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Band, Kette

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FRIEDRICH NIETZSCHE sagt uns am Ende des 19. Jahrhunderts, wir hätten mit der Tötung Gottes auch „diese Erde von ihrer Sonne“ losgekettet.1 Damit zitiert er den Anfang der großen Erzählung von der „Großen Kette der Wesen“, die Zusammenhang und Ordnung der ganzen Welt garantiert, nämlich PLATONS Diktum, HOMER habe mit der seire chryseie, dem goldenen Seil oder der goldenen Kette, die Sonne gemeint.2 Das Ende dieser Erzählung wird mit Nietzsches Bild markiert: Wir sind kein Glied in der „Großen Kette der Wesen“ mehr – uns bleibt nur noch die Herstellung der „goldnen Kette [unseres] Selbst“.3

Schon in einem orphischen Fragment aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. ist die Absicht erkennbar, das Problem der Einheit der Welt zu lösen, wenn Maia dem Zeus dazu rät, „,ein festes Band [desmon karteron]‘“ um die Welt zu schlingen, „,ein goldenes Seil/eine goldene Kette [seiren chryseien], die vom Äther herabhängt.‘“4 Dieses Seil-/Kettenmodell ist eine absolute Metapher im Sinne HANS BLUMENBERGS, zielt es doch auf eine begrifflich niemals einholbare Totalität, nämlich die Einheit der Welt in der erfahrenen Disparatheit des Weltlichen. Warum und wie ist es verbunden?5

1 Verbindungen mit und ohne Band – Auf die Frage nach dem Wesen der Verbindung antwortet Platon: „Nur zwei Bestandteile aber ohne einen dritten wohl zu verbinden, ist nicht möglich [dyo de mono kalos synhistasthai tritou choris ou dynaton]; denn inmitten beider muß ein beide verknüpfendes Band [desmon amphoin synagogon] entstehen. Das schönste aller Bänder [desmon de kallistos] ist nun das, welches das Verbundene und sich selbst soviel wie möglich zu einem macht [hos an hauton kai ta syndoumena hoti malista hen poie].“6 Mit dieser Behauptung wird eine naheliegende Unterscheidung zwischen Verbindungen mit und ohne Verbindendes unterlaufen.

Auch Verbindungen, die scheinbar ohne ein Drittes auskommen, bedürfen eines Dritten. Die eben genannte Unterscheidung ist dann zu reformulieren als eine zwischen Verbindungen mit einem „äußeren“ und denen mit einem „inneren“ Band. Dies läßt sich gut im Vokabular des deutschen Idealismus nachweisen. Dem „äußeren“, „äußerlichen“, „leeren“, „eitlen“, „gezwungenen“, „erzwungenen“, „aufgelegten“, „fremden“, „toten“ wird das „innere“, „lebendige“, „freie“, „tätige“ „Vereinigungs“-Band gegenübergestellt.7

Die philosophisch besonders brisante Konsequenz findet sich bei SCHELLING. Um einen Verbindungsregreß zu vermeiden – wenn ein Band A und B verbindet, dann muß es auch ein weiteres Band geben, das die Dreiheit von Band, A und B verbindet usw. –, muß das Band als etwas gedacht werden, das für seine eigene Verbindung sorgt. Schelling deutet jene Timaios-Stelle so, daß das Band dasjenige ist, das das Verbundene aus sich als eigenständig entläßt.8 Dieses Konzept wird weiterentwickelt zu dem des sich selbst offenbarenden Bandes.9

Schelling behauptet (a) daß ein „reines Eines“ nur dann ist, wenn es sich sich selbst offenbart, wenn es also „in ihm selbst ein Anderes, und in diesem Anderen sich selbst das Eine, also wenn es […] überhaupt das lebendige Band von sich selbst und einem Anderen ist“. Dieses Andere ist deshalb „nur durch das Band der Existenz des Einen; […] es kann also von diesem Einen nicht verschieden, sondern selbst nur das Eine seyn, aber als ein Anderes.“10 Dieses Andere kann (b) nur ein „Vieles“ sein; denn „was als Eines ist, [muß] in dem Seyn selbst, nothwendig ein Band seiner selbst als Einheit, und seiner selbst als des Gegentheils, oder als Vielheit seyn“;11 (c) dieses Band als „Band eines Wesens als Eines mit ihm selbst, als einem Vielen“ ist „eben selber die Existenz dieses Wesens“ – kurz: „Existenz ist das Band eines Wesens als Eines mit ihm selbst als einem Vielen.“12

Damit ist aber ein infiniter Verbindungsregreß noch nicht ausgeschlossen. „Ist das Band die lebendige Ineinsbildung des Einen mit dem Vielen, so ist nothwendig mit dem Band zumal auch das aus Einheit und Vielheit Einsgewordene; und da dieses eben selbst erst das reale Viele ist, so ist das Band, wenn es überhaupt ein Band der Einheit und Vielheit ist, nothwendig auch wieder die copula von sich selbst und dem aus dem Einen und Vielen Verbundenen; und dieses Band erst ist die wirksame und ganz und gar reale absolute Identität.“13 Schelling nennt dies „das sich-selbst-Bejahen“ des Bandes.14

Das absolute Band bindet und verbindet nicht nur anderes untereinander und mit sich, sondern bindet auch sich selbst. Es kann dies nur dadurch ausweisen, daß sich das Verbundene als eines zeigt. Wurde bisher unterschieden zwischen der Einheit des Bandes und der Einheit des Verbundenen, die durch das Band entsteht, so ist jetzt zu sagen: Daß es eine Einheit des Verbundenen nur unter der Bedingung der Einheit des Bandes geben kann, ist trivial. Daß hingegen die Einheit des Bandes sich nur in und durch die Einheit des Verbundenen erweisen kann, ist nicht trivial: als Band kann es sich in seiner Identität erst erweisen, wenn es etwas verbindet. Da „aber gleichwohl mit dem Band das Verbundene nothwendig ist, so setzt es das Band auch nothwendig, d.h. es setzt oder bejaht sich selbst in ihm“.15

Daß das Verbundene nur in dieser Einheit des Bandes als Verbundenes begriffen werden kann, heißt nicht, daß es unbestimmt ist: Die Spannung zwischen der Einheit des Bandes und der bestimmten Vielheit des Verbundenen macht die gesamte Einheit erst lebendig: So „existiert wahrhaft weder das Eine als das Eine noch das Viele als das Viele, sondern eben nur die lebendige copula beider, ja eben diese copula ist allein die Existenz selbst und nichts anderes.“16

Die Ketten-Ontologie des frühen WITTGENSTEIN kann als Gegenentwurf zu einer solchen Band-Ontologie begriffen werden. „Im Sachverhalt hängen die Gegenstände ineinander, wie die Glieder einer Kette.“17 Gegen die Band-Ontologie sagt Wittgenstein deutlich: „Auch die Kette besteht nur aus Gliedern, nicht aus ihnen und deren räumlichen Beziehungen.“18 Eine Ontologie des „inneren Bandes“ ist eine internalistische Ontologie; für sie ist das Konzept „von sich aus“ verbindungsfähiger Weltbausteine dubios. Sie muß zum einen behaupten, daß es nichts in der Welt gibt, das mit anderem unverbunden existiert; zum anderen muß sie behaupten, daß „äußere Bänder“ immer nur nicht bis ins Letzte (nämlich bis zum „innersten Band“) begriffene Relationen zwischen Entitäten anzeigen.

2 Catena aurea – Hat man die Frage, ob es „die Welt“ als Einheit gibt oder nicht, positiv beantwortet, stellt sich das Problem, was allgemein über das Verhältnis der einzelnen Weltelemente zueinander gesagt werden kann. Hier spielt das Kettenmodell eine zentrale Rolle, es wird allerdings zur Modellierung zweier ganz verschiedener Antworten eingesetzt. Dies hängt auch damit zusammen, daß die Homerstelle, auf die das Kettenmodell in Anwendung auf das Problem des Verhältnisses der einzelnen Weltelemente zueinander zurückgeführt werden kann, eine große Bandbreite von Interpretationen zuläßt. „Auf, ihr Götter, versucht es, damit ihr es alle nun wisset:/Eine goldene Kette [seire chryseie] befestigt ihr oben am Himmel,/Hängt euch alle daran, ihr Götter und Göttinnen alle;/Dennoch zöget ihr nie vom Himmel herab auf den Boden/Zeus, den Ordner der Welt, wie sehr ihr strebtet und ränget!/Aber sobald auch mir im Ernst es gefiele zu ziehen,/Selbst mit der Erd’ euch zög’ ich empor und selbst mit dem Meere,/Und die Kette darauf um das Felsenhaupt des Olympos/Bände ich fest, daß schwebend das Weltall hing’ in der Höhe!/So hoch stehe ich über den Göttern und über den Menschen!“19

Die Karriere des Bildes beginnt mit seiner allegorischen Deutung spätestens und sicher bei Platon, der sagt,20 Homer habe mit der seire chryseie die Sonne gemeint. Daß es in der Tradition des durch Platon initiierten Kettenmodells wirklich um zwei verschiedene Modelle geht, zeigt sich (wie häufig) am Ende seiner Karriere: VOLTAIRE läßt in seinem Dictionnaire philosophique von 1764 dem Artikel über die „chaîne des êtres créés“ den über die „chaîne des événements“ folgen21 und macht damit deutlich, daß die Frage nach der „Abfolge der Ereignisse“ nichts zu tun hat mit dem Konzept einer „Kette der Wesen“. Die eine Frage betrifft die zeitliche Aufeinanderfolge von Ereignissen und deren Determiniertheit, die andere Frage die kosmische Ordnung der verschiedenen Seinsbereiche. Hier stehen sich eine „schlichte“ monistische und eine „komplexe“ Stufen-Ontologie gegenüber; ihnen entsprechen zwei Typen von Kausalität: eine „horizontale“ und eine „vertikale“.22 Diese Benennung scheint adäquat, berücksichtigt man die genannte Ilias-Stelle gleichsam als den „context of discovery“ für beide Modelle.

3 Gleichförmige Welt – Das Leistungsangebot des Begriffspaars „Ursache“ und „Wirkung“ besteht in der allumfassenden Konzeptualisierung eines horizontalen Zusammenhangs aller Ereignisse in der Welt. Damit stellt sich die Frage des Determinismus. Sie wird zum ersten Mal mit einem ausgearbeiteten Konzept positiv beantwortet in der stoischen Tradition; daß sie Homers seire chryseie als Schicksal (heimarmene, fatum) deutet, wird im Homer-Kommentar des EUSTATHIOS überliefert.23 Die Kettenmetaphorik findet sich denn auch oft genug zur Beschreibung des Schicksals.24 Es gibt eine enge Verbindung zu series, Aneinanderreihung.25 KARNEADES spricht von der „natürlichen, eng verflochtenen Verkettung von Umständen [naturali conligatione conserte contexteque]“.26 In CICEROS Definition des Fatum besagt die Verkettung von allem mit allem, daß es nichts gibt, was nicht mit Notwendigkeit aus seiner Ursache erklärbar ist.27 Ähnlich äußert sich MARK AUREL,28 und ebenso noch LEIBNIZ.29

So einfach das Kausalprinzip, das dann im Rationalismus als Satz vom zureichenden Grund eine verbindliche Fassung erhält,30 zu beschreiben ist, so schwer ist zu fassen, welche Rolle die Kettenmetaphorik – über die Homer-Reminiszenz hinaus – bei der Modellierung dieses Sachverhalts spielt. Wenn BOETHIUS von der Verkettung des Schicksals („series fati“)31 spricht und das fatum der göttlichen Vorsehung (providentia) gegenüberstellt, tut er es unter dem Aspekt der Zeitlichkeit.32 Für Gott liegt alles in einer langen Kette vor Augen, der Mensch sieht nur, daß ein Kettenglied (die Ursache) ein anderes (die Wirkung) „nach sich zieht“. Vorzustellen wäre eine Kante, über die die Kette der Ereignisse läuft.33 Was wir sehen, ist immer nur das Heraufkommen des nächsten Kettengliedes und das Verschwinden des vorigen, das zur Heraufkunft dieses Gliedes geführt hat; wir erinnern die vorbeigelaufenen Kettenglieder; diejenigen aber, die noch heraufkommen werden, kennen wir nicht; wir wissen nur, daß sie notwendig aneinander gekettet sind. Gott hingegen sieht die ganze Kette auf einmal. In diesem Bild können die einzelnen Kettenglieder nie einzelne Ereignisse sein, sondern immer nur Gesamtzustände der Welt, die nach einer strengen Gesetzmäßigkeit einen weiteren durch sie bestimmten Gesamtzustand der Welt nach sich ziehen und selbst von einem solchen Gesamtzustand nach sich gezogen werden; in diesem Sinn spricht TERTULLIAN von den Verkettungen der Zeiten (concatenationes temporum).34

Für Boethius stiftet die göttliche providentia den Zusammenhang der einzelnen Kettenglieder untereinander. Wenn hingegen AULUS GELLIUS das fatum-Konzept des CHRYSIPP als „,immerwährende[n] und unabänderliche[n] Geschehensablauf [sempiterna quaedam et indeclinabilis series rerum et catena]“ referiert, als „ein sich abrollendes und in seinen Bindegliedern in ewiger geregelter Abfolge umwindendes Kettenrad“35 – dann gibt es hier offensichtlich nichts jenseits dieser Kette: weder jemanden, der den Zusammenhang der Kettenglieder von außen stiftet („die Kette schmiedet“), noch jemanden, der sie von außen bewegt. Das stoische fatum ist das Kettenprinzip selbst,36 kein „Unbedingtes“, von dem alles andere „abhängt“; zu denken ist hier offensichtlich an eine geschlossene Kette, die das Prinzip ihrer Bewegung in sich selbst hat. Dieses Modell ist auch dann beizubehalten, wenn man einen unbewegten Beweger annimmt, der für die Bewegung der Kette sorgt;37 solange die Ewigkeit des Kosmos und der Bewegung vorausgesetzt ist, ist das stoische Kettenmodell konsistent.

Problematisch wird es dann, wenn man, wie im jüdisch-christlichen Kontext einer göttlichen Schöpfung, einen Anfang der Welt denken muß. Von der Bildlogik her hindert nichts, daß immer noch ein Glied zur Kette hinzugefügt wird, daß es also kein prinzipiell erstes Glied geben kann; Gott muß deshalb als das Wesen gedacht werden, von dem die Kette aller Geschehnisse abhängt, das aber selbst nicht in dieser Kette vorkommt.38

4 Dichte Welt – Im Modell der series causarum ist unter dem Aspekt des Kausalzusammenhangs alles, was existiert, als gleichförmig zu betrachten. „Eine der gewaltigsten Unternehmungen des menschlichen Geistes“,39 nämlich der Gedanke der „Großen Kette der Wesen“ (GKW)40 entwirft eine anspruchsvollere Ontologie, die durch die drei Parameter der Fülle, der Kontinuität und der Gestuftheit gekennzeichnet ist.

Es ist kaum zu sehen, wie der Gedanke der GKW irgendeiner Bildlogik, die im Bild der Kette enthalten ist, folgen würde – im Gegenteil: An ihm ist zu sehen, wie ein Bild über seine allegorische Transformation sehr früh zum Etikett wird. An dieser Stelle soll die Traditionskette des Gedankens seit dem Neuplatonismus nicht dargestellt werden; das Material dazu ist hinreichend bereitgestellt worden.41 Ich beschränke mich auf die Skizze seiner Struktur und auf Überlegungen zu seiner Bildlogik. Der Gedanke der GKW ist die Kombination dreier eigenständiger und voneinander trennbarer Gedanken, die erst unter folgender Problemlage entwickelt werden können: 1. Es wird eine Differenz zwischen der diesseitigen und der jenseitigen Welt behauptet. Das kann zur Abwertung der diesseitigen Welt führen oder aber zum Erweis ihrer Notwendigkeit. 2. Die ursprüngliche griechische philosophische Gottesidee ist die eines autarken Gottes, paradigmatisch ausformuliert bei Aristoteles. Daraus folgt, daß es nichts geben kann, was ihn vollkommener machte, als er schon ist.42 3. Der für das Konzept entscheidende Gedanke findet sich im platonischen Timaios: Dem autarken Wesen würde Vollkommenheit fehlen, wenn es nicht weitere Wesen hervorbrächte. Täte es dies nicht, wäre es mißgünstig: „Geben wir denn an, aus welchem Grund der Schöpfer das Entstehen und dieses Weltall schuf. Er war gut; in einem Guten erwächst nimmer und in keiner Beziehung irgendwelche Mißgunst [phthonos]. Von ihr frei, wollte er, daß alles ihm möglichst ähnlich werde.“43 Offenbar führen Punkt 2 und 3 zu einem Paradox, das über lange Zeit die treibende Kraft des abendländischen Denkens war: Wie kann ein vollkommenes Wesen so gedacht werden, daß es genau dadurch vollkommen ist, daß es eines anderen bedarf?

Die drei Teilgedanken des Konzepts der GKW können wie folgt beschrieben werden: 1. Der nichtmißgünstige Gott muß alle Arten von denkbaren Wesen hervorbringen und es darf nichts geben, was Gott zwar denken kann, aber nicht realisiert – denn eine solche Nicht-Realisierung bei gleichzeitiger Denkbarkeit wäre Zeichen einer göttlichen Mißgunst (Prinzip der Fülle). Aus diesem ursprünglich platonischen Gedanken können zwei „Folgerungen“ gezogen werden: Die intelligible Welt ist, erstens, ohne die sensible „unvollständig“;44 die Schöpfung ist, zweitens, nicht ein freier Willensakt, sondern eine „logische Notwendigkeit“, die aus dem Begriff Gottes folgt. Gegen diesen Determinismus, dessen Ausarbeitung in der Philosophie BARUCH SPINOZAS kulminiert, hat man sich im christlichen Abendland immer strikt gewehrt.45 Es gibt eine einzige interessante Modifikation dieses Prinzips, nämlich Leibniz’ Kompossibilitätsprinzip: Nicht alles, was denkmöglich (also in sich widerspruchsfrei) ist, muß existieren, sondern es müssen nur die widerspruchsfrei denkbaren Dinge existieren, die auch miteinander existieren können.46 – 2. Aristoteles formuliert einen Gedanken, der mit dem Gedanken der notwendigen „Erfülltheit“ der Welt verbunden wird: den Gedanken der Kontinuität. Dieser besagt, daß alles, was es gibt, nicht in Form von scharf abgegrenzten Arten und Gattungen miteinander zusammenhängt, sondern in einer Reihe von unmerklichen Übergängen (lex continuitatis formarum).47 Das Kontinuitätsproblem ist in der Geschichte der europäischen Philosophie eines der schwierigsten, nicht einmal seine Formulierung ist einfach. Es ist nicht klar, ob es sich auf Individuen oder auf Arten und Gattungen bezieht, und es ist ebensowenig klar, wie der behauptete minimale Unterschied zwischen zwei Dingen, die im Kontinuum aller Dinge direkt nebeneinanderliegen, angegeben werden kann. – 3. Bei Aristoteles findet sich der Gedanke der linearen Abstufung der Wesen, vom vollkommensten bis zum unvollkommensten. Dies ist das Prinzip der scala naturae, einer ontologischen Stufenleiter.48 Während ARTHUR O. LOVEJOY hinsichtlich des logischen Verhältnisses von (1) und (2) sehr deutlich ist, spricht er für (3) nur von einer „Hinzufügung“.49 – Kombiniert man (1) bis (3), erhält man das Konzept der GKW: In ihr existiert alles, was denkbar ist (1), es existiert deshalb so, daß es in der engstmöglichen Verbindung, nämlich der der Kontinuität, zueinander steht (2); und es existiert so, daß es in eine Hierarchie eingeordnet ist, an deren Spitze ein ens perfectissimum steht, das diese Hierarchie selbst erschaffen hat (3). Es ist das äußerst anspruchsvolle Konzept einer dichten Welt.

5 Menschliche Freiheit außerhalb und innerhalb der Kette – Der Begriff der menschlichen Freiheit ist notorisch vieldeutig. Bringt man ihn in Verbindung mit den beiden beschriebenen ontologischen Konzepten, ergeben sich interessante Differenzierungen.

Im Verhältnis zur Welt als series causarum kann menschliche Freiheit (insbesondere von einem nachkantischen Blick aus der Moderne her) nur als Stehen außerhalb der Ursache-Wirkungskette begriffen werden. Ein solches Konzept setzt einen Hiat zwischen Geist und Materie voraus: Der Mensch ist als Naturwesen ohne Ausnahme ein Glied in der Ursache-Wirkungskette,50 als Geistwesen ist er es nicht. Dies impliziert entsprechende Trennungsmetaphoriken im Deutschen Idealismus (speziell bei JOHANN GOTTLIEB FICHTE).51 Diesen Hiat zwischen dem Menschen als geistigem und körperlichem Wesen hat der Gedanke der GKW jedoch niemals akzeptiert,52 denn in einer dichten Welt ist alles von Gottes Geist durchwirkt; auch der „mechanischste“ Naturvorgang ist – im Sinn jener „vertikalen Kausalität“ – als ein geistiges Geschehen zu begreifen. Die Einsicht des Menschen, welchen Platz er in der Seinshierarchie einnimmt, ist durchaus verträglich damit, daß er – hinsichtlich des „horizontalen“ Kausalzusammenhangs – frei ist.

Unter dem Gedanken der GKW kann der Versuch von Menschen, ihren Status zu ändern, nur als Hybris erscheinen. Wenn die Welt „dicht“ ist, ist nicht zu sehen, wie es in ihr zu einer Bewegung kommen kann. In diesem Punkt ist ALEXANDER POPE bis zum Überdruß deutlich: Der Mensch solle sich mit seinem Platz in der Kette bescheiden.53 Offensichtlich hat die Warnung normativen Gehalt: Sie hat nur Sinn, wenn der Mensch de facto fähig ist, die kosmische Ordnung zu „zerbrechen [break]“.54

Das soeben Beschriebene betrifft die Einstellung des Menschen zu seiner Stellung in der GKW. Es handelt sich um eine eigentümliche Fähigkeit, deren rechte Ausübung einen wesentlichen Aspekt menschlicher Freiheit ausmacht: nicht in die Hybris zu verfallen. Es darf aber gerade nicht mit dem Schlagwort „Freiheit als Fähigkeit der Einsicht in die Notwendigkeit“ beschrieben werden. Eine solche Idee von Freiheit hat zwar mit der eben beschriebenen gemein, daß sie ein „Sich-Verhalten-zu“ ist, aber ihr Kontext ist ein anderer: nicht die GKW, sondern der durchgängige Kausalzusammenhang; insofern ist er das Gegenstück zum Konzept von Freiheit als außerhalbder-Kette-Stehen.

Für FRANCIS BACON besteht Freiheit in der Anerkennung des Notwendigen: „Denn keine Kraft kann die Kette der Ursachen [causarum catenam] lösen oder zerbrechen, und die Natur wird nur besiegt, indem man ihr gehorcht.“55 Dieses Gebot, sich dem unabänderlichen Zusammenhang der Natur einzufügen, ist stoisch. Mark Aurel geht sogar soweit zu sagen, die Auflehnung gegen den natürlichen Zusammenhang komme dessen Zerbrechen gleich.56 Umgekehrt besteht die höchste Freiheit und damit das Glück des Menschen darin, in der Einsicht in die Wohlgeordnetheit des Kosmos zu leben. Dieser stoische Grundgedanke findet sich deutlich bei Spinoza57 und Leibniz.58

Ein Zustand, in dem die göttliche Ordnung erfahren werden kann, setzt jedenfalls eine Befreiung von der Herrschaft der leiblichen Affekte voraus. In diesem Zusammenhang interessant ist eine Variante des Kettenbildes, die sich bei SENECA findet: das Bild der sich lockernden Kette: „Derjenige, der zu höheren Graden fortgeschritten ist und sich höher erhoben hat, zieht eine lose Kette [laxa catena] mit sich, noch nicht frei, dennoch so gut wie frei.“59 Diese Vorstellung findet sich auch bei AUGUSTINUS und Boethius: Die menschliche Natur (Leiblichkeit, Begierden) ist eine Kette, Fessel, aus der man sich langsam befreien kann.60

Mit dem Bild der sich lockernden Kette wird versucht, Freiheit jenseits von Dualismus und vollständiger Akzeptanz zu denken. Hier wird die Ontologie der horizontalen mit der der vertikalen Kausalität verbunden. Verknüpft man (a) das der series causarum unterstellte Sein mit der Leiblichkeit des Menschen, also seiner nichtgeistigen Seite, und ist (b) zusätzlich der Auffassung, daß der Mensch, je weniger er seinen körperlichen Bedürfnissen ausgeliefert ist, je geistiger er also lebt, desto höher auf der Stufenleiter der Wesen – also in der GKW – steht, dann gewinnt das Bild der sich lockernden Kette einen Sinn und es kann formuliert werden: Je höher der Mensch in der GKW steht, desto lockerer wird die Kette, mit der er in die series causarum eingebunden ist.

Nietzsche denunziert sowohl das stoische wie auch das dualistische Freiheitsmodell – und dies genau mit dem Bild der Kette. Entscheidend ist dabei, daß das Gefühl der Freiheit illusorisch ist, weil es nur die Beschönigung des durch Gewohnheit internalisierten Schmerzes ist, der durch den Druck der Kette der kausal-leiblichen Abhängigkeit erzeugt wird. Die Beschönigung findet dabei allerdings auf zweierlei Weise statt: Im dualistischen Modell ist das Gefühl des Freiseins von den Ketten der Kausalität eine Illusion, weil die series causarum per definitionem nicht durchbrochen werden kann, freie Menschen also eine Art Wundertäter wären.61 Im stoischen Modell besteht die Beschönigung in der Versicherung, die Gewohnheit mache aus dem Zwang eine Freiheit – die Kette werde aus einer ziehenden zu einer führenden.62

6 Das Ende der „Großen Kette der Wesen“ – Letztlich hängt der Bedeutungsverlust der GKW mit dem Entstehen des Konzepts der Naturgeschichte zusammen: Wenn die Natur eine Geschichte hat, so ist das Konzept einer dichten Welt nicht mehr denkbar.63 Das Konzept der Naturgeschichte entwickelt sich im 18. Jahrhundert. Locus classicus hinsichtlich eines direkten Angriffs auf das Konzept der GKW64 ist Voltaires Artikel Chaîne des êtres créés, in dem als entscheidendes Argument gegen das Konzept der GKW angeführt wird, daß es Pflanzen- und Tierarten gab, die jetzt vollständig ausgestorben sind; es sei deshalb sehr wahrscheinlich, daß Pflanzen- und Tierarten, die jetzt noch existieren, aussterben würden. – IMMANUEL KANT, dem die terminologische Unterscheidung von Naturbeschreibung und Naturgeschichte wohl zu verdanken ist,65 entwickelt schon 1755 das Konzept des „überflüssigen Gliedes in der Kette der Wesen“.66 CHARLES DARWINS Idee der Dynamisierung ist als Ausformulierung der Idee der Naturgeschichte zu verstehen. Schon Schelling entwickelte auf dieser Linie ein erstaunliches Argument gegen das Konzept der GKW insgesamt: „Von dem Geist als kosmischer Potenz kommt alles her, was in der Natur selbst, mitten in dem Reich der Nothwendigkeit, Freiheit oder ein freies Wollen, also ein Princip ankündigt, […] die Freiheit, welche in der unergründlichen Mannichfaltigkeit der Farben, Formen und Gestalten der Geschöpfe spielt; denn noch ist es keinem Naturforscher gelungen, und wird auch keinem je gelingen, jene Kette zwischen den Naturwesen zu entdecken, die keine Lücke, keinen Sprung zuließe.“67 FRIEDRICH ALBERT LANGE spricht 1866 von der „großen Kette dieses Werdens“.68

Parallel dazu wird das Problem virulent, wie sehr man dem Konzept der GKW als Prognoseinstrument für die empirische Forschung überhaupt trauen könne. Wenn der Mensch das mittlere Glied in der GKW ist, dann muß es sowohl nach unten als auch nach oben endlich viele Kettenglieder geben; ihre Zahl muß begrenzt sein, denn sowohl das eine als auch das andere Ende sind wohldefiniert: Gott und die bloße Materie. Sagt JOHN LOCKE noch ausdrücklich, daß es der unendlichen Güte Gottes entspreche, „wenn die Arten der Geschöpfe in unmerklichen Abstufungen von uns aus auch aufwärts zu seiner unendlichen Vollkommenheit emporsteigen, ganz wie wir sie von uns stufenförmig nach unten hinabsteigen sehen“,69 so findet sich diese optimistische Behauptung bei HERDER schon nicht mehr. Zwar hält auch er an der Idee der GKW fest,70 konstatiert jedoch enttäuscht: „Aber der größeste Weise sieht von dieser Kette nur zerrissene Glieder.“71 Dies bezieht sich darauf, daß für die Kette unterhalb des Menschen, also hin zur bloßen Materie, immer noch sehr viele Glieder empirisch nicht identifiziert sind,72 weit dringender jedoch auf den Abschnitt der Kette zwischen Mensch und Gott: Hier kennen wir nur ein Glied, nämlich Jesus.73 Deshalb kennen wir unsere eigene Stellung in der GKW letztlich nicht.

Dies ist freilich noch kein prinzipielles Argument gegen den Gedanken der GKW. Es spricht nichts dagegen – wird freilich für immer weniger wahrscheinlich gehalten –, sich einen Zustand der Welt vorzustellen, in der dem Menschen alle Glieder der Kette bekannt sind. Ein prinzipielles und wirkmächtiges Argument gegen den Gedanken der GKW wird Mitte des 18. Jahrhunderts etwa zeitgleich von Voltaire und SAMUEL JOHNSON entwickelt.74 Beide weisen darauf hin, daß es aus prinzipiellen Gründen nicht zulässig sei, einen endlichen Abstand zwischen Gott und „ses plus parfaites créatures“ zu denken.75 Wenn der Abstand zwischen den beiden Endpunkten der Kette kein endlicher ist, dann kann es auch keine endliche Menge von Wesen geben; dies muß für das Konzept der dichten Welt aber garantiert sein.

7 Kohärenzen – Der Einheit der Welt soll die Einheit unseres Denkens „entsprechen“. Einerseits ist unser Denken nur eine zeitliche Aufeinanderfolge mentaler Ereignisse, die als solche gleichförmig sind. Andererseits entsteht aus deren Zeitgebundenheit das Problem, wie wir uns durch unsere Erinnerung unseres vergangenen Denkens versichern können. Durch die gesicherte Kontinuität in der Erinnerung, die als schwächste Form der Verbindung gelten muß, ist noch nicht garantiert, daß dieses unser Denken einen Weltbezug hat; deshalb ist die qualifizierte Verbindung unserer Denkereignisse über ihre erinnerte zeitliche Abfolge hinaus vom Beginn der Philosophie an eines der entscheidenden Probleme gewesen. Eine Fülle von Verbindungs-, Verflechtungs-, Verknüpfungs-Metaphoriken wird schon in der griechischen Philosophie zur Beschreibung dieser qualifizierten Denk- und damit Wortverbindungen benutzt.76

7.1 Catena veritatum – Der Rationalismus wählt für den qualifizierten Zusammenhang unserer Denkereignisse als zentrales Bild das der „Kette von Wahrheiten“;77 exemplarisch heißt es bei RENÉ DESCARTES: „Jene langen Ketten ganz einfacher und leichter Begründungen [longues chaînes de raisons, toutes simples et faciles], die die Geometer zu gebrauchen pflegen, um ihre schwierigsten Beweise durchzuführen, erweckten in mir die Vorstellung, daß alle Dinge, die menschlicher Erkenntnis zugänglich sind, einander auf dieselbe Weise folgen und daß, vorausgesetzt, man verzichtet nur darauf, irgend etwas für wahr zu halten, was es nicht ist, und man beobachtet immer die Ordnung, die zur Ableitung der einen aus den anderen notwendig ist [pour les déduire les unes des autres],78 nichts so fern liege, daß man es nicht schließlich erreichte, und nichts so verborgen sein kann, daß man es nicht entdeckte.“79 Ebenso bei LEIBNIZ: „Denn ein Beweis ist nichts anderes als eine Kette von Definitionen [Est enim Demonstratio nil nisi catena definitionum]“;80 der „enchaînement exact des demonstrations de toutes les verités“ wird als „grande Méthode“ gepriesen.81 Die „Kette der Wahrheiten“ wird erzeugt in einem „ordnungsmäßigen Verfahren, dessen Beobachtung bei jedem Teil eine Gewähr für das Ganze ist, wie man sich der Güte einer Kette dadurch versichert, daß man sie [1.] Ring für Ring prüft und jeden einzelnen besichtigt, um zu sehen, ob er fest ist, wobei man [2.] mit der Hand Maßnahmen trifft, um keinen zu überspringen.“82 Die ordnungsgemäße Verkettung von Sätzen allein reicht nicht aus, die Sätze selbst müssen auch wahr sein.83 Diese Kette muß freilich mittels der kulturellen Technik der Schrift gesichert werden; denn die Erinnerung an die zurückliegenden Kettenglieder ist trügerisch.84 So kann mittels des Konzeptes der Kette definiert werden, was die Vernunft ist: eine Verkettung von Wahrheiten: „Gegen die Vernunft sprechen, heißt gegen die Wahrheit sprechen, denn die Vernunft ist eine Verkettung von Wahrheiten.“85

7.2 System als offene und geschlossene Kette – Es ist eine der interessantesten Aufgaben der philosophischen Metaphorologie darzustellen, wie sich das philosophische Systemdenken seit 1600 um drei verschiedene Metaphernfelder herum organisiert: die architektonische Metapher von Gebäude und Fundament, die biologische Metapher vom Organismus und eben die Metapher von der Kette. Daß die Gebäude- und die Organismusmetaphorik für das neuzeitliche Systemdenken die prominentesten sind, zeigt deutlich die Definition des Systems in CONDILLACS Traité des systèmes von 1749. Die Systemteile stützen sich einerseits gegenseitig („soutiennent toutes mutuellement“), andererseits aber begründen einige die anderen („rendent raison des autres“).86 Die Kettenmetaphorik spielt in diesem Zusammenhang insofern eine interessante, aber doch zweideutige Rolle, als sie einerseits dazu herangezogen wird, um in der Tradition der catena veritatum Abhängigkeitsverhältnisse von Gedanken zu modellieren: Die „Kette der Gedanken“ hängt „oben“ an einem festen Punkt, dem Prinzip; von dort hängen die Glieder herab. Mit dieser Konnotation wird die Kettenmetaphorik in polemischer Absicht von ARTHUR SCHOPENHAUER verwendet. Er stellt sein eigenes „organisches“ Systemkonzept einem „architektonischen“ gegenüber und behauptet, sein System habe einen „organischen, nicht kettenartigen Bau des Ganzen“.87 Das Modell der Kette verführe dazu, das – von CHRISTIAN WOLFF übernommene – Kantsche Prinzip der Vernunft für wahr zu halten:88 Die unendlich lange Kette ohne Fixpunkt sei nicht vorstellbar.89 Schopenhauer übersieht jedoch nicht nur, daß auch die deutschen Idealisten dezidiert organizistische Metaphern zur Beschreibung ihrer Systeme benutzten, sondern ebenso, daß die Kettenmetaphorik einen Gebrauch innerhalb des organizistischen Paradigmas zuläßt.

Fichte, der die Kettenmetapher ganz in der rationalistischen Tradition verwendet, beschreibt das Erstellen des philosophischen Systems als Erzeugen einer Kette.90 Diese Konstruktion ist nicht idiosynkratisch, sondern findet statt, indem sich der Wissenschaftslehre „an jedes Glied ihrer Kette stets ein neues anknüpft, wovon ihr in unmittelbarer Anschauung klar ist, daß es bei jedem vernünftigen Wesen sich eben also anknüpfen müsse.“91 Obwohl sich bei Fichte der Übergang von einem architektonischen zu einem organizistischen System vollzieht,92 findet sich die Metaphorik der geschlossenen Kette nur an einer Stelle.93 – Schelling benutzt 1795 noch die inverse Fundamentmetaphorik der offenen Kette.94 Aber schon 1797 heißt es: „Darum durchdringt alle einzelnen Systeme, die nur diesen Namen verdienen, ein gemeinschaftlicher, regierender Geist; jedes einzelne System ist nur durch Abweichung von dem allgemeinen Urbild möglich, dem sich alle insgesammt mehr oder weniger annähern. Dieses allgemeine System aber ist nicht eine abwärts laufende Kette, wo ins Unendliche fort Glied an Glied hängt, sondern eine Organisation, in welcher jedes einzelne Glied in Bezug auf jedes andere wechselseitig Grund und Folge, Mittel und Zweck ist.“95 – Das Bild der geschlossenen Kette findet sich bei Schelling nicht. Bei Hegel aber schließt sich die Kette der Wahrheiten: „Vermöge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar, in dessen Anfang, den einfachen Grund, die Vermittlung das Ende zurückschlingt; dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen; denn jedes einzelne Glied, als Beseeltes der Methode, ist die Reflexion-in-sich, die, indem sie in den Anfang zurückkehrt, zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist. Bruchstücke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften, deren jede ein Vor und Nach hat oder, genauer gesprochen, nur das Vor hat und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt.“96

7.3 Die Kette der Vorstellungen – Die Kette der Wahrheiten ist nicht die Kette der Vorstellungen. Locke selbst spricht lediglich von „association“ und „Wechselbeziehung und Verbindung [correspondence and connexion]“.97 Von der Kette der Vorstellungen und Ideen spricht Condillac: Nur dann, wenn mittels des Gedächtnisses eine solche Kette gebildet wird, ist eine Person zu mehr fähig als einer augenblicklichen Empfindung.98 Die Verknüpfung von Ideen geschieht nur durch unsere Aufmerksamkeit, die wiederum durch unsere Bedürfnisse gesteuert wird. „Alle unsere Bedürfnisse hängen miteinander zusammen; man könnte deren Perzeptionen als eine Folge von Fundamentalideen ansehen, auf die man alles bezieht, was zu unseren Erkenntnissen gehört.“ An diesen Fundamentalideen hängen andere Ideen, „die gewissermaßen Ketten bilden [qui formeroient des espèces de chaînes]“. Und weiter: „Man kann sogar bemerken, daß diese Kette sich mit zunehmender Länge [i. e. mit wachsendem Gedächtnis] in verschiedene kleinere Ketten unterteilt, so daß die Kettenglieder immer zahlreicher werden, je weiter man sich vom ersten Kettenring entfernt.“

Schon Locke unterscheidet bei der Entwicklung seiner Assoziationslehre zwei verschiedene Ordnungen der Ideen, die natürliche und die zufällige bzw. auf Gewohnheit beruhende („natural correspondence and connexion“ vs. „connexion owing to chance or custom“).99 Die Vernunft muß „die natürliche Ordnung der zusammenhängenden Ideen“ herstellen, in der „sich jedes Glied der Kette an seinem richtigen Platz dem geistigen Blick unmittelbar darstellt“.100 Vernunft ist „Scharfsinn und Folgerungsvermögen. Mit Hilfe des einen findet sie die vermittelnden Ideen auf, mit der anderen ordnet sie diese in der Weise, daß die zwischen jedem einzelnen Glied der Kette bestehende Verbindung zutage tritt, durch die die äußeren Enden zusammengehalten werden. Dadurch wird die Wahrheit, die wir suchen, gewissermaßen in unseren Gesichtskreis gerückt. Dieses Verfahren nennen wir Schließen oder Folgern.“101

7.4 Die Angst des Kohärentismus – Erinnert man sich an die beiden Kriterien, die Leibniz für die „Kette der Wahrheiten“ nennt, so kann diese aus zwei Gründen in der Repräsentation von Sachverhalten der Welt scheitern: zum einen, weil man den Stoff, aus dem die Kettenglieder geformt sind, nicht hinreichend geprüft, zum zweiten, weil man die Kettenglieder nicht in der richtigen Reihenfolge geordnet hat. Der erste Faktor betrifft die Fragen der Erkenntnisevidenz und der Prinzipien, der zweite die Frage der Methode.

Für Leibniz102 bleiben dies zwei getrennte Fragen: Man sieht es den Gedanken, auch wenn sie verkettet sind, nicht an, ob sie eine Kette der Wahrheiten bilden oder nicht; es gibt durchaus auch die Kette der Vorurteile und Irrtümer. Bei Hegel freilich ist die Wissenschaft der Logik nur noch die vollständige Selbstexplikation ihrer Methode, Wissenschaft und ihre Logik fallen zusammen; dies meint seine Formulierung, daß erst am Ende „der Inhalt des Erkennens als solcher in den Kreis der Betrachtung eintritt, weil er nun als abgeleiteter der Methode angehört. Die Methode selbst erweitert sich durch dies Moment zu einem Systeme“.103 Kohärentistische Ansätze behaupten, daß die Verkettung der Wahrheiten allein ausreicht, um Sachhaltigkeit zu garantieren; es bedürfe dazu keines externen Verfahrens. Die entscheidende Voraussetzung des methodischen Kohärentismus, daß nämlich alles verkettet ist,104 ist selbst im Denken nicht einholbar, erzeugt aber das notwendige Vertrauen, das es ermöglicht, von einer Wahrheit zur nächsten fortschreiten zu können.105

Freilich stellt sich dann die Frage nach der Welthaltigkeit der Ordnung um so dringlicher: Mit dem Stolz auf die selbstgegebene Ordnung der Welt geht einher die Angst, daß sie inadäquat geordnet werde; diese Angst ist schon formuliert in THOMAS HOBBES’ viertem Einwand zu Descartes’ Meditationen sowie Descartes’ Antwort: Was, so Hobbes, wenn alle Verkettungen und Verknüpfungen nicht Produkte unserer Vernunft, sondern nur unserer Einbildungskraft sind? Descartes’ Antwort ist eigentlich nur die Wiederholung der Versicherung, daß unser Denken welthaltig sei.106 – Für Condillac kann durch die Einbildungskraft die Kette der Vorstellungen verändert werden.107 Herder zieht daraus die radikale anthropologische Konsequenz eines allgemeinen idiosynkratischen Kohärentismus: „Wäre es möglich, daß wir die Kette unserer Gedanken anhalten und an jedem Gliede seine Verbindung suchen könnten – welche Sonderbarkeiten, welche fremde Analogien der verschiedensten Sinne, nach denen doch die Seele geläufig handelt! Wir wären alle, für ein bloß vernünftiges Wesen, jener Gattung von Verrückten ähnlich, die klug denken, aber sehr unbegreiflich und albern verbinden!“108

8 Kette der Tradition – PROKLOS, der ein ganzes System von Ketten entworfen hat, das den Zusammenhang der Welt im Einzelnen modellieren soll,109 kennt auch eine Hermeskette, an der alles hängt, was mit Unterricht, Erziehung und Bildung zu tun hat. Zwar kann der Beginn der Frühscholastik mit ABAELARDS Sic et non als ein Plädoyer gegen die Tradition und für die Wahrheit verstanden werden, aber nur insofern, als sie sich gegen die unkritische Übernahme der Autoritäten richtet; die Scholastik selbst ist der großangelegte Versuch, Tradition und Wahrheit zum Ausgleich zu bringen, das heißt die Rationalität der Tradition zu beweisen. Dies ändert sich grundlegend erst mit Descartes. Die traditionelle Philosophie reiße den nexus rationum auseinander und wolle nur mittels Bruchstücken von Gedanken, die sie aus Indizes und Lexika zusammensuche, überzeugen. Im so gekennzeichneten rationalistisch-aufklärerischen Paradigma ist die Kette der Tradition im besten Fall belanglos, im schlechtesten verhindert sie das Finden der Wahrheit.110

Will man der Kette der Tradition einen prominenten Platz im Denken der Welt einräumen, so bedarf es letztlich eines neuen Wahrheitsbegriffs. Die Anfänge eines solchen Denkens finden sich bei VICO, bei dem sich jedoch die Metaphorik von Kette und Band nicht findet.111 Diese verwendet in extenso erst Herder – mit einer erheblichen Verkomplizierung der Bildlogik des Kettenmodells. Demnach wird die „Kette der Bildung“ mit jedem einzelnen Menschen länger und ihr Ende ist nicht abzusehen. In diesem Zusammenhang ist von einer „Kette stets wachsender, neuer Geschlechter“ die Rede; Herder denkt eine wachsende Kette.112 Die „Kette der Bildung“ soll überdies nicht nur eine Kohärenz des menschlichen Wissens illustrieren, sondern auch zur Illustration des Fortschritts der menschlichen Bildung taugen: Je länger die Kette werde, desto reicher werde das menschliche Wissen. „Hier hat die Natur eine neue Kette geknüpft, die Überlieferung von Volk zu Volk! So haben sich Künste, Wissenschaften, Cultur und Sprache in einer großen Progreßion Nationen hin verfeinert – das feinste Band der Fortbildung, was die Natur gewählet.“113 Einerseits muß jedes einzelne Individuum als neues Kettenglied gedacht werden, andererseits ist von der „Kette der Bildung“ in Hinblick auf die Menschheit insgesamt zu sprechen.114 Letztlich ist es die Idee einer Bildungskette, an der eben nicht alle Individuen der Menschheit teilhaben, die die Idee des ubiquitären Zusammenhangs aller Menschen untereinander115 überdeckt. Der Widerspruch zwischen der Metaphorik der „Kette des Menschengeschlechts“ und der „Kette der Cultur“ weicht der Metaphorik von Potenz und Samen: „Die Kunst, die einen Griechischen Pallast bauete, zeigt sich bei dem Wilden schon im Bau einer Waldhütte […]. Der Eskimaux vor seinem Kriegsheere hat schon alle Keime zu einem künftigen Demosthen, und jene Nation von Bildhauern am Amazonenstrome vielleicht tausend künftige Phidias.“116

Die „Kette der Bildung“ ist hinsichtlich eines optimistischen Weltbildes der direkte Erbe der „Großen Kette der Wesen“.117 Die Humanität darf jedoch nicht als ein einheitliches Ziel der Entwicklung aller Völker und Nationen verstanden werden: „Es ziehet sich eine Kette der Cultur in sehr abspringenden krummen Linien durch alle gebildete Nationen […]. In jeder derselben bezeichnet sie zu- und abnehmende Größen und hat Maxima allerlei Art. Manche von diesen schließen einander aus oder schränken einander ein, bis zuletzt dennoch ein Ebenmaas im Ganzen stattfindet, so daß es der trüglichste Schluß wäre, wenn man von Einer Vollkommenheit einer Nation auf jede andere schließen wollte.“118

Um in eine Tradition „eingegliedert“ zu werden, bedürfen bestimmte faits culturels einer rudimentären Vorformung, die sie dazu befähigt, überhaupt Kandidaten einer Traditionskette sein zu können. Dies kann aber kritisch gewendet werden. ERNST ROBERT CURTIUS spricht im Zusammenhang mit der Pseudo-Longin-Rezeption von der „unzerreißbaren Traditionskette der Mittelmäßigkeit“, durch die die Kenntnisnahme eines Textes über das Erhabene „abgewürgt“ worden sei: eines Textes, der gerade das Herausragen des großen Künstlers über die Tradition betont, in der er steht.119 Hier ist die Kettenmetaphorik eindeutig pejorativ gebraucht: sie fesselt. Curtius plädiert für ein nicht-kettenförmiges Modell von Tradition, die originäre Gedanken nicht lückenlos an vergangene bindet, sondern in der es Sprünge gibt: George verehrt Nonnos – und zwar genau gegen die kanonische Traditionskette, die ihn verachtet.120 Laut Curtius ist diese Idee von Tradition modern; sie beginne 1889, mit einem Text WALTER PATERS.121 In der Moderne geht es um Neuschöpfung unter Benutzung der Tradition, nicht um deren Fortführung als neues Glied in ihrer Kette – mit dem Unterschied zur Aufklärung ums Ganze freilich, die darauf vertrauen muß, daß es einen Garanten für die Adäquatheit dieser Neuschöpfung gebe.

Wörterbuch der philosophischen Metaphern

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