterlichen Schriftsinnshermeneutik und Bedeutungskunde,56 welche die Möglichkeiten von Inter- und Kontextualität eröffnen, – aber auch freieste schöpferische Fähigkeit zur Selbstüberschreitung poetischer Gestaltung, so daß Dantes poetische Metaphern grundsätzlich doch „als grenzbefreites Sagen“57 zu werten sind. Das zeigt sich schon am Anfang von Dantes Paradiso, wo festgehalten ist: „Verklärung kann man nicht mit Worten sagen,/Darum muß dem das Gleichnis schon genügen,/Dem Gnade das Erleben vorbehalten.“58 Die Anschauung Gottes erfährt er als „Feuer“ und Feuererscheinungen (vgl. 25, 79–82). Dem „finalen Blitz“ der Divina Commedia kommt in hohem Grade Ereignischarakter zu. Vorbereitet wird diese Szene durch die Aufforderung des Heiligen Bernhard, die Augen auf die erste Liebe zu richten, um deren Glanz (per lo suo fulgore) anschauend zu durchdringen (32, 142–144). Und die volle Gottesschau ergibt sich gnadenhaft in einer Überschreitung aller Menschenworte (33, 55) als ein Augenblick (un punto solo; 33, 94), in dem die Schau auf den in drei Lichtkreisen sich präsentierenden Gott aufs äußerste konzentriert und das darauf reagierende menschliche Reden des Sehers aufs Lallen eines Kindes reduziert wird. In diesem Augenblick wurde – versichern die Verse lakonisch – „Mein Bewußtsein durch und durch getroffen/Von einem Blitz [un fulgore], in welchem kam, was sein Wille war.“ (33, 141f.). Man kann und muß in diesem Ereignis den breiten Strom platonisch-aristotelischer und neuplatonisch-christlicher Lichtmetaphysik einmünden sehen, um die Inständigkeit dieser vitalisierten Kontemplations- und Lichtmystik59 zu ermessen.
Der ganze weite Bereich der lateinischen und volkssprachlichen Mystik vom frühen bis zum späten Mittelalter wäre im Blick auf Dante nochmals eigens zu durchforschen, und mit Sicherheit wird man für das Lexem „Blitz“ fündig werden. Ein Blick in die vorliegenden Metapheruntersuchungen kann das belegen:60 Die bewegte Einheitsschau der von Gott mystisch bewegten Seele ist ohne die Augenblicksund Lichtmetapher gar nicht zu denken.61 Denn – wie wenigstens mit einem Zitat aus Meister Eckhart belegt werden soll – die „Erleuchtung“ des Geistes durch Gott ist meistens blitzhaft kurz: „Diu ander sache ist, daz des innern menschen leben an schouwen und an minnen mac langer wern unde belîbet doch niht in dem hoehsten schouwenne angespannen, wan der hoehste înblik des liehtes der belîbet niht lange in stêter üebunge, mêr: er vergêt snelle als ein schîn des blitzes vor den ougen.“62
4 Neuzeit und Moderne – Die Reprise platonischer Gedanken in der „Radiokratie“63 des 15. Jahrhunderts unter der Ägide des Florentiner Domherrs MARSILIO FICINO bewirkte ebenfalls eine solche der chaldäischen „Keraunologie“,64 da die erwähnten Chaldäischen Orakel gewissermaßen die Bibel der Neuplatoniker darstellten. Obgleich sie zeitweise verschollen waren, muß die Renaissance platonischen Gedankenguts neben dem Corpus Hermeticum (das Ficino 1471 in eigener lateinischer Übersetzung edierte) und der (neu)platonischen Tradition (die er durch die Übersetzung der Werke von Platon und PLOTIN inszenierte) mit den Chaldäischen Orakeln in Berührung gekommen sein.65
Die Vorbildung der Blitzmetapher in diesen Orakeln liegt im Konzept von Ideen, die dem göttlichen Intellekt wie „unerbittliche Blitze“66 zur Formung erster Materie entspringen und damit die neuplatonischen Weltentstehungstheorien animieren.67 Ficino thematisiert den Lichtblitz in bezug auf Schönheit und Liebe, die aus seiner Sicht die entscheidende Erfahrungsbasis des Menschen erschließen. Licht ist für Ficino die absolute Metapher für die göttliche Selbstgestaltung und Selbstidentität (als splendor): Gott ist „unius lux, divinitatis fulgor, fulgor dei. Von dem Zentrum des Ganzen gehen Kreise aus, die in je verschiedener Seinsintensität auf den einen Ausgangspunkt hin bezogen sind und so von ihm bestimmt bleiben: mens, anima, natura, materia. Durch ihr je eigenes Zentrum sind sie mit dem Zentrum des Ganzen verbunden. Mit der Lichtmetapher gesagt: Gott ist absolutes Licht-Zentrum, ‚absolut sich in sich selbst sammelnd‘; er geht aber auch aus sich heraus, d.h. er erscheint als Licht-Kreis um sich selbst; Schönheit als dieser Strahl Gottes […] erwirkt den erscheinenden Licht-Kreis und die ihm folgenden Kreise.“68 Die Macht des Lichtes besteht nach De lumine (1476, zweite Fassung 1492) darin, daß es als vinculum universi sowohl den ganzen Kosmos wie die menschliche Einheit von Körper und Seele begründet und verbürgt. Dies geschieht dadurch, daß der göttliche Intellekt, welcher die Gesamtheit aller Ideen oder Formen in sich enthält, in der Dynamik eines Strahls ausströmt, über die Ordnungen der Engel zum Menschen dringt und so die Vielheit alles dessen, was ist, in Einheit gründen läßt.69 Göttliche Schönheit durchformt alles.70 Ficinos Radiokratie erfüllt sich in der blitzhaft, allzeit und im Nu sich auswirkenden Macht göttlicher Lichtausstrahlungen. Der göttliche Blitz ermächtigt alles in der Welt zum lichtvollen Sein, indem er als thearchische Kraft in Kaskaden von Lichtergießungen entlang der hierarchischen Stufenleiter der seienden Dinge von Stufe zu Stufe – von denen jede der Spiegel der vorangehenden ist – absteigt: vom Göttlich-Überintelligiblen zum Intelligiblen der Engel zum Rationalen und Sinnlich-Materiellen.
CHARLES DE BOVELLES [BOVILLUS], der mit den gelehrten Humanisten der Zeit in Kontakt stand und neben Ficino auch RAIMUNDUS LULL, NIKOLAUS VON KUES, PICO DELLA MIRANDOLA und mit diesen das Wissen der Zeit rezipiert hatte, führte die Keraunologie der Renaissance zum Konzept eines vollendeten Menschentums weiter, das er in seinem Livre du Sage entworfen hatte. Ziel der Menschheitsentwicklung ist der Weise, der wie ein Gott auf Erden waltet und die beiden getrennten Sphären von Denken und Materie71 in seiner Eigenschaft als „Bild Gottes“ und in diesem Sinne als vitale adunatio und medietas72 der Schöpfung zu versöhnen vermag. Wie bei Ficino sammelt der Mensch die göttlichen Strahlenblitze in seiner Existenz: „Der Mensch ist der Spiegel von allem, der in sich alle Bilder enthält und reflektiert. Der Mensch ist schließlich Blitz, Wissen, Glanz und Weltseele [Homo denique fulgor est, scientia, lux et Anima mundi], während die Welt wie der Körper für den Menschen ist.“73 Die Fähigkeit des Menschen, mit seinen Augen Licht zu empfangen und seit Geburt sich schauend der Welt zuzuwenden, hat ihre Grenze, wenn es um ihn selber und sein Inneres geht. Daher die Empfehlung des Autors an seinen Leser,74 daß er – „erleuchtet von der glänzenden Fackel der Weisheit“ – in sich selber schauen möge. Denn nicht wie die körperlichen Augen sind die inneren offen und klar, sondern im Gegenteil verdeckt und verschmutzt. Man muß sie reinigen, damit „sie ganz Licht werden und überall hin zu schauen vermögen“.75 Beachtenswert ist die Aufnahme mystischen Gedankenguts, wonach die Tiefe der Seele einer aufklärend-erleuchtenden Reinigung bedarf, bevor sie für den Einschuß des göttlichen Blitzes fähig ist.
Für JACOB BÖHME ist der Blitz ein Moment der Selbstgebärung Gottes. Aus dem göttlichen „Ungrund“ vollzieht sich eine Reihe schubweiser Entwicklungen hinunter bis zur Natur, deren Rückhalt in der Selbstgeburt Gottes zu finden ist. Gott definiert sich aus dem Widerspruch zweier Bibelstellen (Deut 4,24; 4,31), wonach Gott gleichzeitig zornigverzehrendes Feuer und „Liebesflamme“ ist. Rechtes Erkennen hat sich dieser in Gott vorgegebenen Differenz und dem „Willen“ im göttlichen „Ungrund“ zu stellen. Aus seiner Selbstbeschaulichkeit heraus initiiert Gott den Prozeß der „ewigen Natur“, der sich in sieben Naturgestalten oder Qualitäten, das heißt faktisch in dialektischen Entgegensetzungen ausformt. Gottes Selbstoffenbarung zeigt sich zuerst in der zusammenziehenden Kraft der ersten Qualität, dem „Herben“. Deren Gegenkraft ist der „Bitter-Stachel“, welcher das Herbe zu zerbrechen sucht. Im Bild des sich drehenden Rades dokumentiert sich dieser Konflikt drittens als „Angst“ und entlädt sich viertens im „Feuer-Schrack“ (Blitz), der in Gott die Scheidung zwischen den zwei Prinzipien, „Feuer“ und „Licht“, bewirkt. „Mit der fünften Gestalt, in der sich die Einheit Gottes als Liebe (Licht) offenbart, um mit der sechsten (Hall, Schall) in der Mannigfaltigkeit ihrer Kräfte ‚lautbar‘ zu werden (das geoffenbarte ‚Wort‘), setzt sich, spiegelbildlich zur ersten bis dritten Gestalt […] die Leibwerdung Gottes in einer ins Licht gewandelten Feuerwelt fort bis hin zu der in der siebten Gestalt als wesentliche Weisheit sich vollendenden Geistleiblichkeit.“76 Dem Feuerblitz oder „Schrack“ kommt die wichtige Rolle einer Scheidung von Gut/Licht und Böse/Dunkel in Gott zu. Mit anderen Worten: Die mythische Kraft der Blitzmetapher meint keine Strafaktion, sondern leitet „Böhmes großes dramatisches inneres Schauspiel der Trennung von Gott und Welt, Gut und Böse, Liebe und Haß“77 ein.
ANGELUS SILESIUS (d. i. JOHANNES SCHEFFLER) macht sich mit seinen selber blitzhaft vorpreschenden Alexandrinerepigrammen zum Echo Böhmes, wenn er feststellt: „GOTT IST FINSTERNIS UND LICHT./Gott ist ein lautrer Blitz und auch ein dunkles Nicht,/Das keine Kreatur beschaut mit ihrem Licht.“ Trotz dieser negativen Theologie, die es sich versagt, zu Gott vorzudringen, soll der Mensch demütig den Blitz der Zeit beachten, wozu ihn der Blitz der Ewigkeit selber verpflichtet: „IN DER HÖHE WIRD GOTT GESCHAUT./Hinauf! Wo dich der Blitz mit Christo soll umgeben,/Mußt du wie seine drei auf Tabors Höhe leben.“78
5 Philosophische und poetische Lesarten der Moderne – Am Anfang der eigentlichen Moderne steht LEIBNIZ mit seiner Übernahme der Keraunologie im Kontext göttlicher creatio continua; er belegt die göttliche Erhaltung der Geschöpfe mit dem französischen Begriff „Fulguration“ und meint die unaufhörliche und blitzhafte Einstrahlung seines Seins: „Somit ist Gott allein die ursprüngliche Einheit oder die einfache Ursubstanz, deren Erzeugung die geschaffenen oder abgeleiteten Monaden sind; und sie entstehen gleichsam durch kontinuierliches Aufleuchten von Augenblick zu Augenblick [par des Fulgurations continuelles de la Divinité de moment à moment], begrenzt durch die Aufnahmefähigkeit des Geschöpfes, zu dessen Wesen es gehört, beschränkt zu sein.“79 Für Leibniz ist also Schöpfung „kein einmaliger Akt, sondern ständige (immerwährende), freie, mit seinem ‚Blick‘ identische, Sein setzende [par une manière d’émanation] und zugleich erhaltende Wirksamkeit Gottes. F[ulguration] präzisiert die Metapher ‚Emanation‘, indem sie Vielfalt, Plötzlichkeit, Schnelligkeit und lichtende Funktion des Existenz schaffenden göttlichen Denkens zeigt, dem als Erwirktes die perspektivische, den Erwirkenden je verschieden in sich spiegelnde Ganzheit der Monaden entspricht“.80
IMMANUEL KANT versucht den Blitz in den Kontext „der Natur als einer Macht“ einzuordnen, und er äußert sich darüber souverän als einer, dem jetzt möglich ist, was früheren Zeiten undenkbar schien, nämlich die richtige Einschätzung einer als berechenbar beurteilten Gefahr: „[…] am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, […] u. d. gl. machen unser Vermögen zu widerstehen in Vergleichung mit ihrer Macht, zur unbedeutenden Kleinigkeit.“81 Im Zusammenhang neu gewonnener Überlegenheit über die Natur und ihre Schrecken, die sich aus der Einsicht in die Berechenbarkeit und Eingeschränktheit solcher Ereignisse herleitet, bezeugt Kant Interesse an der von BENJAMIN FRANKLIN neu entdeckten Möglichkeit, metereologische Blitze mittels Eisenstangen zu entschärfen82 – ein Vorgang, den CHRISTOPH MARTIN WIELAND in seinen Göttergesprächen als eine „Theologie der emeritierten Götter“ scherzhaft auf den Begriff gebracht hatte; der alternde Jupiter antwortet seiner auf die altererbte Macht der Götter pochenden Gattin: „Wunderliche Frau! Was willst du, daß ich thun soll? – Nichts davon zu sagen, daß wir Götter mehr als die Hälfte unsrer Macht mit dem Glauben der Menschen an uns verloren haben, würde ich sie etwa durch Blitze und Donnerkeile vernünftiger machen?“83 Hiermit scheinen die vormals herrschenden Götter depotenziert und die Natur in jene Distanz gerückt zu sein, wie es schon 1755 JOHANN JOACHIM EWALD in seinem Gedicht Der Sturm geschildert hatte: Der Mensch schaut dem Sturm, dem Donner und den Blitzen wie einem Schauspiel gemächlich zu – eine Unbetroffenheit, die als „neue Position des Menschen in der Natur“84 erkannt werden kann.
1776 taucht Benjamin Franklin als erster Botschafter aus der Neuen Welt in Paris auf und wird als Prometheus und Heilsbringer gefeiert, der den revolutionären Akt der Selbständigkeitserklärung Amerikas mit dem Sinngehalt einer Emanzipation des Menschen von dem mittels Naturkräften strafenden Gott zusammenzwingt.85 ANNE ROBERT JACQUES TURGOT hat den Vorgang epigrammatisch zusammengefaßt: „Er entriß dem Himmel den Blitz und das Zepter den Tyrannen“. Damit ist das vormals geheimnisvolle Lichtereignis in die Macht des Menschen gegeben, und – möchte man meinen – dessen numinos-transzendierende Macht gebrochen. Mitnichten – denn neue Ängste machen sich breit: Der Mensch selber wird sich zur Gefahr; der Untergang der Welt ist dann allerdings nicht mehr das Arrangement Gottes, sondern das eines seiner entgrenzten Spielfreude hingegebenen Menschen.
Trotz der immer wieder versuchten Säkularisierung des Blitzes – einer Geschichte, die neben ihrer antireligiösen Pointe vor allem auch eine politisch-emanzipatorische Dimension zwischen den Revolutionen von 1789 und 1848 entwickelt86 – bleibt ihm eine potentielle Vermittlungskompetenz zur Transzendenz. Das wird sichtbar in den poetischen Adaptionen bei FRIEDRICH GOTTLIEB KLOPSTOCK und JOHANN WOLFGANG GOETHE, wenn auch in sehr unterschiedlicher Akzentuierung.87 Während Klopstock in seinem Gedicht Frühlingsfeier von 1759 den Blitz als „den zückenden Strahl“ oder „den fliegenden Strahl“ eines „Zeugen des Nahen“, das heißt des „Allmächtigen“ und damit strafenden Gottes evoziert, berufen sich Goethes Grenzen der Menschheit auf einen gütigen Gott: „Wenn der uralte/Heilige Vater/Mit gelassener Hand/Aus rollenden Wolken/Segnende Blitze/Über die Erde sät“. In seinem Gespräch mit JOHANN DANIEL FALK umschreibt Goethe die allem Seienden und der Welt im Ganzen inhärente Idee als eine Monade, deren metamorphotische Entwicklung – des Blattes zur Blume, des Eis zur Raupe und der Raupe zum Schmetterling – blitzartig entbunden wird: „Die Intention einer Weltmonade kann und wird Manches aus dem dunkeln Schoose ihrer Erinnerung hervorbringen, das wie Weissagung aussieht und doch im Grunde nur dunkle Erinnerung eines abgelaufenen Zustandes, folglich Gedächtnis ist; völlig wie das menschliche Genie die Gesetztafeln über die Entstehung des Weltalls entdeckte, nicht durch trockene Anstrengung, sondern durch einen ins Dunkel fallenden Blitz der Erinnerung“.
6 Religiös-intuitive Lesarten der Moderne – Wie von Goethe exemplarisch zum Ausdruck gebracht, wird der Blitz hinfort immer häufiger zum Signal einer Bekehrung, Berufung, zum Zeichen einer „Krisis“ im Lebenslauf, das heißt einer Entscheidungssituation. Dieser Wendepunkt im Leben wird nicht unbedingt rational-diskursiv erarbeitet, sondern weist in Form einer übermächtigenden Intuition den Weg. Es kann dabei um religiöse oder bloß säkularisierte Sichtweisen aufs menschliche Leben gehen – wesentlich ist die Augenblicklichkeit der Einsicht.
In der frühen Neuzeit beginnen die Blitzentscheidungen, die einem Leben eine völlig unerwartete Wendung geben können, exemplarisch mit MARTIN LUTHER, der – hagiographische Vorgaben des Mittelalters überbietend – am 17. Juli 1505 im Erfurter Konvent des Augustinereremitenordens um Aufnahme ins Kloster bat. Am 2. Juli, als er anläßlich eines schweren Gewitters erleben mußte, wie ein Blitz in einen Baum schlug, hatte er in höchster Todes- und Gerichtsangst die Heilige Anna angerufen und das Gelübde geleistet, eine Bußexistenz im Orden zu führen.88
EMANUEL SWEDENBORG, der „Geisterseher“, erlebt im Herbst 1736 zur Zeit seiner ersten religiösen Krise eine Berufungsvision in Form eines „Evidenz-Erlebnis[ses] in Gestalt eines aufflammenden Lichtes.“89 Er war bei seinen Vorstudien zu einem naturwissenschaftlichen Werk über das Regnum animale in einen Problembereich geraten, der ihn bedrängte. Da plötzlich spürt er „eine Veränderung seines Zustandes“, sieht „ein gewisses außerordentliches Licht in den Dingen, die niedergeschrieben wurden“,90 und die intuitive Einsicht in eine wissenschaftliche Problematik – blitzartig in Form einer Erleuchtung – bietet die lange gesuchte Lösung. Solche Blitzvisionen werden sich dann mehrmals wiederholen.91 Solchen Adaptionen der Blitzmetapher im Sinne eines Wendepunkts folgt noch FRANZ VON BAADER, wenn er den Blitz „als theologische und kosmologische Metapher“ aufnimmt, „in der die Selbstkonstitution und kreative Manifestation Gottes deutlich werden soll. ‚Blitz‘ ist Übergangsmoment in einem ternarischen Prozeß von Finster zu Feuer und Licht: Im Finsterfeuer ist ein zur freien Offenbarung Strebendes noch gehemmt, der Blitz hebt diese in Gott bestehende Hemmung oder Spannung auf, er bricht ‚kämpfend‘ durch, ‚explodiert‘ gleichsam und erreicht im Licht seine Erfüllung; in der Transformation von Widerständigkeit in Freiheit ist er ‚Vater des Lichtes‘“.92 Demnach hat die Philosophie den Blitz im heraklitischen Sinn als „den absoluten Herrn der Natur, als den alles von innen Auflösenden (als Schreck, Percussio und Decussatio, weswegen Ignis und Crux dieselbe Bedeutung haben)“93 anzuerkennen. Wie Baader weiter ausführt, repräsentiert der Blitz für den Menschen den Wendepunkt zwischen Finsternis- und Lichtwelt.94 Der Konnex von Finsternis, Blitz und Licht wird zur komplexen und dynamischen Chiffre für kosmische, biologische und geistige Bezüge der menschlichen Existenz.95
JOHANN GOTTFRIED HERDER und Goethe lehnen den leibnizschen Begriff der „Fulguration“ ab und reden lieber von den „Manifestationen unseres Gottes“, welche die „Organisation“ der Natur ordnen und leiten.96 SCHELLING dagegen übernimmt den Begriff bereitwillig, wenn er den Begriff des Göttlichen mit dem „All“, das heißt dem nicht teilbaren Ganzen der Ideen als „Wort“ Gottes identifiziert. Im Vergleich mit Gott als dem sich selbst affirmierenden „All“ sind die Dinge „nur Ausstrahlungen […], Fulgurationen der unendlichen Bejahung“.97 Die göttliche creatio continua wird mit Blitzmetaphern umschrieben: „Ein Schein der Gottheit“ geht „durch jedes Ding.“98 So stehen alle Dinge, auch und vor allem das menschliche Subjekt, in engster ontologischer Abhängigkeit vom göttlichen „All“ als „Fulgurationen jenes Höchsten, […] Erscheinungen, in denen das menschliche Selbst sich als Werkzeug oder Organ jenes Höchsten versteht“.99
KARL MARX spricht „vom „Blitz des Gedankens“, der – im naiven Volksboden einschlagend – „die Emanzipation der Deutschen zu Menschen vollziehen“ soll.100 FRIEDRICH NIETZSCHE hat die Blitzmetapher reichlich verwendet, zunächst sicherlich als Naturerscheinung und dann als Vergleich und Metapher für die Konstitutionierung seiner Philosophie. Bei seiner Inanspruchnahme der Blitzmetaphorik dominieren folgende semantische Konnotationen: „Plötzlichkeit des Erscheinens […], das Durchbrechen des Gewohnten und Erwarteten, das Gefährliche, das Verwandelnde und Transformierende sowie das Überwältigende.“101
7 Gegenwart – Im 20. Jahrhundert schließlich hat MARTIN BUBER in seinem Entwurf einer personal orientierten dialogischen Philosophie Ich und Du (1923) die kindliche Wahrnehmung als ein Leben „im Blitz und Widerblitz der Begegnung“ gedeutet,102 das sich dann zu einer schockhaft erfahrenen Seinsweise klärt und klären muß, in der mit einem Mal der kosmische Bereich („das Ich in der Welt“) und der Seelenbereich („die Welt im Ich“), nachdem sie auseinandertraten, gleichzeitig auf einmal erblickt werden: „[…] ein Augenblick kommt, und er ist nah, da sieht der schaudernde Mensch auf und sieht in einem Blitz beide Bilder auf einmal. Und ein tiefer Schauder erfaßt ihn.“ Dieser Intuition schließt sich eine nochmals klärende Schlußperiode an, in der „das Menschenleben dann so von Beziehung durchwirkt“ ist, „daß sie in ihm eine strahlende, durchstrahlende Stetigkeit gewinnt; die Momente der höchsten Begegnung sind da nicht Blitze in der Finsternis, sondern wie ein aufsteigender Mond in einer klaren Sternennacht“.103 Solche aus Glaubenskompetenz heraus gesprochenen Worte sind Zeichen einer neu erweckten und beruhigten Transzendenz, die sich über die dialogische Verfaßtheit des Menschen entfalten darf, aber ihren Rückhalt in den Liebesgeboten des ersten und zweiten Testaments besitzt.
Es blieb MARTIN HEIDEGGER vorbehalten, die Suggestion einer neomythischen Transzendenz des Seinsereignisses im Bild des Blitzes auferstehen zu lassen. Schon in seiner Dissertation von 1914 kam dem „impersonalen Urteil“ im „subjektlosen“ Satz: „Es blitzt“ eine starke Bedeutung zu. Heidegger deutet ihn folgendermaßen: „Mit dem Urteil ‚es blitzt‘ wird jedoch ein anderer ‚Gedanke‘ [als die Aussage eines momentanen Zustands] geäußert, d.h. es hat nicht den Sinn eines Benennungsurteils. Das Urteil sagt vielmehr, daß etwas geschieht; auf dem Stattfinden, dem plötzlichen Hereinbrechen ruht der Gedanke. Dementsprechend findet der Sinn des Urteils seine genaue Bestimmung, wenn dem Urteil die Form gegeben wird: ‚Das Blitzen ist wirklich‘, ‚vom Blitzen gilt das Wirklichsein‘, genauer ‚das Existieren‘ […]. Endgültig treffen wir den vollen Sinn, wenn wir sagen: das mit dem Wort Blitzen Gemeinte realisiert sich; ‚von dem Blitzen gilt das jetzt Stattfinden, das momentane Existieren.“104 Damit ist – wie sich im Rückblick zeigt – die Weiche für die semantische Offenheit und Relevanz von „Blitz“ und „blitzen“ gestellt: Im ‚es‘ kann sich leicht das Sein als ein Jenseits alles Seienden etablieren und als Existenzurteil zum Tragen kommen. In diesem Sinne spricht der junge Heidegger von den „Endfragen des Seins, die zuweilen so jähe aufblitzen, und die dann manchen Tag ungelöst auf der gequälten, ziel- und wegarmen Seele liegen“.105 Nicht unumstritten, aber um so insistenter versucht Heidegger seit Ende der vierziger Jahre, Sprache und Sein im Blick auf die heraklitische Logoslehre ineins zu denken. Obwohl es bei den Griechen keinesfalls eine Gepflogenheit war, „das Wesen der Sprache unmittelbar aus dem Wesen des Seins“106 zu denken, war es doch möglich: „Einmal jedoch, im Beginn des abendländischen Denkens, blitzte das Wesen der Sprache im Lichte des Seins auf. Einmal, da Heraklit den lógos als Leitwort dachte, um in diesem Wort das Sein des Seienden zu denken. Aber der Blitz verlosch jäh. Niemand faßte seinen Strahl und die Nähe dessen, was er erleuchtete. – Wir sehen diesen Blitz erst, wenn wir uns in das Gewitter des Seins stellen.“107 Das berühmte Heraklitwort, wonach der Blitz alles steuert,108 bekommt dann seine entscheidende Bedeutsamkeit im Blick auf das Sein, dessen Augenblickspräsenz es bezeugt. Dementsprechend konkretisiert Heidegger die „Kehre“ als ein „jähes Sichlichten“ und als ein „Blitzen“. Die „Kehre“ ist „Einkehr“: Denn „das Wesen der Technik“ bewirkt „das Ereignis der Kehre der Vergessenheit“ des Seins, dessen Geschehen sich als Blitzen der „Wahrheit des Seins“ dokumentiert. Diesen Blitz erläutert Heidegger im Rückgriff auf den etymologischen Zusammenhang des Wortes mit „Blick“: „,Blitzen‘ ist dem Wort und der Sache nach: blicken. Im Blick und als Blick tritt das Wesen in sein eigenes Leuchten. Durch das Element seines Leuchtens hindurch birgt der Blick sein Erblicktes in das Blicken zurück. Das Blicken aber wahrt im Leuchten zugleich das verborgene Dunkel seiner Herkunft als das Ungelichtete. Einkehr des Blitzes der Wahrheit des Seins ist Einblick […]. Einblitz von Welt in das Gestell ist Einblitz von Wahrheit des Seins in das wahrlose Sein. Einblitz ist Ereignis im Sein selbst. Ereignis ist eignende Eräugnis“.109 Heideggers Beiträge zur Philosophie reden dann geradezu werbend von der „Besinnung auf die Gründung des Daseins als einer Notwendigkeit, die Ruhe und lange Bereitschaft für die zögernde Plötzlichkeit der Augenblicke fordert“.110 Demnach besteht die Gefahr, daß dem Sein jede Wirksamkeit durch „Machenschaften“ genommen wird. Daß diese Notlage den Rahmen einer geschichtlichen Eschatologie evoziert, macht Heideggers Verknüpfung des Seinsgehorsams mit dem Wiederkommen des „letzten Gottes“ deutlich: „Die Vorbereitung des Erscheinens des letzten Gottes ist das äußerste Wagnis der Wahrheit des Seyns, kraft deren allein die Wiederbringung des Seienden dem Menschen glückt.“111