Читать книгу Wörterbuch der philosophischen Metaphern - Группа авторов - Страница 18

Bilden

Оглавление

Im Verlaufe des 18. Jahrhunderts wurden „Bildung“ und „Bilden“ zu schwer übersetzbaren deutschen Grundbegriffen des pädagogischen Vokabulars. Während beispielsweise das französische éducation und das englische education sowie auch self-formation (ebenso: self-cultivation), das der Bedeutung des Bildungsbegriffs wohl am nächsten kommt, lateinische Grundworte übernahmen, handelt es sich bei „Bildung“ um eine genuin deutsche Wortprägung. Der damit bezeichnete Vollzug und das gleichnamige Ergebnis wurden strikt von anderen pädagogischen Handlungen geschieden. „Die“ Bildung war als Singularetantum nicht zu verwechseln mit Erziehung und ferner nicht mit den verschiedenen Ausbildungen. Der enge Zusammenhang von „Bilden“ und „Bild“ weist zurück auf das mittelhochdeutsche „bildunge“, was Bild, Abbild und Ebenbild meint, und damit auf eine Zeit, in der eine erste terminologische Bestimmung des Bildungsbegriffs aufkam. In diesem Zusammenhang spielte auch die Gottebenbildlichkeit des Menschen eine Rolle, die weit zurückreichende altorientalische, griechische und insbesondere jüdische Traditionen in Erinnerung hielt. „Bildung“ wurde im weiteren Verlauf der Geschichte zusätzlich mit anderen Metaphern wie mit der Prägung einer Münze, dem Siegel im Wachs, der Beschriftung von blankem Papier oder der Entwicklung eines Samenkorns erklärt, selbst mechanische Bilder wurden in Anspruch genommen. Stets ging es dabei um das grundsätzliche Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem, also um die Frage, wie sich etwas, das nicht zu sehen ist, im Sichtbaren ausdrückt.

Während allerdings die christliche Tradition durch die Imitatio Christi diese Beziehung gleichsam veranschaulicht, betont das jüdische Verständnis die Unsichtbarkeit des Schöpfers, von dem der Mensch seine Ebenbildlichkeit empfängt, und damit die Unmöglichkeit, Gott abzubilden. Die Ebenbildlichkeit war mit einem strengen Bilderverbot verknüpft. Diese Entzugsstruktur findet in der konkreten menschlichen Existenz ihre Entsprechung. Menschen ist nämlich weder der Beginn noch das Ende ihres Lebens in unmittelbarer Erfahrung gegeben und ebenso der direkte Anblick insbesondere ihres eigenen Gesichts verwehrt. Das bedeutet auf der einen Seite die Versagung absoluter Evidenz und begründet gleichzeitig das Begehren nach Kompensation und damit die Möglichkeit des Bildens, das stets die engen Grenzen des Abbildens übersteigt. Dieser Überschuß, welcher im Ungenügen an den Begegnungen mit Archetypen oder Urbildern wurzelt, ist eine zentrale Quelle von Kultur. Bilder – ob es sich dabei um Spiegelbilder, um gemalte Bilder, um Sprachbilder oder um technische Reproduktionen handelt – sind in dieser Hinsicht Umwege, mit denen auf diesen elementaren Selbstentzug reagiert wird.1 Gerade weil es für uns wesentlich Unsichtbares gibt, werden wir kreativ in unseren Bildern. Bilder als solche, insbesondere Sprachbilder, die jedoch ebenfalls durch ihren ikonischen Gehalt bestimmt sind, überschreiten ihren buchstäblichen Sinn und werden zu historisch wechselnden Gestalten des Wissens. Sie stehen im allgemeinen für die Beziehung von Sichtbarem und Unsichtbarem. In der Perspektive einer bestimmten Tradition wird der Mensch selbst als Bildereignis aufgefaßt.2 Er ist in sehr unterschiedlichen Versionen Abbild der Ideen eines Schöpfergottes, welcher ihn durch Wortzauber, als Töpfer oder als Bildhauer hervorgebracht hat.

Lange bevor der Genesisbericht den Menschen zu einem Geschöpf nach dem Bilde Gottes bestimmte, von dem er sich gleichwohl kein Bildnis machen durfte, gab es unterschiedliche Antworten auf den mysteriösen Anfang des Menschgeschlechts.3 Schon früh wurde überdies der anthropomorphe Grundzug dieser Legenden bemerkt. Häufig zitiert wird in diesem Zusammenhang das Fragment des XENOPHANES: „Doch wenn die Ochsen und Rosse und Löwen Hände hätten oder malen könnten mit ihren Händen und Werke bilden wie die Menschen, so würden die Rosse roßähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten malen und solche Körper bilden, wie jede Art gerade selbst ihre Form hätte.“4 KRITIAS entwickelt bereits den Gedanken, das Göttergeschlecht sei eine Erfindung der Sterblichen, um auch Straftaten im Verborgenen durch Gottesfurcht zu vereiteln.5

Der Prometheus-Mythos ist eine weitere Variante der Schöpfungserzählungen. Wir kennen den Titanensohn durch unterschiedliche Überlieferungen, etwa im Sinne des ARISTOPHANES als Bildner der Menschen, im Verständnis PHILEMONS als Bildner aller Lebewesen aus Ton. MENANDER erklärt ihn zum Bildner der Frauen, und schließlich erzählt OVID von jenem Gestalter der Welt, welcher Erde und Wasser zu einem gottgleichen Wesen vermischt, das im Unterschied zu den anderen Geschöpfen den Blick aufrecht gegen den Himmel erhob. In der Prometheus-Erzählung sind stets auch die Risiken menschlicher Existenz berücksichtigt. Legen wir die Fassung, welche ihr PLATON in seinem Dialog Protagoras gab, zugrunde, dann bleibt der Mensch im ersten Schöpfungsanlauf defizitär ausgestattet, weil der zerstreute Bruder des Prometheus, Epimetheus, den Tieren alles gab und den Menschen vergaß. Prometheus gleicht diesen Mangel durch den Diebstahl des Feuers und der technischen Weisheit von Hephaistos und Athene aus, wofür ihn eine harte Strafe ereilt. Aber auch die nun überlegen ausgestatteten Menschen, die göttliche Vorteile genossen und ihre Verwandtschaft mit den Göttern durch kultische Verehrung feierten, konnten nicht sorgenfrei leben. Sie zerstörten sich wechselseitig durch Neid und Konkurrenz. Erst als der olympische Gott Zeus den Gott der Diebe, Hermes, mit den Gaben von Scham und Gerechtigkeit zu den Menschen sandte, war die Gestaltung der Menschen an ein Ende gekommen.6 Die letztgenannten bürgerlichen Tugenden sind zwar Gottesgeschenke, aufgrund der agonalen Seelenstruktur bedürfen sie allerdings der Gestaltung, der Bildung.

Seine durchgreifende Bedeutung für das Verständnis menschlicher Bildungsprozesse entfaltete der Prometheus-Mythos erst in der Renaissance. Er bot dem wachsenden Selbstbewußtsein des einzelnen Menschen und seinen Werken eine willkommene Ausdrucksform. Die ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung wurden dagegen vor allem durch die Vorstellung der Imitatio Christi bestimmt, welche das alttestamentliche Bilderverbot durchkreuzte, indem Jesus selbst als konkretes Bild Gottes fungierte, welchem der Mensch nacheifern konnte. Mit dieser Ansicht konnte sich das Vorhaben verbinden lassen, daß die Gottebenbildlichkeit eine Aufgabe des Menschen einschloß. Zwar hatte man schon vorher versucht, mit dem Unsichtbaren zu leben, „indem man sichtbare Symbole für es schuf“.7 Aber die Darstellungen beließen das Antlitz Gottes undeutlich. So blieb die Lage vieldeutig. Während 754 in Byzanz eine Synode die Bilderverehrung verbot, billigte das zweite nicäische Konzil 787 religiöse Bilder, wobei deren Anbetung untersagt blieb. Diese Geste muß allerdings nicht unbedingt als Zeichen aufgeklärter Toleranz verstanden werden, sondern eher als Sanktion bereits vorhandener Bildpraktiken.8 KARL DER GROSSE nutzte die Lage zur Abgrenzung gegen den Osten und verurteilte die Bilderverehrung. Die Kluft zwischen dem irdischen und dem ewigen Leben sollte nicht eingerissen werden.9 Auch die biblia pauperum, die mit ihren Bildern helfen sollte, den Einfachen und Ungebildeten die Heilsbotschaft zu übermitteln, unterlag diesen wechselnden Einschätzungen. Aus missionarischen Gründen billigte sie etwa GREGOR DER GROSSE. Im Bilderstreit der Reformation waren LUTHER und ZWINGLI in dieser Hinsicht großzügig. Luther galten die Bilder als Adiaphora, weder als gut noch als schlecht und somit als heilsgeschichtlich indifferent. Zwingli befürwortete Bilder als didaktische Hilfen und Gedächtnisstützen, zumal sie von sich aus bedeutungslos seien und des vermittelnden Wortes bedürften. CALVIN gab sich mit der Purifizierung der Bilder nicht zufrieden und lehnte sie im Kirchenraum in jeder Form ab, weil sie der geistigen Natur Gottes nicht gerecht werden könnten.10 Das Tridentiner Konzil (abgeschlossen 1563) bestimmt die katholische Position bis heute. Danach ist die Verehrung von Heiligen angesichts von Bildern gestattet, heidnische Idolatrie jedoch strikt verboten.

Einen expliziten Zusammenhang zwischen Gottebenbildlichkeit und Bildung stellten erst Theologen, Philosophen und Mystiker im Mittelalter her. Bilden und einbilden bleiben lange Zeit ohne reflexiven Bezug. Jemand wird gebildet, indem er durch „Entbildung“ für Gott frei wird (MEISTER ECKHART), und jemandem wird etwas eingebildet (PARACELSUS). Das Sichbilden wird erst später und insbesondere für den sogenannten Neuhumanismus des 19. Jahrhunderts zentrales Thema. Angebahnt wird eine solche Möglichkeit allerdings bereits früher in der Stoa, bei PLOTIN und AUGUSTINUS, die einen Rückzug des Menschen in sich selbst kennen und empfehlen, um den Verführungen und Verstellungen der sinnlichen Welt etwas entgegenzusetzen. Plotin empfiehlt: „Kehre ein zu dir selbst und sieh dich an; und wenn du siehst daß du noch nicht schön bist, so tu wie der Bildhauer, der von einer Büste, welche schön werden soll, hier etwas fortmeißelt, hier etwas ebnet, dies glättet das klärt, bis er das schöne Antlitz an der Büste vollbracht hat: so meißle auch du fort was unnütz und richte, was krumm ist, das Dunkle säubere und mach es hell und laß nicht ab an deinem Bild zu handwerken, bis dir hervortritt der göttliche Glanz der Tugend.“11 Die Gestaltung des eigenen Bildes liegt nun in der Hand des menschlichen Bildhauers, des „Autoplasten“.12 Dieser Autoplast ist noch weit entfernt vom modernen Selbstbildner, bleibt er doch wesensmäßig auf Gott bezogen. Erst wenn im Inneren des Menschen dessen Bild nicht mehr erscheint, bricht eine Deutungsgeschichte des Menschen ab, welcher sich als Ebenbild Gottes geformt versteht.

Eine apotheotische Nuance bleibt dem deutschen Bildungsbegriff bis ins zwanzigste Jahrhundert erhalten.13 Gewicht erlangte sie bereits in der griechischen Klassik, welche den nous als göttlich betrachtete, und zwar als riskante Verwandtschaft mit den Göttern. Einflußreich wurden auch die Vorstellungen von Gott als opifex bzw. artifex. In den hermetischen Schriften gewinnt die Auffassung vom „zweiten Gott“, ausgehend vom späten Mittelalter über die Renaissance, an Bedeutung. Während hier der Kosmos als deus secundus fungiert, wird der Mensch als dritter Gott gezählt, der eine Beziehung zum Himmel sowie zur Erde hat.14 Der Mensch profitiert von der Transzendenz Gottes sowie dessen Möglichkeit, im Unterschied zum heidnischen Demiurgen aus dem Nichts zu schaffen, und rückt in den zweiten Rang wegen seiner Gottähnlichkeit, für die seine Erkenntniskraft steht, und wegen seiner künstlerischen Werke, welche auf seine Schöpferkraft verweisen. Einen Gipfel erreicht diese Ähnlichkeit im künstlerischen Sprachschaffen, das einer creatio ex nihilo am nächsten kommt und auf das bereits Aristoteles in seiner Metaphysik anspielt, indem er die Dichter die ersten Theologen nennt.

1 Gottebenbildlichkeit – Zwar spricht auch Platon von der Verwandtschaft des Menschen mit Gott und äußert in seiner Staatsutopie einen deutlichen Bildervorbehalt,15 aber das eigentlich folgenreiche Verhältnis von Ebenbildlichkeit und Bilderverbot stiften zuerst die Genesiserzählung und der Exodusbericht der Bibel.16 Das im Dekalog ausgesprochene Bilderverbot (Ex 20,4): „Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgend etwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde“17 hat zahlreiche altorientalische Vorläufer. Die Durchsetzung des Monotheismus war von einem brutalen Ikonoklasmus gegenüber den alten Göttersymbolen begleitet gewesen, der von vielen Zeitgenossen als Zerstörung, Unterdrückung, Verfolgung und Gottlosigkeit, mithin als radikaler Sinnverlust erfahren worden war.18

Bei allen Mutmaßungen über die Beziehung zwischen Moses als Vermittler des Dekalogs und ECHNATON dürfen indes die Differenzen der heliomorphen Theologie Echnatons und der politischen Theologie des Moses nicht unterschätzt werden. „Echnatons Monotheismus ist kosmologisch, eine religiös interpretierte Naturphilosophie. Der biblische Monotheismus ist historisch, politisch und moralisch, er findet seinen zentralen Ausdruck in Geschichtserzählung, Gesetzgebung und Verfassung.“19 Entscheidend im Alten Testament ist die gesetzmäßige Bindung des Menschen an seinen „Einen Gott“, nach dessen Bild er geschaffen ist. Zum Zwecke der politischen Freiheit von ägyptischer Fremdherrschaft soll in diesem Bund eine politische Ordnung gegründet werden, in welcher der lebendige Gott bilderlos inmitten seines Volkes wohnen kann.

Im Hinblick auf die Erschaffung des Menschen kennt das AT gleich zwei Mythen: Der zweite, ältere und um 900 v. Chr. entstandene sogenannte jahwistische Bericht (Gen 2,4–25) ist anschaulich und unbekümmert anthropomorph. Er rückt Gott in die Nähe eines Töpfers, der den Menschen aus Erde fertigt und ihm Leben einhaucht. Nachdem Adam jedem Tier einen Namen gegeben hatte, schuf ihm Gott aus einer seiner Rippen eine Frau als Gegenüber.20 Diese Erzählung konzentriert sich auf die Beschreibung des Paradieses als Garten und auf die Vertreibung des Menschen. Die Verbannung folgte auf die Sünde,21 die darin bestand, daß zunächst die Schlange Eva und diese dann Adam dazu verführte, vom Baum der Erkenntnis der Differenz von Gut und Böse zu essen. Als Strafe vergällen Scham, Sterblichkeit, Schmerz und Mühsal die menschliche Existenz. Die paradiesische Unschuld ist ein für allemal verloren.

Die erste, jüngere priesterschriftliche Erzählung – entstanden um 500 v. Chr. – wurde im Laufe der Hellenisierung des Christentums zur maßgeblichen Gründungsurkunde der christlichen Anthropologie.22 „Dann sprach Gott: Laßt uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land. Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.“ (Gen 1,26f.) Die Erschaffung des Menschen als Menschen (und nicht erst als Mann, dann als Frau) steht am Ende der Schöpfungswoche vor dem Ruhetag. Die Vorrangstellung des Menschen gründet in seiner doppelten Beziehung zu seinem Schöpfergott: in seiner Abbildhaftigkeit (imago dei) und in seiner Ähnlichkeit (similitudo).23 Neben der auf diese Weise gestifteten Einheitlichkeit des Menschengeschlechts ist das bestimmende Moment das Selbstverständnis des Menschen im Verhältnis zu Gott als dessen Bild, von dem er sich gleichwohl kein Bild machen darf.

Das spannungsreiche Verhältnis von Gottebenbildlichkeit und Bilderverbot steht zunächst für ein Fremdgötterverbot. „Fremdgötterverbot und Bilderverbot sind in Israel entstehungsgeschichtlich so miteinander verbunden, daß das Bilderverbot aus dem Fremdgötterverbot herausgewachsen ist.“24 Die Untersagung bezieht sich infolgedessen auf die Darstellung Gottes durch dreidimensionale Standbilder, wie sie etwa in Ägypten geläufig waren. Imago als Übersetzung von schelem spielt auf Statuen an, welche die Wirkungsmacht Gottes auf Erden versinnbildlichen.25 Die eine Seite ist also die Verehrung Gottes auf der Basis der Bilder. Man kann andererseits die Bilder aber auch zerstören und damit die Gottheit selbst schädigen. Dies ist im Hinblick auf den Gott Israels unmöglich. Er ist unfaßlich. Das Bilderverbot steht für sein Geheimnis und seine Unverfügbarkeit, seine grenzenlose Macht, die auf keinem Wege zu bannen ist. Die biblische Rede von Gott in Form von sprachlichen Metaphern verwendet demgegenüber „Hörbilder“, welche im Gebet zu Gott Beziehungen und Verständigung ermöglichen, die sogleich aber auch vor Hypostasierungen zu bewahren sind. „Kriterium theologischen Redens von Gott ist das Bilderverbot also in dem Sinn, daß es der spezifischen Gefährdung jeder Epoche begegnet, den Begriff Gottes nach dem Bild der eigenen Gegenwart, ihrer Bedürfnisse und Moden, zu formen. Es will – für jede Gegenwart neu – Gott in der Welt Raum schaffen.“26 Das Geheimnis Gottes steht für seine radikale Andersheit bei gleichzeitiger Verwandtschaft mit dem Menschen.

Mit dem historischen Auftreten Jesu von Nazareth als Religionsstifter kompliziert sich das Beziehungsgeflecht von Gott und Mensch: Das Gefüge von Ur- und Abbild erweitert sich auf die drei Positionen Gott – Christus – Mensch.27 Innerhalb der christlichen Theologie gibt es im Hinblick auf diese Problemstellung zwei Interpretationsansätze: einerseits die Restitution der sog. „Urstandsgerechtigkeit“ (iustitia originalis), wonach das geschichtliche Erscheinen von Jesus Christus notwendig war, um den ursprünglich paradiesischen Zustand des Menschen vor dem Sündenfall wiederherzustellen. Andererseits gibt es eine darüber hinausgehende Interpretation, nach der sich mit Christus als „Neuer Adam“ nicht nur eine Rückkehr in den durch die Sünde depravierten Urzustand ergibt, sondern eine Vollendung des Menschen sich allererst und einzig durch und in Jesus Christus vollzieht: „Belügt einander nicht; denn ihr habt den alten Menschen mit seinen Taten abgelegt und seid zu einem neuen Menschen geworden, der nach dem Bild seines Schöpfers erneuert wird, um ihn zu erkennen.“ (Kol 3,9f.; s. a. Eph 4,20–24) Das Geschehen der Menschwerdung Gottes wird als eine die Anfänge mit Adam weit überbietende Vollendung des Menschen begriffen.28

Festzuhalten gilt von diesem wirkmächtigen Bildmotiv, daß die Bestimmung des Menschen als Ebenbild seines Schöpfergottes, von dem er sich zugleich kein Abbild machen darf, diesen nicht nur vor anderer Kreatürlichkeit auszeichnet, sondern daß dadurch an ihn auch eine ethische Forderung ergeht, sich die Natur untertan zu machen und zugleich im gottgefälligen Handeln seinem Schöpfergott ähnlich zu werden.

2 Imago Dei in der mittelalterlichen Philosophie – Im Anschluß an die doppelte Bestimmung des Menschen finden sich zahlreiche Spekulationen, die vermittels des Begriffspaars von imago Dei und similitudo Differenzen zwischen dem inkarnierten Gottessohn und dem Menschen markieren. ORIGINES unterscheidet gemalte oder plastische Abbildungen vom „Bild“ in diesem Sinne, daß das Erschaffene Bild des Erzeugers genannt wird. „Ich glaube nun, das erstgenannte Beispiel kann auf den Menschen bezogen werden, der ‚nach dem Bild und Gleichnis Gottes‘ geschaffen ist. […] Mit dem zweiten Beispiel jedoch kann die Abbildhaftigkeit von Gottes Sohn verglichen werden, von der jetzt die Rede ist, auch insofern er ein unsichtbares Abbild des unsichtbaren Gottes ist.“ Zugleich resultiert für Origines aus der Abbildhaftigkeit Jesu die Einheit der Natur von Gott und Sohn, die später in die Formel von der Verschiedenheit der trinitarischen Personen bei Einheit ihrer Natur mündet.29 Trotz der Unterschiede zwischen Mensch und Menschensohn bindet Origines über das Methexis-Modell die Geschöpfe in einem stufenweisen Aufstieg an ein ethisches Telos.30 Der Aufstieg als Reinigung von aller Unreinheit durch Teilhabe ist nicht allein an die göttliche Gnade gebunden, sondern verdankt sich auch einem pädagogischen Bildungsprogramm: „Denn wer genau so ist, wie sein Schöpfer ihn wollte, wird dann auch von Gott die Gnade erhalten, daß seine Tugend Dauer hat und auf ewig bleibt. […] zu diesem Zweck hat die Weisheit die Aufgabe, die Geschöpfe zu lehren und zu erziehen [instruere atque erudire] und zur Vollkommenheit zu führen mit der Stärkung und unaufhörlichen Heiligung des heiligen Geistes, durch die allein sie Gott fassen können.“31 Das Ziel dieses Prozesses ist, daß „das Seiende die gleiche Würde“ hat wie der, „der es ins Sein rief.“32 Diese Verähnlichung mit Gott weist auf eine Auseinandersetzung voraus, die erst mit dem ersten Konzil von Nicäa 325 n. Chr. entschieden wurde, dort allerdings bezogen war auf das Verhältnis zwischen Gottvater und Gottes Sohn.

Gegen die Arianer wird in die Definition aufgenommen, daß der Sohn mit dem Vater wesensgleich bzw. wesenseins (homo ousios) sei; seitens der östlichen Kirchenväter wird dieser Festlegung das „homoi ousios“ entgegengehalten, wonach die Natur oder das Wesen des Sohnes lediglich eine Wesensähnlichkeit zur väterlichen Instanz besitze. ATHANASIOS und AMBROSIUS, der Mailänder Lehrer von Augustinus, setzen schließlich das nicäische symbolon und damit die Wesensgleichheit und -einheit von Vater und Sohn durch: Betonte das ostkirchliche homoi ousios die Transzendenz Gottes, so insistierte das westkirchliche homo ousios auf der Vermittlung von göttlicher und menschlicher Natur in der Instanz des Sohnes. Dies zeitigte auch Konsequenzen in der östlichen und westlichen Ikonik. „Im Gegensatz zum augustinischen und, allgemein gesagt, westlichen Gedanken, daß Gott auch in seinen Spuren in der nichtmenschlichen Natur erkennbar sei, sahen die Byzantinen die Dinge der Natur nur als begleitende Symbole innerhalb der weltweiten Liturgie an, die durch Christus und durch die Hierarchien der Engel und Menschen begangen und durch die heiligen Ikonen vor Augen geführt wird.“33

Augustinus reserviert imago für die vernunftbegabten Geschöpfe wie Engel und Menschen, während similitudo allen Geschöpfen, selbst den nicht mit Vernunft ausgestatteten, zukommt.34 Aber auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht rekurriert Augustinus auf Ähnlichkeit und Bildhaftigkeit: Das Bild meint Ähnlichkeit, nicht aber Gleichheit.35 „Die Seele hat also irgendeine Ähnlichkeit mit dem gekannten Wesen, mag es gefallen, mag sein Fehlen mißfallen. So sind wir, soweit wir Gott kennen, ihm ähnlich; aber nicht sind wir bis zur Gleichheit ähnlich, da wir ihn nicht so kennen, wie er sich selbst kennt. Wenn wir ferner durch den Sinn des Körpers Körper kennenlernen, so entsteht in unserer Seele eine Ähnlichkeit mit ihnen, die ein Vorstellungsbild der Erinnerung ist […]. Wenn wir sonach Gott kennen, so werden wir zwar besser, als wir vor dieser Kenntnis waren […], und es entsteht durch diese Kenntnis irgendwie eine Ähnlichkeit mit Gott; sie ist jedoch niedriger als er, weil sie in einer niedrigeren Natur geschieht. […] Und so ist die Kenntnis sowohl Bild als Wort, weil sie Ausdruck des Geistes ist, wenn sie sich ihm in der Erkenntnis angleicht, und das Erzeugte ist dem Erzeugenden gleich.“36

Die mittelalterliche Philosophie benutzt similitudoimago Dei in vielfacher Perspektive, um Unterschiede zu markieren.37 HUGO VON ST. VIKTOR entwickelt ein umfassendes und kanonbildendes Bildungsverständnis, das aus der Tatsache der durch die Erbsünde depravierten Menschennatur die Notwendigkeit der Wissenschaften ableitet, insofern das höchste Wissen der Philosophie die vor dem Sündenfall existierende Vollkommenheit des Menschen, die in seiner Gottähnlichkeit besteht, durch eine reparatio integritatis wiederherstellt.38 „Dies aber ist, womit alle Wissenschaften sich beschäftigen, und dies ist, was sie anstreben: daß die göttliche Ähnlichkeit [similitudo] in uns wiederhergestellt werde, die Ähnlichkeit, die für uns eine Form, für Gott aber seine Natur ist.“39 Hugo postuliert überdies die Aufwertung der traditionell geringgeschätzten artes mechanicae gegenüber den aus Trivium und Quadrivium bestehenden freien Künsten und bezeugt damit ein neues Selbstbewußtsein handwerklichen Könnens, obschon ihm zufolge das Handeln des Menschen keinesfalls gottgleiche Schöpfung, sondern nur Nachahmung der Natur ist.40 Die ars mechanica unterscheidet sich von der spekulativen und sittlichen Einsicht dadurch, daß es ihr nicht um eine Wiederherstellung paradiesischer Zustände geht, sondern in gut prometheischer Tradition um die zeitlich begrenzte Ausbesserung von menschlichen Defiziten.41

THOMAS VON AQUIN trifft die Unterscheidung zwischen dem Menschensohn als imago Dei perfecta und dem Menschen als bloßer imago imperfecta, der nur ad imaginem Dei geschaffen ist.42 Es zeigt sich hier der Versuch, einerseits die Nähe des Menschen zu seinem Schöpfergott zu beschreiben, die ihn von den anderen Kreaturen und Kreationen abhebt, andererseits aber auch den Abstand zwischen Mensch und Gott zu wahren, so daß jenen der Vorwurf nicht trifft, er unternehme den Versuch, gottgleich zu werden. In diesem Sinne behält auch Meister Eckhart die durch die Tradition bereitgestellte Dreistelligkeit von Urbild, Abbild und Ähnlichkeit bei, schwächt allerdings die Unterordnung des Menschen ab und verbindet zudem die Würdigung des Menschen mit einem Bildungsprozeß. Die Intellekttheorie DIETRICH VON FREIBERGS geht dieser Aufwertung des Menschen und annähernden Identität von Gott und menschlicher Seele voraus. Dietrich beschreibt die Tätigkeit des intellectus agens als Konstitutionsakt alles Seienden.43 Um die Abkünftigkeit des tätigen Intellekts von seinem Prinzip, nämlich Gott, zu bezeichnen, verwendet Dietrich die Bestimmung „Bild“: Das Bild ist von dem, dessen Bild es ist, hervorgebracht. Allerdings lehnt Dietrich die Vorstellung ab, daß der Intellekt als Bild und als vom Prinzip Hervorgebrachtes ein von diesem äußerlich und kausal Gewirktes sei: Das heißt, daß die „Differenz zwischen Abgebildetem und Abbild […] somit immer schon überwunden [ist] im Insein des Abgebildeten im Abbild.“44 Der tätige Intellekt ist seinem Prinzip, Gott, nahezu ebenbürtig und gleichrangig. Die Differenz zwischen Ur- und Abbild schwindet. Eckhart schreibt diese Tendenz fort und reformuliert sie als Bildungs-, Entbildungs- und Überbildungsprozeß. „Ich sage wahrheitsgemäß: Solange sich irgend etwas in dir erbildet, was das ewige Wort nicht ist oder aus dem ewigen Wort auslugt, und mag es auch noch so gut sein, so ist es wahrlich nichts Rechtes damit. Darum ist einzig der nur ein gerechter Mensch, der alle geschaffenen Dinge zunichte gemacht hat und geradlinig ohne alles Auslugen auf das ewige Wort hin gerichtet steht und darein eingebildet und wiedergebildet [mhd.: dar in gebildet und widerbildet] in der Gerechtigkeit. Ein solcher Mensch empfängt dort, wo der Sohn empfängt, und ist der Sohn selbst.“45 In weiteren Ausführungen wird dann deutlich, daß die Differenz des Gottessohnes und der menschlichen Seele im Kontrast zu dem ungeborenen, ewigen Gottvater darin besteht, daß jene allein durch die Geburt von diesem getrennt sind. Wie die Anverwandlung der menschlichen Seele an Gott zu denken ist, zeigt Eckhart in seiner Expositio Evangelii secundum Iohannem, in der er den Versuch unternimmt, die im Evangelium zum Ausdruck gebrachte Heilsbotschaft mit den Mitteln der Vernunft, per rationes naturales philosophorum, zu begreifen. Das menschliche Denken soll bis an seine Grenzen der Diskursivität getrieben werden, bis ihm im Verstehen des Absoluten die begrifflichen Mittel versagen, da doch das Absolute sich der Relationsarbeit diskursiver Begriffe entzieht. Erst hier greift Eckhart auf paradoxe Formulierungen zurück, um den Sachverhalt deutlich zu machen. Die Auszeichnung des Gottessohnes und der menschlichen Seele erfolgt über das Begriffspaar „Univozität – Analogizität“, wobei die äußerliche, analoge Relation eine Relationalität bei einseitiger Prävalenz eines der Relata meint, die univoke Korrelation aber ein immanentes Bezugsverhältnis bezeichnet als Selbstvermittlung des Absoluten oder als wechselseitige Bezogenheit innerhalb der Korrelationalität oder als Durchdringen der aufeinander Bezogenen.46

Im Buch der göttlichen Tröstungen betrachtet Eckhart den Aufstieg des oberen Seelenteils zum univoken Verhältnis als einen solchen, bei dem der Mensch alle kreatürlichen Gegenstände als Verkennungen sein läßt, um so zur „Gelassenheit“ zu kommen. Dies nennt Eckhart „Entbildung“: „Drum soll der Mensch sich sehr befleißigen, daß er sich seiner selbst und aller Kreaturen entbilde [mhd.: daz er sich entbilde sin selbes und aller creaturen] und keinen Vater kenne als Gott allein; dann kann ihn nichts in Leid versetzen oder betrüben.“47 Desgleichen beschreibt Eckhart diesen Prozeß als Bildung der Seele hin zu Gott: „Und doch, da sie [scil. die höchsten Kräfte der Seele] nicht Gott selbst sind und in der Seele und mit der Seele geschaffen sind, so müssen sie ihrer selbst entbildet und in Gott allein überbildet und aus Gott geboren werden, auf daß Gott allein ihr Vater sei; denn so auch sind sie Söhne Gottes und Gottes eingeborner Sohn. Denn alles dessen bin ich Sohn, was mich nach und in sich als gleich bildet und gebiert.“48 Für den Menschen bedeutet Bildung jetzt eine immense Aufwertung, ist er jetzt doch nicht mehr nur ad imaginem Dei geformt, sondern er ist die imago Dei, ist nun Bild Gottes in einem univoken Verhältnis.49 Die Dreistelligkeit von Gott als Urbild, Christus und der menschlichen Seele als Bild sowie der Ähnlichkeit alles Kreatürlichen wird tendenziell zweistellig, indem Urbild und Bild gemeinsam in Distanz zur Ähnlichkeit rücken. Der Mensch als Bild Gottes nähert sich dem Absolutum, dem er seine Geburt verdankt.

3 Selbstbildung des Menschen im Übergang zur Neuzeit – Die Anähnelung des Menschen an Gott vollzieht sich bei Dietrich und Meister Eckhart über die Steigerung jener Fähigkeiten, welche der Erkenntnisinstanz zugemutet werden. Die transzendentallogische Intellekttheorie Dietrichs beschreibt die Arbeit des Intellekts als Konstitutionsakt, insofern die apriorischen Bedingungen der Erkenntnis als Erkenntnisgrund aller möglichen Erkenntnisgegenstände dargelegt werden; und Eckhart beschreibt den Bildungsprozeß des oberen Seelenteils quasi als Apotheose. Beide rekurrieren dabei auf die Bestimmung der mens bei Augustinus, die selbstreferentiell die universale Mittlerin aller Wissensgegenstände ist und zudem als selbstkonstitutiv bestimmt wird: Unser Wissen ist Wissen des Geistes, der sich im Erfassen selbst konstituiert.50 Darüber hinaus betont bereits Augustinus die Bildhaftigkeit der mens: „Diese Dreiheit des Geistes ist also nicht deshalb Bild Gottes, weil der Geist sich seiner erinnert, sich einsieht und liebt, sondern weil er zu erinnern, einzusehen und zu lieben vermag, von dem er geschaffen ist. Wenn er dies tut, wird er selbst weise. Tut er es nicht, dann ist er, auch wenn er sich seiner erinnert, sich einsieht und liebt, töricht. Er erinnere sich daher seines Gottes, nach dessen Bild er geschaffen ist, sehe ihn ein und liebe ihn. Um es kürzer zu sagen: Er möge Gott verehren, der nicht geschaffen ist, von dem er jedoch so geschaffen wurde, daß er aufnahmefähig ist für ihn und seiner teilhaftig werden kann.“51 Während jedoch Augustinus die Relation von Gott und mens neuplatonisch als participatio beschreibt, wird bei Dietrich der Intellekt selbst schöpferisch, und bei Eckhart zeigt sich die Einheit von göttlicher und menschlicher Natur, indem die Grenze zwischen Ur- und Abbild eingezogen wird: „[…] daß sie k= die Vernunftl ein ‚Bild‘ ist. Wohlan, nun gebt gespannt acht und behaltet dies wohl, kdennl die ganze Predigt habt ihr darin kbeschlossenl: Bild und Ur-Bild ist so völlig eins und miteinander, daß man da keinerlei Unterschied erkennen kann [mhd.: bilde und bilde ist so gar ein und mit einander, daz man keinen underscheit da verstan enmac]. […] man kann keinerlei Unterschied erkennen zwischen Bild und kUr-lBild. […] Verginge das ‚Bild‘, das nach Gott gebildet ist, so verginge auch das ‚Bild‘ Gottes.“52

Auch bei NIKOLAUS VON KUES gelingt die menschliche Deifikation primär über die Bestimmung der mens als Bild Gottes und zugleich als Urbild aller Bilder.53 Die Kraft der menschlichen mens resultiert aus der Zusammenfaltung des Ausgefalteten (complicatioexplicatio), wobei Cusanus, im Unterschied zu Eckhart, die Differenz zwischen Ur- und Abbild beibehält.54 Darüber hinaus charakterisiert Cusanus den Menschen als deus humanus, der auf menschliche Weise Gott ist: „Da die Einheit der menschlichen Natur auf menschliche Weise eingeschränkt ist, faltet sie offensichtlich alles entsprechend dieser ihrer Arteinschränkung ein. […] Der Mensch ist nämlich Gott, allerdings nicht schlechthin, da er ja Mensch ist; er ist also ein menschlicher Gott. […] und wie auf menschliche Weise Gott, so kann er auch ein menschlicher Engel, ein menschliches Tier, ein menschlicher Löwe oder Bär oder jedes andere sein.“55 Die letztgenannte Bestimmung des Nicht-festgestelltseins des Menschen wird auch in der Folgezeit wieder aufgegriffen, allerdings dann nicht auf den menschlichen Erkenntnisvollzug, sondern auf den Handlungsspielraum bezogen. Aber schon bei Cusanus gilt die menschliche Praxis als Kennzeichen seiner Gottesnähe: „Der Laie nahm einen Löffel zur Hand und sagte: Der Löffel hat außer der von unserem Geist geschaffenen Idee kein anderes Urbild. Denn wenn auch ein Bildhauer oder ein Maler die Urbilder von den Dingen hernimmt, die nachzugestalten er sich müht, so tue ich das doch nicht, der ich aus Hölzern Löffel und Schalen und Töpfe aus Ton hervorbringe. Dabei ahme ich nämlich nicht die Gestalt irgendeines Naturdinges nach. Solche Formen von Löffeln, Schalen und Töpfen kommen nämlich nur durch menschliche Kunst zustande. Daher besteht meine Kunst mehr im Zustandebringen als im Nachahmen geschöpflicher Gestalten und ist darin der unendlichen Kunst näher.“ – „So ist der ganze Löffel, den ich im Geist erdacht habe, das Urbild, auf das ich blicke, während ich einen Teil gestalte.“56 Im Unterschied zur altgriechischen Bestimmung der herstellenden Künste als Unterstützung der Natur auf dem Wege zu der ihr eigentümlichen Vollkommenheit, auch anders als Hugo von St. Viktors Eingrenzung der Handwerkerkunst auf die Nachahmung der Natur, konzediert Cusanus dem Laien auf dem Marktplatz die gottgleiche Fähigkeit, Neues und in der Natur nicht Vorfindliches herzustellen, indem er es zuvor als Exemplar in seinem Geiste geschaffen hat. Die handwerklichen Praxen in der Renaissance sind Ausdruck und Resultat eines auf neue Höhen gestiegenen menschlichen Könnensbewußtseins. Die Entwicklung der Zentralperspektive ist nur ein Indiz für die stolze Selbsteinschätzung des Menschen, der sich als „zweiter Schöpfer“ versteht.

GIANNOZZO MANETTI leitet sein am Anfang der Würdeliteratur der Renaissance stehendes Werk De dignitate et excellentia hominis mit einer bis dahin ungewöhnlichen Preisung des menschlichen Körpers ein. Dabei erinnert er an die jahwistische Schöpfungserzählung. Mit Ovid rühmt er zudem den aufrechten Gang, welcher den Menschen von allen anderen Geschöpfen unterscheide. Manetti stellt – ebenso ungebräuchlich – die vita activa der vita contemplativa voran. Die Dignität der menschlichen Natur zeigt sich im technischen und kulturellen Möglichkeitsspielraum. Im Unterschied zum instinktgeleiteten Tier ist der Mensch in den Stand gesetzt, „jede beliebige Kunst und nicht nur eine allein zu begreifen.“57 „Unser sind die Bilder, unser die Skulpturen, unser sind die Künste, unser die Wissenschaften, unser ist […] die Weisheit; unser sind schließlich sämtliche Erfindungen, um uns nicht zu lange bei den einzelnen aufzuhalten, die es in einer fast unzähligen Menge gibt, unser sind alle Formen der verschiedenen Sprachen und Schriften, deren unerläßlichen Nutzen zu bewundern und zu bestaunen wir umso mehr genötigt werden, je intensiver wir darüber nachdenken.“58 Die von Gott einzig dem Menschen verliehene Würde ergibt sich aus der Inkarnation Gottes in Christus, die auch dann stattgefunden hätte, wäre es nicht zum Sündenfall gekommen.59 Dieses optimistische Menschenbild steht quer zu dem eher pessimistischen der deutschen Reformation, wonach der Mensch, der, durch die Erbsünde gebrandmarkt, der göttlichen Gnade zu seiner Errettung bedarf, welche nicht durch Werke zu beeinflussen ist.60

Gegen derartige religiöse Orientierungen wendet PIETRO POMPONAZZI ein, daß die christliche Jenseitskonzeption nicht nur die paradiesische Glückseligkeit einer unsterblichen Seele, sondern auch ewige Höllenqualen umfaßt, und plädiert für eine radikale Diesseitsorientierung: Als Ausdruck des neuen Könnensbewußtseins im Diesseits kann und soll sich der Mensch vermittels seiner praktischen Vernunft bewähren.61 Die These von der Unbeweisbarkeit der Unsterblichkeit der Seele richtet sich bei Pomponazzi wohl weniger gegen Platon selbst als gegen den italienischen Renaissance-Platonismus, der mit der Platon-Ausgabe MARSILIO FICINOS auf den Plan getreten ist. Ficinos Hauptwerk, die Theologia Platonica, handelt nämlich im Anschluß an Platons Phaidon von der Unsterblichkeit der Seele: Da die mit dem sterblichen Körper verbundene Seele in statu terrestris in ihrem sinnlichen Verlangen nach zeitlichen Gütern stets unbefriedigt bleibt und niemals zur Ruhe kommt, so daß Ficino den Menschen in diesem Zustand sogar mit dem „unglücklichen Prometheus“ vergleichen kann,62 findet die vernunftbegabte Individualseele ihre Erfüllung erst post mortem – nur die unkörperliche, autarke, freie und mithin unsterbliche Seele besitzt eine Affinität, eine similitudo zu Gott. Dank der anima rationalis als göttliche Seele kann der Mensch die Schöpfung Gottes nachvollziehen. Ficino nennt sie daher auch „Rivalin Gottes“.

GIOVANNI PICO DELLA MIRANDOLA verknüpft zu Beginn seiner Rede über die Würde des Menschen die christliche Schöpfungstradition mit der prometheischen. Er gibt den menschlichen Willen zur Selbstgestaltung und -bildung mit den Worten des Propheten Asaph wieder: „Ihr seid alle Götter und Söhne des Höchsten.“63 Mit dieser Auszeichnung verbindet er die Warnung an den Menschen, seine freie Wahl nicht zu mißbrauchen, ist doch für Pico der Mensch, ähnlich wie bei Manetti, nicht festgestellt. Gott als optimus opifex ruft seinem Menschen/Adam zu, daß er als Bildhauer sich selbst zu formen im Stande ist: „,Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam, kein eigenes Aussehen noch irgendeine besondere Gabe, damit du den Wohnsitz, das Aussehen und die Gaben, die du selbst dir ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch und Entschluß habest und besitzest. Die Natur der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt und wird innerhalb von uns vorgeschriebener Gesetze begrenzt. Du sollst dir deine ohne jede Einschränkung und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selber bestimmen. Ich habe dich in die Mitte der Welt gestellt, damit du dich von dort aus bequemer umsehen kannst, was es auf der Welt gibt. Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst. Du kannst zum Niedrigeren, zum Tierischen entarten; du kannst aber auch zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden, wenn deine Seele es beschließt‘.“64 Nun ist dem Menschen auch der Blick von oben auf die Welt ermöglicht. Daß er Geschöpf bleibt, zeigt sich lediglich noch darin, daß er von Gott dorthin gestellt wurde.

Das neuzeitliche Könnensbewußtsein erfaßt neben der freien Selbstgestaltung des Menschen auch die Gestaltung der äußeren Natur. Picos Rede auf die Würde des Menschen war schließlich Teil einer 1487 veröffentlichten Apologie seiner 900 Thesen, die er ein Jahr zuvor nach Rom mitgebracht hatte, um sie dort in einem öffentlichen Streitgespräch zu verteidigen.65 Auch hierin dokumentiert sich der Gestaltungswille im Bereich der Natur: Diese ist nicht mehr Symbol oder Spur göttlicher Schöpfung, sondern wird zum Handlungsspielraum menschlicher Eingriffe. Für den deutschsprachigen Raum ist dieses naturphilosophische Ansinnen für die Bildungssemantik deshalb von Bedeutung, weil „Bildung“ jetzt nicht mehr allein auf den Menschen und seine Seele bezogen ist. „Bildung“ ist nicht nur eruditio im erzieherischen Sinn, sie findet ihre lateinische Wurzel auch in der formatio als Gestaltung äußerer Objekte sowie in der imaginatio als Einbildungskraft.66 Paracelsus sucht in seinen naturphilosophischen und medizinischen Schriften die Frage nach körperlichen Krankheiten sowie der Entwicklung des menschlichen Fötus zu beantworten und kommt zu der Einsicht, daß geistige, also immaterielle Einflüsse ursächlich für die Bildung materieller Phänomene sind. Ähnlich wie ein Handwerker zunächst in seinem Geist einen Plan bildet, nachdem sich der Arbeitsgegenstand im Handlungsvollzug realisiert und materialisiert, zeigen sich zum Beispiel Mißbildungen von Neugeborenen als Resultate des „Versehens“ der Schwangeren.67 Im Unterschied zum heutigen Sprachgebrauch, der „einbilden“ reflexiv und abschätzig im Sinne von „sich etwas vormachen“ verwendet, meint „einbilden“ bei Paracelsus noch den transitiven Prozeß, in dem „jemand jemandem etwas eingibt“. Er verfolgt mit seiner Naturphilosophie ein auf empirischer Basis fundiertes aufklärerisches Programm, das sich kritisch von scholastischer Buchgelehrsamkeit und von der zeitgenössischen Astrologie absetzt. Ihm geht es um die erfahrungsgesättigte Analyse natürlicher Begebenheiten, in der sich das frühneuzeitliche Bewußtsein neuer Gestaltungsmöglichkeiten in der Natur zum Ausdruck bringt. Trotz aller Parallelen im naturphilosophischen Ansatz unterscheidet dies Paracelsus von JAKOB BÖHME, dessen Denken gleichsam eine Synthese des mystischen Denkens mit naturphilosophischen Spekulationen darstellt. So finden sich in dessen Aurora mystische Konzeptionen einer Vereinigung mit Gott wie bei SEUSE, er unternimmt aber auch, rund hundert Jahre später als Paracelsus, aus bizarrer naturspekulativer Perspektive den Versuch einer Rekonstruktion des Schöpfungsberichtes der Genesis im Rückgriff auf sogenannte „Quellgeister“ – dies aber keineswegs mehr erfahrungsorientiert wie bei Paracelsus und überdies im Kontrast zu den Ergebnissen der zeitgenössischen Naturwissenschaft.

Am Beispiel Pico ließ sich der Zusammenhang zwischen der Vorrangstellung des Menschen und sein Ausgriff auf Naturbeherrschung kraft der Magie zeigen. An dessen dignitas-Begriff schließt auch TOMMASO CAMPANELLA in seiner Kanzone Della possenza dell’ uomo an, und es scheint mit Rückblick auf das naturwissenschaftliche Könnensbewußtsein auch kein Zufall zu sein, daß Campanella als Vertreter der Literaturgattung des utopischen Staatsromans in seinem Sonnenstaat die Züchtung einer Menschenrasse vordachte.68 Der Mensch als Geschöpf Gottes erhebt sich in der Neuzeit in die Position eines Selbstschöpfers, und zwar individual- wie gattungsgeschichtlich.

4 Subjektivität und Bildung im 18. und 19. Jahrhundert – Fand sich in der Naturphilosophie des Paracelsus noch die transitive Bestimmung von „bilden“, so zeigt sich in KANTS Kritik der Urteilskraft, die zu einem Gründungstext für die nachfolgende idealistische und frühromantische Philosophie avancierte, die reflexive Verwendung: „Ein organisirtes Wesen ist also nicht bloß Maschine: denn die hat lediglich bewegende Kraft; sondern es besitzt in sich bildende Kraft und zwar eine solche, die es den Materien mitteilth, welche sie nicht haben (sie organisirt): also eine sich fortpflanzende bildende Kraft, welche durch das Bewegungsvermögen allein (den Mechanism) nicht erklärt werden kann.“ Und parallel zur Selbstbildung tritt in diesem § 65 zudem als ein Beispiel für zahlreiche Autokomposita am Ende des 18. Jahrhunderts die Idee der Selbstorganisation auf, wenn Kant das Naturprodukt vom bloß mechanischen Werkzeug abgrenzt, indem er es „als ein die andern Theile (folglich jeder den andern wechselseitig) hervorbringendes Organ [beschreibt], dergleichen kein Werkzeug der Kunst, sondern nur der allen Stoff zu Werkzeugen (selbst denen der Kunst) liefernden Natur sein kann: und nur dann und darum wird ein solches Produkt, als organisirtes und sich selbst organisirendes Wesen, ein Naturzweck genannt werden können.“69

Kant greift hier eine Debatte innerhalb der zeitgenössisch sogenannten Naturgeschichte auf,70 in denen zwei entgegengesetzte Richtungen die Entwicklung organischer Wesen zu erklären suchten: Die vordarwinistische Evolutionstheorie ALBRECHT VON HALLERS erklärte sich das Wachsen eines pflanzlichen, tierischen oder menschlichen Organismus als pure Herausentwicklung (evolutio) eines von Anbeginn der göttlichen Schöpfung bereits vorhandenen Programms, das sich in den Keimen verortet findet. Diese Konzeption, wonach die Ontogenese gleichsam mechanisch das Schöpfungsprogramm exekutiert, kann folgerichtig weder Varietäten noch Neues innerhalb der Naturgeschichte denken noch hinreichend erläutern, wieso bestimmte Tierarten lädierte Gliedmaßen reproduzieren können. Von den Epigenetikern, der zweiten naturgeschichtlichen Richtung, wird daher das Beispiel der Eidechse herangezogen, an dem sich in der Fähigkeit, einen abgeworfenen Schwanz nachwachsen zu lassen, die epigenetische Kraft der individuellen vis essentialis zeigt.71 JOHANN FRIEDRICH BLUMENBACH erweitert die Konzeption einer vis essentialis um folgende Momente: die Nutrition (Ernährung), die Generation (Zeugung) und die Reproduktion (Erhaltung). Er belegt die diesen Momenten zugrunde liegende Kraft mit dem Terminus nisus formativus, den er in deutscher Übersetzung ab 1780 mit „Bildungstrieb“ wiedergibt.72

Daß „Bildung“ als selbstformativer Prozeß im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine relativ neue semantische Erweiterung erhält, wird oftmals mit den Eingangssätzen von MOSES MENDELSSOHN in seinem Aufsatz „Über die Frage: Was heißt aufklären?“ belegt, den er in der September-Nummer der Berlinischen Monatsschrift 1784 publiziert. „Die Worte Aufklärung, Kultur, Bildung sind in unsrer Sprache noch neue Ankömmlinge.“73 Indes relativiert Mendelssohn bereits selbst diese allgemeine Aussage, indem er einräumt, daß sie der Sache nach als „Modifikationen des geselligen Lebens“ bekannt seien. Bereits 1770 findet sich – neben der Verwendung im naturwissenschaftlichen Diskurs – in JOHANN GOTTFRIED HERDERS Abhandlung über den Ursprung der Sprache „Bildung“ als selbstschöpferischer Akt des Menschen. Gegen die Sprachursprungstheorie JOHANN PETER SÜSSMILCHS wendet Herder ein: „Der höhere Ursprung [der Sprache] ist, so fromm er scheine, durchaus ungöttlich: Bei jedem Schritte verkleinert er Gott durch die niedrigsten, unvollkommensten Anthropomorphien. Der Menschliche zeigt Gott im größesten Lichte: sein Werk, eine Menschliche Seele, durch sich selbst, eine Sprache schaffend und fortschaffend, weil sie sein Werk, eine Menschliche Seele ist. Sie bauet sich diesen Sinn der Vernunft, als eine Schöpferin, als ein Bild seines Wesens. Der Ursprung der Sprache wird also nur auf eine würdige Art Göttlich, sofern er Menschlich ist.“74 In der menschlichen Seele trifft man auf den Ursprung der Sprache, die als oratio die ratio umfaßt. Insofern ist es nur schlüssig, wenn Herder in seiner ersten geschichtsphilosophischen Schrift: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit von 1774 „Bildung“ über die ontogenetische Individualbildung des Menschen zu einer Bildung der Menschengeschichte erweitert.

Der Einfluß des lutherischen Protestantismus sowie des Pietismus hatten die auch schon bei Plotin geschätzte Innerlichkeit im Verlaufe der Zeit zu einer manifesten Selbstdeutung des Menschen werden lassen. Über KLOPSTOCK gerieten hochmystische Motive und über den viel beachteten SHAFTESBURY neue Möglichkeiten, den „inneren Sinn“ zu begreifen, in den Bildungsdiskurs. Sprache wurde zum bevorzugten Medium der menschlichen Selbstdeutung. Dichtung etwa bezeugt die Imaginationskraft, die vom Standpunkt der Sprache aus eine enge Verwandtschaft mit der lange begehrten creatio ex nihilo zeigt, zumal sich das echte Genie durch seine Werke am unendlichen Leben erhält. Romantik, Idealismus und deutsche Klassik würdigen den Menschen als genialen Schöpfer. In der Moderne betont Bildung den Menschen vor allem als „Werk seiner selbst“. Die vormalige Asymmetrie von Ebenbildlichkeit und Bilderverbot gerät in den Hintergrund. Nach JOHANN GOTTLIEB FICHTE ist es nicht länger bloß ein göttlicher Seelenfunke, an den das Ich durch Ent-Bildung heranreicht, es ist das „reine göttliche Daseyn“, dem sich das Ich aus eigener Anstrengung annähert.75

An Herders Bestimmung von „Bildung“, allem voran als Geistesbildung, aber auch an idealistische Wertschätzungen einer versöhnenden Identität kann der Neuhumanismus im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts anknüpfen, für den WILHELM VON HUMBOLDT als der maßgebliche und wirkmächtigste Vertreter steht. Humboldt fokussiert die Geistesbildung als oszillierende Wechselwirkung zwischen „Mensch“ und „NichtMensch“: „Ueberall hat das Genie nur die Befriedigung des innern Dranges zum Zweck, der es verzehrt, und der Bildner z.B. will nicht eigentlich das Bild eines Gottes darstellen, sondern die Fülle seiner plastischen Einbildungskraft in dieser Gestalt ausdrücken und heften. Jedes Geschäft kennt eine ihm eigenthümliche Geistesstimmung, und nur in ihr liegt der ächte Geist seiner Vollendung. Aeussere Mittel es auszuführen giebt es immer mehrere, aber die Wahl unter ihnen kann nur jene, nur ob sie geringere oder vollere Befriedigung findet, bestimmen.“76 Die in ihrer Mannigfaltigkeit sowie in ihren Naturgesetzen selbst- und widerständige Welt interessiert lediglich aus der Perspektive des empfänglichen und tätigen Subjekts. Fungiert bei Herder die menschliche Seele noch als Sprachschöpferin zur größeren Ehre Gottes, so tritt beim jungen Humboldt allein die Zweipoligkeit von „Mensch“ und „NichtMensch“ auf den Plan, wobei der Vorrang des Subjekts dadurch gesichert scheint, daß die Welt zum bloßen Material seiner Auseinandersetzung wird.77

Indes zeigt sich das gesteigerte Selbstbewußtsein des sich selbst bildenden Subjekts innerhalb der Kunst bereits zwischen 1740 und 1770 in der Adaption des antiken Pygmalion-Motivs.78 Bei Ovid folgt diese Erzählung79 unmittelbar der Episode von den Propoetiden (X, V. 238–242), die aufgrund ihrer Unsittlichkeit von Venus versteinert werden. Der Bildhauer Pygmalion, von der Untreue der Frauen enttäuscht, schnitzt eine Frauengestalt aus Elfenbein, die seine Begierde weckt. „Ars adeo latet arte sua“ (V. 252) – die Kunst verbirgt ihren Kunstcharakter, so daß Pygmalion, verliebt in die Elfenbeingestalt, schließlich bei einer Opferung am Festtag der Venus die Belebung der Statue erbittet, die Venus ihm gewährt. Die Belebung der Gestalt gelingt bei Ovid nur mit Hilfe der Göttin. Daß die Figur jedoch sprechen könnte, davon ist bei Ovid keine Rede. Um 1750 tritt nun eine Zäsur in der Rezeption der Pygmalion-Erzählung auf: In ETIENNE BONNOT DE CONDILLACS Traité des sensations von 1754 zeigt die sukzessive Belebung der Sinne einer Statue, daß sich bereits im Geruchssinn Momente von Aufmerksamkeit, Erinnerung, Vergleichung, Beurteilung und Vorstellung aufzeigen lassen und somit bruchlos zum Denkvermögen hinleiten. Condillac geht es um die Darlegung des Zusammenspiels von Sinneswahrnehmung und Urteilskraft sowie deren Entwicklung. Im Anschluß an seine Kritik des Sensualismus80 entwickelt er ein anti-cartesianisches Erziehungsprogramm, demzufolge die Erziehung des Geistes über die Erziehung der Sinne verläuft.81 Allerdings ist die von ihm imaginierte Figur nur näherungsweise vollkommen, fehlt ihr doch ein reflexives Selbstverhältnis und die menschliche Sprache. „Ich sehe mich, betaste mich; kurz, ich empfinde mich, weiß aber nicht, was ich bin, und wenn ich früher geglaubt habe, Ton, Geschmack, Farbe, Duft zu sein, so weiß ich gegenwärtig nicht mehr, wofür ich mich halten soll.“82 Dies ändert sich mit ROUSSEAUS Adaption des Pygmalion-Stoffs. In Pygmalion. Scène lyrique von 1762 gelingt die Belebung der Statue allein durch die künstlerische Genialität, wobei die Stimmung des Künstlers zwischen Größenwahn und Melancholie oszilliert. Die entscheidende Erweiterung gegenüber Condillac besteht darin, daß Galathée sich über die Sprache ihrer selbst bewußt wird. „Die zum Leben erweckte Galathée berührt sich und sagt moi, sie berührt sich ein zweites Mal und stellt wieder fest c’est moi. Als sie eine andere, unbeseelte Statue erkennt, gibt sie ce n’est plus moi von sich.“83

Im Pygmalion-Motiv des 18. Jahrhunderts, so läßt sich zusammenfassen, verbinden sich drei Diskursmuster:84 erstens die Theatralität, insofern der Pygmalionstoff als Oper (JEAN PHILIPPE RAMEAU, 1781) und als Melodram (Rousseau) bearbeitet wird; zweitens eine materialistische Naturwissenschaft, insofern über LA METTRIE und JACQUES DE VAUCANSON bis zu Condillac mechanische Animationsphantasien auch in der condition humaine demonstriert werden;85 und schließlich – drittens – ein Griechenphantasma bei WINCKELMANN und seinen Nachfolgern. Somit werden in dieser Zeit „Antikensehnsucht und Maschinenglauben“, Winckelmann und Vaucanson, auf spannungsreiche Weise verknüpft.86 „Mit Herder und durch seine Auseinandersetzung mit Winckelmann erscheint dieses Kulturmuster ‚Pygmalion‘ im 18. Jahrhundert in einem neuen Licht und gleichsam in neuer zivilisatorischer Inszenierung. Es ist bestimmt durch die Fragen nach der Entstehung des Menschen, nach dem Erwachen der sinnlichen Wahrnehmung in ihm und nach der Möglichkeit der Erschaffung des Menschen aus sich und durch sich selbst: durch seine Kunst wie durch seine (Natur)wissenschaft, durch die alternative Zeugungskraft von Kunstwerk oder Maschine.“87

War der antike Pygmalion Mensch, der allein mit Unterstützung der Venus aus einer Statue die lebendige Geliebte schafft, und ist der antike Prometheus ein titanischer Halbgott, der Zeus gleich mehrere Male listig übertölpelt und in der Fassung Ovids die gesamte Menschengattung erschafft,88 so gibt MARY SHELLEY ihrem Frankenstein-Prometheus eine moderne Fassung, in der ein vereinzeltes Monster kreiert wird: Dr. Frankenstein studiert in Ingolstadt die Naturphilosophie des AGRIPPA VON NETTESHEIM, des Paracelsus sowie der zeitgenössischen Romantik und lernt dabei Elektrizität und Galvanismus kennen. Bald jedoch genügt ihm das auf der Universität vermittelte Wissen nicht mehr, und er macht sich daran, das Geheimnis des Lebens selbst zu entschlüsseln. „After days and nights of incredible labour and fatigue, I succeeded in discovering the cause of generation and life; nay, more, I became myself capable of bestowing animation upon lifeless matter.“89 Das Geschöpf Frankensteins – „a gigantic stature“ – zeigt explizit Parallelen zum alttestamentlichen Adam, allerdings mit verheerenden Konsequenzen. „Who shall conceive the horrors of my secret toil as I dabbled among the unhallowed damps of the grave or tortured the living animal to animate the lifeless clay.“90 Zur Katastrophe kommt es durch die Weigerung Frankensteins, seinem anonymen und entindividualisierten Produkt eine Gehilfin zu kreieren. Shelley rückt in ihrem Roman die Bildungsgeschichte eines monströsen Geschöpfes in den Vordergrund, das seine Unschuld mit den damals populären „wilden Kindern“ teilt, das aber aufgrund seiner abscheulichen Gestalt keinen Weg in die Gesellschaft findet. Seine Einsamkeit ist der Preis dafür, daß es bloßes Zerrbild ehemaliger Gottebenbildlichkeit ist. Er ist gleichsam lebendiges Zeugnis menschlicher Hybris. Zum antiken Prometheus besteht der auffälligste Unterschied „im Verhältnis des Schöpfers zu seinem Geschöpf: Während der antike Prometheus sich für seine Menschen verantwortlich fühlt und im Wissen, daß ihrer physischen Bildung die geistige Ausbildung folgen muß, für ihr Wohlergehen unermeßliches Leid billigend in Kauf nimmt, verfolgt der moderne sein Ziel, Leben hervorzubringen, ohne Rücksicht auf die Befindlichkeit seiner Kreatur.“91 Der antike Titan und Halbgott Prometheus zeigt seine moderne Gestalt als Mensch, der sich anschickt, eine gottgleiche Position einzunehmen.

Bildung wird im Verlaufe der weiteren Entwicklung immer mehr zur bloßen Selbstbespiegelung ohne Versagung, wie sie das alttestamentliche Bilderverbot noch in Erinnerung hielt. Dabei rücken Bildung und Identität in eine immer enger werdende Verbindung, in der die narzißtische Begegnung des Selbst mit sich im Mittelpunkt steht. Nur selten flackert noch die Herkunft des Konzepts aus theologischen Kontexten auf, wenngleich der Bildung ein göttlicher Glanz verliehen bleibt, der gelegentlich bis in die Weimarer Zeit gesteigert wird.

Nationalsozialisten wie etwa ALFRED BAEUMLER behielten das Wort „Bildung“ bei, veränderten aber unter dem Einfluß der herrschenden Ideologien den Inhalt. Bildung bezeichnete nun Charakterbildung im Sinne der Reinerhaltung der Rasse. Sie bezog sich weder auf das Individuum und dessen Steigerung zur eigenen Vollkommenheit noch auf einen prinzipiell unbeschränkten Prozeß.92 Die jüdische Herkunft, einschließlich der Pointe des Bilderverbots,93 spielt keine Rolle mehr. Aber auch die liberale Überlieferung vom sich selbst bildenden, autonomen Subjekt wurde als „Entartung“ inkriminiert.94 Eine derartige Pervertierung des traditionsreichen und exklusiven deutschen Bildungsbegriffs wird nur dann verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß spätestens ab dem 18. Jahrhundert der enge Zusammenhang zwischen dem alttestamentlichen Bilderverbot sowie dem neutestamentlichen Angebot einer Imitatio Christi und den entsprechenden pädagogisch-politischen Idealen verblaßt und die Verbindung von „Bilden“ und „Bild“ zerreißt.

5 Bildung und Selbstbehauptung – Vom Ebenbild Gottes, das sich von seinem Schöpfer kein Bild machen darf, wandelt sich das Selbstverständnis der Menschen vor allem unter dem Eindruck wissenschaftlicher und technischer Fortschritte zum Selbstbildner, der sich daran macht, den Stoff des Seins zu erschaffen. Seine Selbstbehauptung geht Hand in Hand mit Selbsterhaltung, welche vor allem in der Perspektive der Evolutionstheorie als Naturnotwendigkeit und nicht etwa als riskante Aufgabe betrachtet wurde. Gilt die Selbstbehauptung als unbezweifelbares menschliches Privileg, dann verliert Askese sowohl in ihrer christlichen als auch in ihrer allgemeinen Bedeutung als Selbstverzicht zunehmend an Bedeutung. Es gilt nicht länger von eigennützigen Begierden abzusehen, um Gottes Willen erscheinen zu lassen. Disziplinartechniken dienen vor allem als Propädeutik bürgerlich angepaßten Verhaltens.

Das Prinzip der Selbsterhaltung führt zudem von Anfang an einen Vorbehalt gegenüber allem Fremden mit sich. Der oder das Fremde bedeuten eine Bedrohung des Selbst. Rousseau hält daher fest, daß wir uns mehr lieben als alles andere und das lieben, was uns erhält.95 Die fremde wird als uneigentliche Lebensweise abgelehnt. Rousseau unterstreicht die Folgen für junge Menschen, bei denen sich die Eigenliebe entwickelt: „le moi relatif se met en jeu sans cesse, et que jamais le jeune homme n’observe les autres sans revenir sur lui-même et se comparer avec eux.“96 Die Eigenliebe, der amour propre, ist eine schädliche Spielart der notwendigen Selbstliebe (l’amour de soi-même). Die Eigenliebe vergleicht ständig, ist nie zufrieden und führt zum Selbstverlust. Von ihr droht die Entfremdung, deren Bekämpfung Hauptaufgabe moderner Bildung war. Der Mensch sollte – wie Kant fordert – „alles aus sich selbst herausbringen“.97 Bildung scheint von da an nur noch Gewinne, keine Verluste zu haben. Weil der moderne Bildungsbegriff als Kampfparole gegen Entfremdung ausgegeben wurde, konnte mit ihm kein inhärenter Mangel mehr formuliert werden. Als Identitätskonzept sperrte er sich allerdings nicht nur gegen den Selbstentzug, sondern verschloß auf subtile Weise auch den Weg zum anderen, der oder das zum Mittel der Selbstfindung verkümmert.

FRIEDRICH NIETZSCHE greift die Geschichte der Selbsterkenntnis kritisch auf, indem er betont, daß wir „für uns […] keine ‚Erkennenden‘“ sind.98 Wir „bleiben uns nothwendig fremd“.99 Die Selbsterkenntnis ist kein Bollwerk letzter Sicherheit. Nicht durch die Selbsterkenntnis erhält unsere Welterkenntnis ihre Gewißheit, sondern als Welterkenntnis bleibt Selbsterkenntnis unbestimmt, ungewiß, riskant. Das Fremde, so führt HELMUTH PLESSNER aus, ist „nicht bloß ein Anderes […] (wie etwa dem aufgeklärten Menschen der Stein nichts Fremdes, sondern ein Anderes als er ist, in der nüchternen und indifferenten Bedeutung der bloßen Verschiedenheit, wohl aber die Fremdheit leise im Pflanzlichen, vernehmlicher im Tierischen Boden gewinnt, um schließlich im Menschlichen auch noch für den aufgeklärten Menschen ihre letzte Domäne zu bekommen – und korrelativ dazu in dem rätselvollsten Anblick des Universums). Denn das Fremde ist das Eigene, Vertraute und Heimliche im Anderen und als das Andere und darum – wir erinnern hier an eine Erkenntnis Freuds – das Unheimliche“.100

In dieser Perspektive begegnen wir dem Fremden in mindestens vierfacher Hinsicht: sowohl in unserer Begegnung mit den anderen als auch mit unserer Welt wie auch in der Rückwendung auf uns selbst und schließlich als Verhältnis zu dem Eigenen im Fremden, also als Verhältnis zu unserer eigenen Verhältnishaftigkeit. Diese Verhältnishaftigkeit ist nicht in Identifizierung zu überführen und damit stillzustellen, weil Menschen durch versagte Erfahrungen bestimmt sind, etwa durch den Entzug ihrer eigenen Geburt und ihres eigenen Todes, aber bereits durch den Rückzug des Gewohnten und des Vertrauten ins Selbstverständliche, das wir in Anspruch nehmen, ohne es zu bemerken. Für uns selbst sind wir als Erkennende stets zu spät. Gerade deshalb müssen wir gebildet werden in einem Prozeß, welcher das Selbst als Effekt hinterläßt, der in eigener Gestaltung übernommen wird. Das Bilderverbot steht in dieser Hinsicht für eine grundsätzliche Versagung, durch welche die menschliche Existenz bestimmt ist. Wir sind uns als leibliche Wesen selbst nur auf Umwegen, niemals unmittelbar gegeben. Wir müssen uns gleichsam Bilder machen, weil uns unsere sinnliche Erfahrung im Hinblick auf uns selbst im Stich läßt. Die Möglichkeiten, welche in den Grenzen unserer Sinne wurzeln, bringt Kant in Erinnerung, und zwar mit Bezug auf das alttestamentliche Bilderverbot.101

Kant erneuert die produktive Spannung von Sichtbarem und Unsichtbarem. Angebahnt auch durch das idealistische Selbstbewußtsein des Geistes, drängen jedoch Selbstbildungs- und Selbsttätigkeitsvorstellungen in den Vordergrund, die nach und nach den Zusammenhang von Bilden und Bild in Vergessenheit geraten lassen.

Aufgrund der wachsenden kritischen Distanz zur Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, welche in eine Sozialwissenschaft umgeschrieben werden sollte, geriet der Bildungsbegriff nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur unter strengen Ideologieverdacht, sondern überhaupt in die Kritik, welche vor allem eine ungenügende empirische Anschlußfähigkeit bemängelte. THEODOR W. ADORNO und HEINZ-JOACHIM HEYDORN vermieden diese Strategie mit dem Versuch, über den Bildungsbegriff herrschaftskritisches Denken neu zu begründen. Bildung entzieht sich in ihren Augen der Verfügung und steht deshalb für die Chance, imperiale Mechanismen aufzuklären und zu bekämpfen. Auf sehr unterschiedliche Weise blicken beide auf die Überlieferungen zurück, um gegenüber einem nahezu hermetischen Herstellungsdenken und -gebaren spätkapitalistischer Gesellschaften eine Lücke für das kritische Bewußtsein zu finden. Sie folgen der Signatur des Bilderverbots, abseits unserer Welt der Bilder. Während Heydorn in bundestheologischer Tradition an der Verheißung festhielt,102 wandelte Adorno den Entzug des Bildes in eine grundsätzliche Versagung um, die für Bildung das „Moment der Unwillkürlichkeit“ jenseits der „Mechanismen der Naturbeherrschung“ betonte.103 Beide setzten einen deutlichen Akzent in der sich konzeptionell wie institutionell ausbreitenden Umdeutung der Pädagogik in eine empirische Sozialwissenschaft.

Teilweise unter dem Einfluß französischer Philosophien keimte in den achtziger Jahren die Aufmerksamkeit für das Unbestimmte erneut auf und fand zunächst in Theorien ästhetischer Bildung einen Ort. KLAUS MOLLENHAUER sieht etwa in der Befassung mit einem Konzept „ästhetischer Emanzipation“ eine Möglichkeit, dem „Projekt der Moderne“ etwas entgegenzusetzen, ohne auf gegenaufklärerische Abwege zu gelangen. Das „ästhetische Ich“, das er dem erkennenden und identischen gegenüberstellt, „ist nicht das Subjekt einer Praxis, sondern ist jeder Praxis kontrastiert, ein flüchtiges Konstrukt, ein fragiles Fragment innerhalb der so gesichert scheinenden Beschreibungen von Bildungs- und Identitätsfindungsverläufen, exterritorial, das Subjekt nur seines eigenen Spürens.“104 Während sich Mollenhauer sowohl durch HEINRICH VON KLEIST und HUGO VON HOFMANNSTHAL als auch durch RICHARD RORTYS Reflexionen zur Moderne und dessen Plädoyer für idiosynkratische Erzählungen anregen läßt, welche die Monologe der subjektiven Zentralfigur zerstreuen, findet in anderen Zusammenhängen besonders JACQUES LACANS bereits 1949 vorgetragene Analyse des Spiegels als „Bildner der Ichfunktion“ Beachtung.105 Hier wird ein psychoanalytisch begründetes Formulierungsangebot unterbreitet, das, auch ohne auf alttestamentliche Traditionen zurückgehen zu müssen, die Versagungen im Bildungsprozeß als Quelle auch produktiver Imaginationen berücksichtigt. Neben Lacan waren es vor allem JACQUES DERRIDA und EMMANUEL LEVINAS, welche jüdische Überlieferungen für ein spätmodernes Denken fruchtbar machten. Durch sie und JEAN-LUC NANCY angeregt, erprobt beispielsweise MICHAEL WIMMER die Bestimmung der Bildung als Gabe. Damit wird eine Aufmerksamkeit für die nicht-epistemischen Dimensionen erreicht und ein unhintergehbarer ethischer Bezug ins Auge gefaßt. Bildung als Gabe erinnert daran, daß jeder Selbstbildungsprozeß Ereignisse voraussetzt, für welche das Subjekt selbst nicht aufkommen kann. Der andere, gegen den sich das moderne Selbst in seiner Identitätssuche abgrenzte, indem es mit jedem Vergleich auch jede andere Verknüpfung vermied, bringt sich als konstitutiv in Erinnerung.106 Die Spuren der „urspünglichen Gabe Gottes“ sind nicht gänzlich verwischt.107

Einem radikal säkularisierten Bilderverbot beugen sich dagegen Ansätze, welche den Lernenden oder das Bildungssubjekt als autopoietische Systeme betrachten, selbst wenn auch hier die grundsätzliche Unverfügbarkeit des Bildungssubjekts ihren Ausdruck findet, und zwar in der Bestimmung als operational geschlossene Maschine. Nichts kann substantiell von außerhalb in Prozesse der Selbstorganisation eingreifen. Weder prometheische Utopien noch Hoffnungen auf einen „Neuen Adam“ schlagen sich in Bildungsvollzügen nieder. „Selbstorganisation, Autopoiesis und Emergenz“ werden beispielsweise von DIETER LENZEN im Blick auf den Bildungsbegriff als „strukturäquivalent hinsichtlich ihrer paradoxalen Konstruktion“ vorausgesetzt. Sowohl selbstbezügliche Systeme als auch das Bilden von Menschen, welches dessen grundsätzliche Unverfügbarkeit achtet, verwirklichen ihre Möglichkeit über ihre eigene Unmöglichkeit. Der kognitive Automat ist zugleich Prozeß und Produkt. Das Bildungssubjekt möchte jemand werden, der es schon ist.108 Was bleibt, ist die Selbstbeobachtung des kognitiven Systems.

Aus soziologischer und systemtheoretischer Perspektive wurde allerdings sogleich auch der gesellschaftliche Nutzen der Unbestimmtheit von Bildung analysiert. Aufgrund ihrer Distanz gegenüber allen konkreten Überprüfungen und anderen Zugriffsweisen sei sie immun gegen jeden Einwand. Die geschichtliche Entwicklung der „Reflexionssemantik des Erziehungssystems und seiner gesellschaftlichen Funktion“ zeige zudem, „daß sich die Semantik der Bildung gerade wegen ihrer Unbestimmtheit […] als überaus funktional erwiesen hat. Sie erlaubt es […], Anforderungen anderer Systeme wie Politik und Wirtschaft nach professioneller Berechenbarkeit und definierbaren Leistungskriterien unter Hinweis auf das Nicht-Operationalisierbare und Nicht-Planbare von ‚Bildung‘ zurückzuweisen und die relative Autonomie des Erziehungssystems damit zu verteidigen.“109

Wenngleich es sehr unterschiedliche Weisen gibt, die Unbestimmtheit von Bildung – auch in den Spuren des Bilderverbots – theoretisch aufzunehmen und in den praktischen Konsequenzen zu bewerten, ist insgesamt kaum noch von einer ungeteilten Wertschätzung des Bildungsbegriffs und seiner Traditionen auszugehen. Unter dem Druck gesellschaftlicher Veränderungen drängen Sprachregelungen in den Vordergrund, welche der europäischen Verständigung zuarbeiten sowie bildungsfernen Mechanismen gehorchen. So ist bevorzugt von „Kompetenzen“, „Schlüsselqualifikationen“ und „Informationsverarbeitungsprozessen“ die Rede. Das Dilemma eines empirisch kaum brauchbaren Bildungsbegriffs ist damit umgangen. Kompetenzen und Qualifikationen lassen sich objektivieren und operationalisieren. Sie ermöglichen, daß Bildung als konvertierbare Währung erscheinen kann.

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts stellte Nietzsche den Bildungsanstalten seiner Zeit eine aus heutiger Sicht erstaunlich aktuelle Diagnose. Er konstatierte sowohl eine „Erweiterung“ als auch eine „Verringerung“ der Bildung selbst. Einerseits werde Bildung für alle gefordert, andererseits reduziere sich das Bildungsverständnis auf den Fachspezialisten. Dabei fällt die Erweiterung „unter die beliebten nationalökonomischen Dogmen der Gegenwart. Möglichst viel Erkenntniß und Bildung – daher möglichst viel Produktion und Bedürfniß – daher möglichst viel Glück: – so lautet etwa die Formel. Hier haben wir den Nutzen als Ziel und Zweck der Bildung, noch genauer den Erwerb, den möglichst großen Geldgewinn. […] Der ‚Bund von Intelligenz und Besitz‘, den man nach diesen Anschauungen behauptet, gilt geradezu als eine sittliche Anforderung. Jede Bildung ist hier verhaßt, die einsam macht, die über Geld und Erwerb hinaus Ziele steckt, die viel Zeit verbraucht: man pflegt wohl solche andere Bildungstendenzen als ‚höheren Egoismus‘ als ‚unsittlichen Bildungsepikureismus‘ abzuthun.“110 Die Obsoleszenz eines gehaltvollen Zusammenhangs von Bilden und Bild, von der wir heute im allgemeinen ausgehen müssen, kündigt sich hier an. Bilden und Bild als Antworten auf konstitutive Versagungen haben keinen Ort in einer Zeit, in der nur zählt, was gerechnet werden kann.

Wörterbuch der philosophischen Metaphern

Подняться наверх