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Fließen
Оглавление„Alles fließt“ (pánta rheí) ist die wohl einprägsamste und berühmteste philosophische Metapher überhaupt: ein Bild für alles, in dem alles, als Fluß, klare Gestalt gewinnt und zugleich ineinander verfließt.
Das Bild schließt in das Fließen auch sich selbst und seine eigene Herkunft ein. Denn das Substantiv „Fluß“ bedeutete im Mittelhochdeutschen noch das bloße Fließen, und erst im Neuhochdeutschen wurde es auch für bestimmte Flüsse wie den Nil, den Mäander, den Rhein oder die Donau gebraucht, ohne daß „Fluß“ darum ein Bestandteil ihrer Namen geworden wäre. Und auch der Satz „Alles fließt“ verfließt in der Geschichte. Er wurde wohl HERAKLIT zugeschrieben, ließ sich aber nie wirklich nachweisen und wurde so erst im 5./6. Jh. n. Chr. vom ARISTOTELES-Kommentator SIMPLICIUS formuliert.1 Dennoch wurde mit dem Bild auf HERAKLIT oder seine „Anhänger“ Bezug genommen,2 und so forderte er immer neu all diejenigen heraus, die die Philosophie in irgendeiner Weise zum Stehen zu bringen versuchten, und hielt so die Philosophie Jahrtausende lang im Fluß.
So einfach das Bild scheint, appelliert es an vielfältige Erfahrungsgehalte und Stimmungen und hat einen ganzen Strom weiterer Metaphern nach sich gezogen.3 Die philosophische Metapher des Fließens stand und steht für (A) Übergänge, Bewegungen, Veränderungen, (B) die Zeit, in der sich Übergänge, Bewegungen, Veränderungen vollziehen, und (C) das Leben, in dem sie erfahren werden. Sie bringt die Erfahrung zum Ausdruck, daß Zeit und Leben ohne festen Halt sind, und Halt ist denn auch, mit einem ähnlich breiten Strom an Folgemetaphern, in vielen europäischen Sprachen und in der europäischen Philosophie zur Gegenmetapher des Flusses geworden.4 Die Metapher des haltlosen Fließens der Zeit und des Lebens wurde noch von einer zweiten, biblischen Quelle gespeist, dem „Ein jegliches hat seine Zeit“ des Kohelet.5 In ihm tritt der heroischen Stimmung des heraklitischen Denkens eine gelassene und heitere Stimmung zur Seite,6 und beide flossen in der griechisch-christlichen Tradition zu einer melancholischen zusammen. Das Fließen konnte aber auch mit Glück verbunden werden, insbesondere in der Metapher (D) des Überfließens und des Überflusses. Ein Fluß oder Strom, der über die Ufer tritt und das Land überschwemmt, kann es verwüsten, kann es aber auch, wofür besonders der Nil stand, befruchten und zum Leben erwecken. Ein Überfluß, den jemand hat, sei es an Reichtümern, sei es an Begabungen, kann zur Gabe werden, die gerne abgegeben wird und so auch ethisch beglücken kann. (E) Überflüssig ist jedoch auch, was oder wer von niemandem gebraucht und gewünscht wird. Und sofern dies in der Philosophie auch von den Metaphern selbst galt und gilt, sofern sie möglichst durch streng definierte Begriffe ersetzt werden sollten, schienen gerade sie überflüssig – bis man, seit VICO und zuletzt vor allem durch HANS BLUMENBERG, darauf aufmerksam wurde, daß Metaphern als überfließende Quellen von Bedeutungen auch für das philosophische und wissenschaftliche Denken unentbehrlich sind, weil aus ihnen immer neu geschöpft werden kann. Als überfließende Quelle ist die Metapher des Fließens so zuletzt eine Metapher für die Metapher selbst.7
1 Das Wortfeld des Fließens als Metaphernquelle – Fließen können nicht nur Bäche und Flüsse, sondern auch Strömungen in Meeren. Von den alten Griechen wurde auch der Ozean noch als Fluß gedacht, als Strom, der die Erde umfließt,8 in dem alle Flüsse über unterirdische Verbindungen ihren Ursprung hatten und dessen Wasser darum frisch und süß war.9 Als Rand der Welt war dieser Ozean aber zugleich der Ort alles Fremden, Sagenhaften und Gewaltigen. Alles war aus ihm entstanden, auch die Götter waren aus ihm geboren,10 und die Sonne und die Sterne stiegen aus ihm auf und gingen in ihn unter und badeten in ihm. Die Erde schwamm auf dem Ozean, und auch in alten germanischen Zeugnissen war „fließen“ noch gleichbedeutend mit „schwimmen“. „Fließen“ im Sinn von „Flüssig-Sein“ blieb im Deutschen in „Flußspat“ erhalten, der Metalle leichter „in Fluß bringen“ konnte, und Rheuma oder Katarrh zu haben, hieß lange noch „den Fluß“ in den Gliedern oder in der Nase zu haben. Daß Stoffe „flüssig“ werden können, war für die europäische Philosophie besonders bedeutsam. Sie ging in ihren Anfängen zunächst von einer „Flüssigkeit“ wie dem Wasser aus, dann aber auch von noch leichter beweglichen Stoffen wie der Luft und dem Feuer. „Flüssig“ konnte und kann aber auch das Sprechen sein, und selbst die logische Folgerung konnte „fließen“: noch KANT und HEGEL gebrauchten „fließen aus“ regelmäßig im Sinn von „folgen (von Folgerungen) aus (einer Voraussetzung)“,11 man kann noch immer jemanden mit (mehr oder weniger) guten Gründen „beeinflussen“, die Übergänge zwischen Begriffen können „fließend“ sein, und dabei kann sich der Sinn überhaupt als „flüssig“ erweisen.
Im weiten Feld des Fließens ließ sich die Metapher vielfältig differenzieren oder, wenn man so will, metaphorisieren, jeweils mit einem reichen Ausfluß an Folgemetaphern: (a) nach dem Stoff, der fließt, (b) nach der Masse, die fließt, (c) nach dem Verlauf und den Gestalten des Fließens, (d) nach der Fassung des Fließens, (e) nach den Gefahren und Vorteilen des Fließens und (f) nach der Beobachtbarkeit des Fließens. – (a) Beim Stoff, der fließt, drängt sich zuerst das Wasser auf, das bei THALES von Milet zum ersten Grundwort der europäischen Philosophie wurde. Fließen können aber auch Lava, Pech und Metallschmelzen, die im Abkühlen erstarren und feste Formen annehmen. Dazu ist jedoch auch wieder Wasser imstande, sofern es gefrieren und Eisflächen und im Eismeer wiederum schwimmende Eisschollen und Eisberge bilden kann. Wie Wellen dahintreiben können aber auch Sandbänke im Meer und Dünen in der Sandwüste, und selbst die Erdoberfläche konnte nicht nur für die Antike schwimmen, sondern tut das nach ALFRED WEGENERS gut bestätigter Hypothese noch immer in Gestalt ihrer Kontinentalplatten. – (b) Stoffe, die fließen, sind der Schwerkraft unterworfen, fließen stets abwärts, breiten sich in Senkungen aus, die sie vorfinden, ohne je zurückzukehren. Und auch wenn sie ins Meer münden, endet das Fließen nicht, sondern kann dort zum Strömen werden, zu tückischen Strömungen, durch die Schwimmer, Flöße, Boote und Schiffe abgetrieben werden können, aber auch zu regelmäßigen Strömungen, die man nutzen und von denen man sich zu seinem Ziel tragen lassen kann. Fließen sie im Überfluß, werden sie zur bedrohlichen Flut. „Flut“ hat mit „Fluß“ eine gemeinsame indogermanische Wurzel *ple[u]. Man kann gezielt etwas „fluten“, und Wasser kann alles „überfluten“, und diese Flut steigert noch einmal ihre Bedrohlichkeit, wenn sie zur Sturm-, Spring- oder zur Sintflut wird. „Sintflut“ bedeutete bis ins Mittelhochdeutsche hinein „umfassende, immerwährende, gewaltige Flut“ und wurde erst danach zu „Sündflut“ umgedeutet. – (c) Quellen, Bäche, Flüsse können zur Ruhe kommen, in stehenden Gewässern faulen, Schlämme bilden und sich in Sümpfen und Mooren ausbreiten. Durchfließen und durchströmen sie die Seen und Meere, halten sie sie rein und lebendig. Fließen sie rasch über Unebenheiten hinweg oder greift der Wind in sie, können sie selbst Gestalten bilden, Wellen und Wirbel und Strudel. Sie können nicht nur bei Kälte zu Eis erstarren, das dann im Tauwind sich wieder verflüssigen, schmelzen kann, sondern in der Wärme auch als Dunst aufsteigen, unter Hitze sich als Dampf verflüchtigen und am Himmel einen unübersehbaren Gestaltenreichtum von ihrerseits flüchtigen Wolken bilden. Siedet das Wasser, kann es Blasen bilden, die rasch wieder zerplatzen. Flüssigkeiten können auch in die Höhe gepumpt werden, in Eimern aus Brunnen und durch Mühlräder aus Bächen; in Körpern von Tieren und Menschen ist es das Herz, das Blut im Kreislauf fließen läßt. Nicht nur das Herz, auch der Blutkreislauf, von dessen Entdeckung WILLIAM HARVEY 1628 berichtete,12 wurden zu sprudelnden Metaphernquellen im europäischen Denken. (d) Flüssigkeiten können sich in verschiedenen Richtungen über eine Fläche ergießen oder von einem Bett oder einem Kanal gehalten werden. Ungefaßt können sie nicht nur strömen, sondern auch verfließen und versickern. Eingefaßt fließen sie zwischen festen Ufern, die sie vorfinden und in die sie hineinfließen, die sie sich aber auch selbst schaffen können, indem sie sich eingraben oder Dämme aufschwemmen. Ein Damm kann, als Kanal, auch von Menschen errichtet werden, um Überflutungen zu verhindern. Er hat als Metapher besonders Moralphilosophen geleitet und hat die Folgemetapher des Dammbruchs nach sich gezogen, dem durch Schließung der Dämme begegnet werden müsse. – (e) Von Strömungen kann man weggetrieben, weggeschwemmt oder fortgerissen werden, in Fluten kann man untergehen. Dabei schwimmt oben, was leichter als Wasser ist (wir bleiben im folgenden beim Wasser), und das Schwere (metaphorisch auch im Denken) sinkt zu Boden und kann sich dort ablagern und verfestigen und dabei (mehr oder weniger) unbeachtet bleiben. Durch gezielte Vorkehrungen wie Schwimmen oder Festhalten an Schwimmfähigem kann man sich vom Wasser aber eben auch tragen und von seinen Strömungen treiben oder, wenn man sich mit ihnen auskennt, in bestimmte Richtungen forttragen lassen; man kann jedoch nur schwer gegen den Strom schwimmen. Gewässer können Halt geben, der ebenso sicher sein kann wie fester Boden, sofern dieser auch von Erdbeben erschüttert werden kann. Tragen kann das Wasser vor allem Schiffe, woran sich mit Schiffbau, Schiffahrt und Schiffbruch wieder eine reiche Folgemetaphorik in der europäischen Philosophie angeschlossen hat.13 Ein Vor- oder Nachteil von Flüssen kann auch darin liegen, daß sie natürliche Grenzen bilden, die nur unter Gefahren durchwatet oder (mehr oder weniger leicht) mit Booten und Schiffen überquert werden können – oder aber durch Brücken, und auch aus dem Brückenbauen und -überqueren sind wieder vielfältige philosophische Metaphern geflossen. – (f) Nur von Ufern und Brücken, also von einem Standpunkt außerhalb des Flusses aus kann dessen Fließen festgestellt werden.14 Wenn man sagt, „alles fließt“ und dabei einräumt, daß sich laufend auch die Standpunkte der Feststellung des Fließens ändern, so muß man, wenn man das Fließen als Fließen, den Fluß als Fluß und die Zeit als Zeit beobachten will, sie doch von einem relativ festen Standpunkt aus beobachten, etwa auf dem Fluß von einem Schiff aus, das sich in anderer Geschwindigkeit oder Richtung als der Fluß bewegt. Damit wird deutlich, daß auch der „Standpunkt“ eine Metapher ist, die Metapher eines virtuellen „Punktes“, auf dem man „stehen“ und an dem die Beobachtung zumindest für die Zeit der Beobachtung „stehen“ bleiben soll.15 Aber auch von einem solchen Standpunkt aus kann man wiederum nicht das Fließen selbst, sondern nur Fließendes beobachten, soweit sein Fluß eine über eine bestimmte Zeit hinweg identifizierbare Gestalt hat. Dazu benötigt man „Anhaltspunkte“, an denen das Auge das Fließen auf Zeit „anhält“, um sich „an“ sie zur Feststellung des Fließens zu „halten“.16 Anhaltspunkte verhelfen dazu, etwas durch Begriffe festzuhalten und festzustellen, und auch das „Begreifen“ durch „Begriffe“ ist wieder eine (fast) verblaßte Metapher. An sie konnte dann wieder die Metapher der Reinheit anschließen und sich mit ihr zur Metapher des reinen Begriffs verbinden. Die Reinheit von Begriffen aber ist ein Ergebnis ihrer Reinigung, der Reinigung von Empirischem, Stofflichem, Erdverbundenem, das dann als Schmutz erscheint, und so speist sich auch die Metaphorik des reinen, allem Fließen entzogenen Begriffs zuletzt aus der Metaphorik des fließenden Wassers, das sich in seinem Fluß selbst und dadurch auch anderes reinigen kann.
Das metaphorische Fließen im Sinn des unablässigen Anders-Werdens, der immer neuen Veränderung ist das, womit es das Denken überhaupt zu tun hat, zu dessen Feststellung das Denken seinerseits gedacht ist. Das philosophische Problem besteht dann darin, wie sich der Fluß und, soweit er Metapher für die Zeit und das Leben überhaupt ist, als solcher fassen läßt. Das Denken, das im Fluß des Immer-anders-Werdens Halt gewinnen will, muß sich dabei zugleich auf den Fluß einlassen und sich ihm entziehen können. Das ist offenbar nur als Paradox denkbar – wie der Fluß selbst, der ebenso bleibt wie verfließt oder immer derselbe und zugleich nie derselbe ist. So stellt der Fluß, als Gegenstand und Metapher des Denkens, in „reinster Form“ das Problem der Identifikation oder der Identität. Er ist nicht identifizierbar, sofern er eine Bewegung darstellt, bei der das Bewegliche selbst in sich beweglich ist und damit von sich aus keinerlei Halt bietet, und identifizierbar nur, sofern er haltbare Gestalten bildet, die dann aber nicht „fließen“. So wird das Problem des Denkens des Fließens erst in komplexerer Gestalt lösbar, sofern nämlich identifizierbare Gestalten ihrerseits „fließen“, sich in „fließenden Übergängen“ verändern und so fließende Einheiten von Flüssen bilden.17 So konnte auch in der europäischen Philosophie gegen alle Versuche, das Fließen zum Stehen zu bringen, der Fluß der Dinge, der Zeit und des Lebens am Fließen gehalten werden.
2 Historischer Fluß der Metapher: Antike18 – Die ionischen Philosophen sprachen sich in Semantiken und Metaphoriken des Fließens und des Flüssigen, vor allem des Wassers aus.19 Milet, die kleinasiatische Stadt, von der die Philosophie ausging, verdankte ihre Existenz und ihren Wohlstand der Lage an der Mündung des Mäander, der mit der immer neuen Verlagerung seines Flußbetts selbst zur Metapher wurde, und der Nähe zum offenen Meer, und auch die milesischen Denker philosophierten aus dieser Nähe heraus. Für THALES von Milet waren im Wasser, aus dem er alles hervorgehen sah, Begriff und Metapher noch nicht geschieden. Wasser galt ihm nicht als Stoff unter anderen Stoffen, sondern als Quelle aller Stoffe und Gestalten, und das Hauptcharakteristikum des Wassers war für ihn, in wechselnde Aggregatzustände übergehen zu können, oder seine Übergängigkeit. Von seinem Nachfolger und Schüler ANAXIMANDER wurde dann die Übergängigkeit als solche im ápeiron herausgestellt, dem „Unbegrenzten“, Gestaltlosen, das in alle Gestalten übergehen kann. HERAKLIT beließ es bei den fließenden Übergängen unter den Elementen und dachte sie ihrerseits nun als Fluß, der durch Ufer begrenzt ist und an ihnen Halt hat. Die Metapher des von Ufern abgegrenzten Flusses geht von der Erfahrung aus, daß man in einen Fluß hinein- und wieder aus ihm heraussteigen und ihn an sich vorbeifließen lassen kann, daß man sich also von ihm unterscheiden und ihn dadurch erst als solchen unterscheiden und von ihm sprechen kann. Die paradoxen Formulierungen der Metapher, für die Heraklit berühmt wurde: „Denen, die in dieselben Flüsse hineinsteigen, strömen andere und immer wieder andere Gewässer zu“, „In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind und wir sind nicht“, „Es ist unmöglich, zwei Mal in denselben Fluß zu steigen. [Der Fluß] zerstreut und […] bringt zusammen […], sammelt sich und fließt fort […], nähert sich und entfernt sich“,20 beziehen dennoch auch den Unterscheidenden und Sprechenden wieder in den metaphorischen Fluß ein. Heraklit dachte auf diese Weise auch das Unterscheiden des Flusses und das Sprechen von ihm oder den lógos selbst so, daß er im Fluß blieb. Vom Fluß ist philosophisch konsequent nur im Fluß zu sprechen. Durch die Metapher des Flusses, der eben dadurch derselbe bleibt, daß immer anderes Wasser fließt, macht Heraklit plausibel, daß dasselbe immer auch ein anderes ist oder anders unterschieden werden kann, und vielleicht läßt sich dies auch nur so, durch die Metapher des Flusses, begreifen.
Die Fluß-Paradoxie forderte ebenso PLATON wie ARISTOTELES heraus, die Heraklits Denken immer wieder diskutierten. Platon läßt in seinem Dialog Kratylos seinen SOKRATES die Position Heraklits zugleich mit der Gegenposition spielerisch ad absurdum führen. In einer halbernsten Spekulation über den Ursprung der Sprache in der Natur läßt er ihn das „r“ (tò rhô) als „Organ jeder Bewegung“ namhaft machen und dies damit begründen, daß schon in Fließen (rheîn) und Flut (rhoê) der Buchstabe „r“ die Bewegung abbilde.21 Tatsächlich aber könnten Herakliteer von ihrem Fließen gar nichts sagen, weil sie es in Aussagen ja selbstwidersprüchlich festhalten würden – wenn alles im Wandel begriffen sei und nichts bleibe, sei gar keine Erkenntnis (gnósis) möglich.22 Wer davon ausgehe, daß alles immer im Gehen und Fließen sei, falle gleichsam in einen Strudel hinein, verlöre die Besinnung und zöge andere mit sich.23 Für das, was Herakliteer sagen wollten, müsse man darum erst eine andere Sprache einführen.24 Gleichwohl gebraucht auch Platon gerne die Metapher des Fließens, etwa vom Fluß der Rede.25 Und im Timaios heißt es dann, der Gott habe dem Menschen wohl den Mund geschaffen, damit er durch ihn seine Nahrung aufnehmen könne, „der Fluß der Rede aber, welcher vom Munde ausgeht und dem Gedanken dient, ist der schönste und beste von allen Flüssen.“26 Den jungen, zwar nicht schönen und darin Sokrates ähnlichen, doch für seine rasche Auffassungsgabe und seine Ausgeglichenheit gerühmten Theaitetos, der leicht, sicher und ganz ruhig an wissenschaftliche Kenntnisse und Untersuchungen herangehe, läßt Platon im gleichnamigen Dialog mit dem Fließen von Öl vergleichen, das geräuschlos fließe.27 Dennoch entzieht Platon das Philosophieren so weit wie möglich dem heraklitischen Fließen und setzt, insbesondere im Höhlengleichnis,28 auf die Gegenmetaphorik des schrittweisen Steigens auf festem Boden hinauf zum Anblick der Idee des Guten, was FRIEDRICH SCHLEIERMACHER so kommentiert: Durch „die lebendige Einwirkung der Idee des Guten“ kann „der ewig unruhige Fluß des Nichtseienden […] festgehalten“ und, „wenngleich auch noch an dem Unsteten und Unruhigen teilnehmend, doch auf das wahre Sein bezogen werden“.29 Denken ist der lógos, „den die Seele mit sich selbst durchschreitet (diexérchetai) über das, was sie gerade untersuchen will.“30 Im Mitsich-selbst-etwas-Durchgehen auf einem Weg, den es sich selbst vorgibt, das heißt nach einer Methode, soll das Denken in einen, wie es noch bei Kant heißen wird, „sicheren Gang“31 kommen. Doch wie sehr auch Platon das Fließen aus dem philosophischen Diskurs zu drängen sucht, er setzt es für ihn immer noch voraus – als „Strömung“ (rheúma) der Liebe zur Wahrheit. Denn die Sehnsüchte der wahrhaft philosophischen Seele „fließen (errhyékasin) zu den Kenntnissen (mathémata) und allem derartigen hin“.32 So bleibt der Anfang auch bei Platon der Fluß, der nun jedoch in das Bett eines vom Denken selbst vorgegebenen Weges geleitet wird.33
Auch Aristoteles denkt das Sein vom Fluß aus, um ihm Halt zu geben, und begreift es als Zum-Stehen-Kommen im Denken. Er unterscheidet nun ausdrücklich die Metapher vom Begriff34 und besteht in der Philosophie auf definierten Begriffen. Metaphern könnten einen Text erhaben, aber eben auch fremdartig machen: wenn man dauernd Metaphern verwende, werde der Text unverständlich35 oder lächerlich. Erst wenn man Metaphern durch das wirklich Passende ersetze, sehe man, ob die Wahrheit gesagt werde.36 Das Metaphorische (tò metaphorikón) auf geeignete Weise zu gebrauchen, könne freilich für die Wissenschaft auch nützlich sein: gut übertragen zu können (eú metaphereín) heiße Ähnlichkeit sehen zu können (tò hómoion theoreín).37 Metaphern könnten so die Begriffsbildung anbahnen und das Lernen erleichtern:38 Eine gute Metapher „stelle“ das, worum es gehe, „vor Augen“, lasse es „sehen“ und nicht nur als Mögliches denken.39 Aristoteles hat solche guten Metaphern gefunden, die rasch plausibel wurden und bis heute so plausibel geblieben sind, daß es noch immer schwer ist, sich aus ihrer Spur zu lösen. Er hat sie selbst nicht als Metaphern kenntlich gemacht, wohl auch nicht so gesehen, sondern als Begriffe behandelt. So sind sie, in Blumenbergs Sinn, absolute Metaphern. Es sind nun, gegen die Metaphern des Fließens und Strömens, Metaphern des Halts an einem Ort, des Zum-Stehen-Kommens in der Bewegung und des Zugrundeliegens in Veränderungen. Sie bilden Platons Metaphorik des Gehens auf festem Grund zu einer Metaphorik des Stehens auf festem Grund fort, die bis zur Gegenwart fortwirkt.40
Dies beginnt mit Aristoteles’ Verortung des diskursiven Denkens in tópoi der Topik. Tópos ist eine Metapher: im alltäglichen Sprachgebrauch bedeutete tópos „Land“, „Landschaft“, „Gegend“, „Raum“ und dann auch einen bestimmten „Ort“ in einem solchen Land oder Raum. Aristoteles stellt das Problem des Halts im Fließen als Frage nach dem Sein im Werden und konzipiert dieses Sein als Anhalten des Werdens im doppelten Sinn, als anhaltendes Werden zum Beispiel einer andauernden Kreisbewegung oder einer stehenden Welle, das sich seinerseits nicht verändert und insofern das Werden anhält. Ein solches Zum-Stehen-gekommen- (sténai) oder Zur-Ruhe-gekommen-Sein (eremésai)41 in der Bewegung ist, so Aristoteles, notwendig (anánke sténai), damit man sagen kann, daß etwas ist; anderenfalls ginge es ebenso mit der Bewegung wie mit deren Bestimmung heraklitisch „ins Unbegrenzte“ (eis ápeiron).42 Bewegungen kommen in der Bewegung nach Aristoteles aber durch das Denken zum Stehen. Das Denken gehört für ihn seinerseits der Natur und ihrer Bewegung zu. Wer einen Namen, der etwas anzeigt, ausspreche, bringe sein Denken zum Stehen, und der, der den Satz höre, komme zur Ruhe.43 Auch die spezifische Voraussetzung der Logik, den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch, führt Aristoteles in Auseinandersetzung mit dem Heraklitismus des KRATYLOS ein.44 Es sei das „festeste Prinzip von allen“ und ist es genau dann, wenn vom Werden abgesehen wird. Wenn es „unmöglich ist, daß dasselbe demselben in derselben Hinsicht zugleich zukommen und nicht zukommen kann“,45 so ist dies doch zu verschiedenen Zeiten ohne weiteres möglich, und wie dies dann zu denken ist, ist Thema der Substanz-Bücher der Metaphysik (VII–IX). So ist das, was man seither Logik nennt, unter Absehung vom Fluß des Werdens gedacht. Aristoteles konzipiert hier „ein Zugrundeliegendes für Wechsel“.46 Im Wechsel muß ein Bleibendes (im Fluß ein Halt) vorausgesetzt werden, damit relativ zu ihm der Wechsel festgestellt werden kann. Verstärkt wird der Halt im Fluß noch dadurch, daß er das Zeit-Verhältnis als Grund-Verhältnis, das im Wechsel Bleibende als Grund des Wechsels an ihm oder das bloße Anders-Werden als ein Sich-Verändern von etwas und damit als Selbständiges denkt. Aber auch hier kehrt der Fluß zurück. Die Bestimmung der ousía – des Begriffs, mit dem Aristoteles die Bedingungen der Selbständigkeit im Sein wie mit einer Sonde schrittweise erschloß und dessen alltägliche Bedeutung wiederum „Bestand“, „Anwesen“, „eigenes Land“ war – ist in seiner Ersten Philosophie nicht zum Stehen gekommen, sondern blieb in Bewegung, im Fluß.47
In christlicher Zeit lebte die Metapher des Fließens und Strömens neu auf. Im Johannes-Evangelium heißt es: „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke! Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen.“48 Das Wasser des Glaubens wird im Fluß durch die Gläubigen lebenspendend weitergegeben. MARC AUREL nannte das Sein des menschlichen Lebens schlechthin fließend (ousía rhéousa), die Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen schwach, seinen Körper der Fäulnis ausgesetzt, seine Seele haltlos, sein Schicksal unberechenbar, sein Reden verworren: „Kurz: Alles Körperliche – ein Fluß (pótamos), alles Seelische – Schall und Rauch, das Leben – Krieg und kurzer Aufenthalt eines Fremden, der Nachruhm – Vergessen“, und nur Philosophie könne hier zur Gelassenheit verhelfen.49 Bei AUGUSTINUS kommt dann beides zusammen. Wohl werde vor dem Auge Gottes im Innern des Menschen und in seiner Welt alles schwankend, brüchig und haltlos. Aber eben darum „will ich in Dich zusammenfließen, gereinigt und flüssig im Feuer Deiner Liebe (in te confluam purgatus et liquidus igne amoris tui).“50
3 Bacon bis zum Deutschen Idealismus – FRANCIS BACON sieht in den Werken von Platon und Aristoteles das Denken der vorsokratischen Philosophen zu Unrecht vernachlässigt: „Denn die Zeit führt gleich einem Fluß das Leichtere und Aufgeblähte uns zu, während sie das Gewichtigere und Festere untergehen läßt“.51 In der Moderne werden Fluß und Halt vom Sein ins Bewußtsein transponiert. Was nun fließt, ist nicht mehr Wasser oder ein anderer Stoff, sondern noch weit beweglichere und haltlosere Vorstellungen (ideae, ideas). Nach DESCARTES findet das Bewußtsein einen neuen Halt in seiner Selbstbezüglichkeit. Als Bewußtsein seiner selbst, also ständiger Beobachter seiner selbst, kann es sich dem heraklitischen Fluß seiner Vorstellungen entziehen und sich darum um so leichter auf ihn einlassen; es kann gleichsam zugleich im Fluß seiner Vorstellungen treiben und an dessen Ufer stehen bleiben. Dennoch wird der Fluß als bedrohlich empfunden, so bedrohlich, daß er beherrscht, in Kanäle geleitet werden muß, die das Denken von sich aus anlegt. Descartes sieht sich mit seinem Plan, in reifem Alter einmal im Leben alles von Grund auf umzustürzen, um endlich etwas Sicheres und Bleibendes in den Wissenschaften zu festigen, nach der Prüfung all seiner Meinungen auf ihre Bezweifelbarkeit hin, die keine von ihnen besteht, „unversehens in einen tiefen Strudel hinabgeglitten (in profundum gurgitem ex improviso delapsus)“ und so verwirrt, daß er „weder unten Grund finden noch nach oben schwimmen (nec in imo pedem figere nec enatare ad summum)“ kann. Mit aller Anstrengung sich aus dem Strudel herausarbeitend will er darum versuchen, den archimedischen Punkt zu finden, an den er sich in allem halten kann52 und den er dann im Cogito findet, in der Unbezweifelbarkeit seines Zweifelns selbst oder im Sein seines Denkens, das nun das Sein des Bewußtseins war und über Jahrhunderte tragen sollte.
In der modernen mathematischen Naturwissenschaft, die an DESCARTES’ Neubegründung der Methode anschließen konnte, war nun auch die Zeit, das notorische Fließende, Gestalt- und Haltlose, leicht zu fassen. Nach NEWTON „fließt (fluit)“ wohl die Zeit, jedoch „in sich und ihrer Natur nach gleichförmig (aequabiliter) und ohne Beziehung auf etwas Äußeres“. Als solche soll sie nun die „absolute, wahre und mathematische Zeit“ sein, die in Bewegungsgesetzen als universaler Parameter fungieren kann, und gegen sie wird die nicht als gleichförmig fließend erlebte „landläufig so genannte“ Zeit zu einer nur „relativen“ und „scheinbaren“ herabgesetzt.53 Auch der Fluß der Zeit war so gleichsam kanalisiert, und was sich dem nicht fügte, blieb dem Versickern überlassen.
KANT weiß um die Schwierigkeit einer solchen Spaltung der Zeit. Mit NEWTON hält er daran fest, daß die Zeit „beständig fließt“,54 und ist sich dabei bewußt, angesichts ihrer Ungreifbarkeit und Unbegreiflichkeit auf eine Metapher angewiesen zu sein. Bemüht, Metaphern (und selbst den Begriff der Metapher55) möglichst zu vermeiden, ist er sich dennoch im klaren darüber, daß „unsren Begriffen“, mögen wir sie „noch so hoch anlegen, und dabei noch so sehr von der Sinnlichkeit abstrahiren“, „doch noch immer bildliche Vorstellungen anhängen, deren eigentliche Bestimmung es ist, sie [die Begriffe], die sonst nicht von der Erfahrung abgeleitet sind, zum Erfahrungsgebrauche tauglich zu machen“. Die Philosophie ist nach Kant, anders als die Mathematik, auf „gegebene“ Begriffe angewiesen, aus denen sie selbst die „reinen“ Verstandesbegriffe und „Regeln des Denkens“ „herausziehen“ müsse. Er will es darum zur „heuristischen Methode“ machen, „behutsam“ herauszuziehen, was „in dem Erfahrungsgebrauche unseres Verstandes und der Vernunft vielleicht noch verborgen“ ist, das heißt: den Bildern nachgehen, die „verborgen“ den Gebrauch von Begriffen leiten, um sie dann bewußt „selbst im abstrakten Denken“ zu gebrauchen.56 Im Ausgang vom Bewußtsein der Zeit ist es jedoch nicht mehr eine Zeit an sich, die fließt, sondern die Erzeugung des Fließens der Zeit durch die Einbildungskraft: „Größen“ wie Raum und Zeit, so Kant, „kann man auch fließende nennen, weil die Synthesis (der productiven Einbildungskraft) in ihrer Erzeugung ein Fortgang in der Zeit ist, deren Continuität man besonders durch den Ausdruck des Fließens (Verfließens) zu bezeichnen pflegt.“57 Im neuen Halt an der Selbstbezüglichkeit des Bewußtseins ist die Zeit als Selbstbezüglichkeit des Fließens in der Einbildungskraft zu denken. Dieses Fließen ermöglicht nach Kant auf dem Weg über die Produktion von „Schemata“ der Zeit die Erkenntnis von Gegenständen. Die Weise dieser Produktion aber bleibt dann „eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele“.58 Die Paradoxien, die sich daraus ergeben, hat Kant in seinen nachgelassenen Notizen bedacht: „Von der Zeit haben wir die laufende (gegenwartige), die verlaufene, verflossene (vergangene) und die kommende (künftige) Zeit. Hier fließt die Zeit, die Dinge sind stehend. Aber: ein Ding dauert, es hat verlebt etc etc., setzt die Zeit als ruhig voraus. Ewigkeit. Das Daseyn entweder überhaupt oder eines Dinges. Ein Ding legt viel Zeit zurück und hat viel vor sich. Es kann sein Daseyn in der Zeit nicht bevestigen, es geht im Fluge durch sie, oder die Zeit flieht.“59
Kant hatte sich schon früh in seinen kosmogonischen Schriften zur physischen Geographie ausführlich nicht nur mit dem Fluß der Zeit, sondern auch der Dinge in ihr auseinandergesetzt und dabei die Probleme der ionischen Philosophie unter den Bedingungen der newtonschen Naturwissenschaft neu durchdacht. Danach stand auch für ihn fest, daß die Erde, „als sie sich aus dem Chaos erhob, […] unfehlbar vorher in flüssigem Zustande“ war und „aus dem flüssigen Zustande in den festen über[ging]“.60 Nach den newtonschen Gesetzen können, so Kant, ganze Welten „verfließen“.61 Wie leicht scheinbar festes Land in Fluß geraten kann, hat Kant, wie die Ionier am Mäander, konkret an der Ostsee erfahren: „in der Ostsee, da kann der Wind das Wasser bis auf den Grund bewegen“,62 verschiebt sich laufend die Küste, bilden sich Sandbänke und Nehrungen. Aber ein solches Meer kann sich auch selbst befestigen: „Das Meer erhöhte selber die Ufer des festen Landes mit dem Niedersatz der hinaufgetragenen Materien, durch deren Wegführung es sein eigenes Bette vertiefte; es warf Dünen und Dämme auf, die den Überschwemmungen vorbeugten.“63 Das gilt auch für die Ströme, die dem Meer Wasser zuführen: Sie „waren noch nicht in gehörige Fluthbette eingeschlossen, sie überschwemmten noch die Ebenen, bis sie sich selber endlich in abgemessene Canäle beschränkten und einen einförmigen Abhang von ihrem Ursprunge an bis zu dem Meere zubereiteten.“64
Die nichtmetaphorische Rede von den fließenden Grenzen von Flüssen und Meeren, die unter günstigen Umständen in festen Ufern und Dämmen zum Stehen kommen können, geht in der Kritik der reinen Vernunft in eine metaphorische über. Kant sucht dort, wie zuvor Aristoteles, die sich in unsicheren Grenzen zwischen Wahrheit und trügerischem Schein bewegende Vernunft zu verorten, so daß sie endlich „den sicheren Gang einer Wissenschaft“ einschlagen kann.65 Beim Übergang von der transzendentalen Analytik, in der Kant die Reichweite der Vernunft in der Erkenntnis sicher eingegrenzt zu haben glaubt, zur transzendentalen Dialektik, die scheinbare Vernunfterkenntnisse vortäuscht, gestattet er sich, um die transzendentale Erkenntnis der Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung plausibel zu machen, eines der seltenen Bilder in der Kritik der reinen Vernunft:66 „Wir haben jetzt das Land des reinen Verstandes nicht allein durchreiset und jeden Theil davon sorgfältig in Augenschein genommen, sondern es auch durchmessen und jedem Dinge auf demselben seine Stelle bestimmt. Dieses Land aber ist eine Insel und durch die Natur selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossen. Es ist das Land der Wahrheit (ein reizender Name), umgeben von einem weiten und stürmischen Oceane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt und, indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann.“67 Kant geht von der platonisch-aristotelischen Metaphorik des Durchgehens, Durchmessens und Verortens aus, dann jedoch zur Metapher der Insel im stürmischen Ozean über. Der Ozean umgibt nicht mehr nur die Welt, sondern macht die Welt selbst aus, in der die menschliche Vernunft nur noch eine Insel hinreichender Erkenntnis bewohnt, und eben ihr eingeschränktes Insel-Dasein verlockt sie zu immer neuen Abenteuern, auf den Ozean hinauszufahren und weiteres, illusionäres Land zu suchen. Dennoch ist die Fahrt hinaus aufs Meer notwendig. Denn nur so kann man der Grenzen der Insel ansichtig werden. Man soll sie jedoch „nur so weit, als die stetig fortlaufende Küsten der Erfahrung reichen, fortsetzen, die wir nicht verlassen können, ohne uns auf einen uferlosen Ocean zu wagen“.68 Daß es sich dabei nicht nur um eine metaphorische Illustration handelt, zeigt eine Reflexion, in der Kant auch für sich selbst die Metapher gebraucht: „Wenn wir die Natur als das continent unserer Erkenntnisse ansehen und unsre Vernunft in der Bestimmung der Grenzen derselben besteht, so können wir diese nicht anders erkennen, als so fern wir das, was die Grenzen Macht, den Ocean, der sie begrentzt, mit dazu nehmen, den wir aber nur nach dem Ufer erkennen.“69 Der Ozean der Metaphysik selbst, der „unsichere Boden reiner und selbst transscendentaler Begriffe“, ist ein Grund, der „ihnen weder zu stehen, noch zu schwimmen erlaubt, und [wo] sich nur flüchtige Schritte thun lassen, von denen die Zeit nicht die mindeste Spur aufbehält“.70 Kant zitiert dazu einen Dichter, OVID: „instabilis tellus, innabilis unda“ (unbeständige Erde, unschiffbare Woge).71 Man kann und muß das Meer befahren – soweit es eben schiffbar ist und zu aussichtsreichen Ufern führt, und wenn es auch nur die eigenen sind. Das Motto, das Kant der Kritik der reinen Vernunft vorangestellt hat, verweist auf die Instauratio Magna von Francis Bacon, der sein Werk seinerseits mit dem Titelkupfer von Schiffen eröffnete, die die Säulen des Herkules, die westliche Pforte des Mittelmeers und die bis zur Neuzeit sakrosankte Grenze der Schifffahrt,72 verlassen, um zu neuen Ländern aufzubrechen.73
Aber auch auf der sicheren Insel bleibt man nach Kant im Fluß der Zeit. „Wenn wir die Dinge in der Zeit betrachten und den Wechsel der Zeit, so können wir sagen: der Zustand aller Dinge ist fließend, es ist alles im Fluß der Zeit.“ Dieser Fluß der Zeit setzt nun zwar wieder „etwas Beharrliches“ voraus, von dem aus er „wahrgenommen werden“ kann.74 Dies ist für Kant jedoch nur das Ich, solange es sich seiner selbst bewußt ist: „Wenn gleich der Satz einiger alten Schulen, daß alles fließend und nichts in der Welt beharrlich und bleibend sei, nicht statt finden kann, sobald man Substanzen annimmt, so ist er doch nicht durch die Einheit des Selbstbewußtseins widerlegt. Denn wir selbst können aus unserem Bewußtsein darüber nicht urtheilen, ob wir als Seele beharrlich sind, oder nicht, weil wir zu unserem identischen Selbst nur dasjenige zählen, dessen wir uns bewußt sind, und so allerdings nothwendig urtheilen müssen, daß wir in der ganzen Zeit, deren wir uns bewußt sind, eben dieselbe sind. In dem Standpunkte eines Fremden aber können wir dieses darum noch nicht für gültig erklären, weil, da wir an der Seele keine beharrliche Erscheinung antreffen als nur die Vorstellung Ich, welche sie alle begleitet und verknüpft, so können wir niemals ausmachen, ob dieses Ich (ein bloßer Gedanke) nicht eben sowohl fließe als die übrige Gedanken, die dadurch an einander gekettet werden.“75 Auch das Ich ist für KANT nur eine Vorstellung, die „alle meine Vorstellungen begleiten können“ muß,76 und als solche bleibt auch sie im Fluß der Vorstellungen, in dem es so keinen letzten festen Halt gibt.
JOHANN GEORG HAMANN, Kants Königsberger Mitbürger und Freund, sah sich mit seinem Leben und Schreiben auf einem lavierenden, niemals in den Hafen einlaufenden Schiff: Ich habe zehn Jahre, schrieb er, „wie ein unverdrossener Charon, auf einem Übersetzer Schifflein gerudert und noch 10 Jahre mit den Brosamen eines alten geschmälerten Dienstes fürlieb genommen, […]: habe also 20 köstliche Jahre meines mühseeligen Lebens laviert und theils am Vorgebirge guter Hoffnung vor Anker gelegen […].“77 Hamann begann wieder, das Verstehen gezielt in Fluß zu bringen, und wertete darum die Metapher des Fließens entschieden um. In seinen Sokratischen Denkwürdigkeiten bezog er sich über den weisen Aufklärer Sokrates erneut auf Heraklit zurück: Sokrates „unterschied in den Schriften des Heraklitus, dasjenige, was er nicht verstand, von dem, was er darin verstand, und that eine sehr billige und bescheidene Vermuthung von dem Verständlichen auf das Unverständliche. Bey dieser Gelegenheit redete Sokrates von Lesern, welche schwimmen könnten. Ein Zusammenfluß von Ideen und Empfindungen in jener lebenden Elegie vom Philosophen machte desselben Sätze vielleicht zu einer Menge kleiner Inseln, zu deren Gemeinschaft Brücken und Fähren der Methode fehlten.“78 Hamann zitiert hier eine Anekdote des DIOGENES LAERTIUS, nach der ein delischer Taucher nötig sei, um dem Denken Heraklits auf den Grund zu kommen,79 der auch „der weinende Philosoph“ genannt wurde, weil er, wie man vermutete, ganz seiner „dunklen“ Philosophie lebte, mit Hamann also „in jener lebenden Elegie“ aufging. Sokrates, der Aufklärer, aber konnte nicht schwimmen, sich im Fluß nicht halten und war darum nicht imstande, sich dem heraklitischen „Zusammenfluß von Ideen und Empfindungen“ zu überlassen. Er hatte schon die Haltung des Theoretikers eingenommen, der glaubte, den Fluß des Lebens im ganzen aus einem Standpunkt jenseits des Flusses überblicken und beurteilen zu können. Nimmt man im Sinn Hamanns die Anmaßung einer solchen theoretischen Übersicht zurück, hat man es beim Verstehen nur noch mit „einer Menge kleiner Inseln“ zu tun, die nicht durch bloße Vernunft zu überbrücken und zu verbinden sind.80
Kants Bestehen auf der Fähigkeit der Vernunft zur Kritik ihrer selbst wurde vom dritten großen Königsberger Philosophen, Kants Schüler und späteren Gegner JOHANN GOTTFRIED HERDER, weiter unterlaufen. Herder verwies nicht nur auf die Vorgängigkeit der Sprache vor der Vernunft, sondern auch der Geschichte und Kultur und brachte beide mit einer weit ausgreifenden Metaphorik des Fließens und Strömens zur Sprache, einer philosophischen Sprache, die stets zwischen Metapher und Begriff oszilliert.81 Darin war ihm schon Vico vorausgegangen.82 Herders erklärtes Credo war: „Alles ist auf der Erde im Wechsel“,83 kaum etwas ist „dem wegschwemmenden Strom der Zeit entronnen“.84 So kann im „Geist der Zeit“ alles, was „auf unserer runden Erde“ existiert, zugleich gegenwärtig sein: „Alle Modifikationen wechseln in ihm ab, sie haben gewechselt, sie werden wechseln, nachdem der Strom der Begebenheiten langsamer oder schneller die Wellen treibet.“85 Darin hat auch der Beobachter keinen festen Standpunkt mehr – „das Ganze ist ein Meer, wo Wellen und Wogen, die wohin? aber wie gewaltsam! rauschen – weiß ich, wohin ich mit meiner kleinen Woge komme?“86 –, und in diesem wogenden Meer ist auch keine universale Vernunft mehr vorauszusetzen: „Vorstellungen, die wir oft für die allgemeinsten Grundsätze der Menschenvernunft erkannten, verschwinden dort und hier mit dem Klima eines Orts, wie dem Schiffenden das feste Land als Wolke verschwindet. Was diese Nation ihrem Gedankenkreise unentbehrlich hält, daran hat jene nie gedacht oder hält es gar für schädlich.“87 Die Menschenvernunft „ist über Meere und Länder gegangen […] lasset uns vom Gange der Menschenvernunft nach Zeiten und Völkern lernen.“88 Kulturelle Scheidungen in der Geschichte der Menschheit folgten nach Herder Scheidungen durch Meere, Gebirge und Ströme in der Gestaltung der Erdoberfläche: „Liefen die Berge, flössen die Ströme, uferte das Meer anders, wie unendlich anders hätte man sich auf diesem Tummelplatz von Nationen umhergeworfen!“ Das Mittelmeer erwies sich dabei als „die Bestimmerin des ganzen Europa“, die Ostsee als „das Auge“ Nordeuropas. Um dieses Schicksal zu schildern, gebraucht Herder wiederum Metaphern des Fließens, Strömens und Wogens: „die berühmte Wanderung der nordischen Völker in die Provinzen des römischen Reichs“ wirkte wie „eine Flut, die Sammlung gewaltiger Bergströme, [die,] in einem höheren Tal lange zurückgehalten oder mit schwachen Dämmen hie- oder dahin geleitet, endlich unaufhaltsam losbricht und die niedrigen Gefilde überströmet: Wellen folgen auf Wellen, Ströme auf Ströme, bis alles ein helles Meer wird, das, langsam überwältiget, überall Spuren der Verwüstung, zuletzt aber auch blühende Auen nachläßt, die es mit Fruchtbarkeit belebte“. Bei alldem, so Herder, fühlt niemand in der Welt „die Schwäche des allgemeinen Charakterisierens mehr als ich. Man malet ein ganzes Volk, Zeitalter, Erdstrich – wen hat man gemalt? Man fasset auf einander folgende Völker und Zeitläufe in einer ewigen Abwechslung wie Wogen des Meeres zusammen – wen hat man gemalt, wen hat das schildernde Wort getroffen? Endlich man faßt sie doch in Nichts als ein allgemeines Wort zusammen, wo jeder vielleicht denkt und fühlt, was er will – unvollkommenes Mittel der Schilderung! wie kann man mißverstanden werden! […] wenn man das Weltmeer ganzer Völker, Zeiten und Länder übersehen, in einen Blick, ein Gefühl, ein Wort fassen soll!“89 Auch nach Herder müssen Philosophen darum schwimmen lernen. Kulturen, die „schwimmen“ können, hätten seit je einen Vorteil vor andern gehabt.90 Die „neue Welt auf dem Meere“, wie sie exemplarisch die Phönizier geschaffen hatten, sei zur Voraussetzung für eine neue Welt des Geistes und mit ihr für die Anfänge der Philosophie in Griechenland geworden.91 Denn: „In jeder seiner Wirkungen ist der Mensch eine fließende Größe.“
In der Romantik überflutete die Metaphorik des Fließens auch die Sprache der Philosophen. Der Fluß wird nun lustvoll erlebt, in Herzensergießungen, im Zerfließen in Tränen, im Durchflutet-Werden von den magnetischen Strömen des Mesmerismus. So konnte, um nur zwei Beispiele zu nennen, JENS BAGGESEN auf einen Brief von KARL LEONHARD REINHOLD antworten: „mein ganzes Wesen wird nicht blos durchströmt, sondern im Strome des seligen Genusses aufgelöst, und Alles, was ich in diesen wonnevollen Augenblicken äußern kann, ist convulsivischer Dank in beinahe tödtender Freude.“92 In den Strömen der einander durchflutenden Individuen sollte auch der Geist flüssig werden, der seinerseits die Kraft haben sollte zu verflüssigen. So notierte FRIEDRICH SCHLEGEL: „Ohne Buchstabe kein Geist; der Buchst[abe] nur dadurch zu überwinden, daß er fließend gemacht wird.“93
Auch HEGEL trat mit der Forderung radikaler Verflüssigung in die Philosophie ein. Ihr Ziel müsse es sein, „die festen Gedanken in Flüssigkeit zu bringen“.94 Dabei müsse das Denken auch den Halt, den es sich bei Descartes im Strudel des Umsturzes seiner Meinungen errungen hatte, seinerseits als Bewegungsmoment erkennen: „Die Gedanken werden flüssig, indem das reine Denken, diese innere Unmittelbarkeit, sich als Moment erkennt, oder indem die reine Gewißheit seiner selbst von sich abstrahiert, – nicht sich wegläßt, auf die Seite setzt, sondern das Fixe ihres Sichselbstsetzens aufgibt“. Das seiner selbst gewisse reine Denken muß einsehen, daß seine Unterscheidungen, auch die seiner selbst, zunächst nur seine eigenen sind. Durch die Bewegung dieser Einsicht würden „die reinen Gedanken Begriffe und sind erst, was sie in Wahrheit sind, Selbstbewegungen“,95 Bewegungen des Denkens zwischen verschiedenen und verschieden Denkenden und Unterscheidenden; das Denken wird dann von ihnen unabhängig und nicht nur für allgemein gehalten, sondern wahrhaft allgemein und damit in Hegels Sinn Begriff. An der Notwendigkeit der Verflüssigung des Denkens oder am Heraklitismus des Begriffs hält Hegel fest.96 Seine Berliner Antrittsvorlesung schließt er damit, daß der „Entschluß zu philosophieren“ bedeute, „sich wie in einen uferlosen Ozean“ zu werfen und seinem „Grauen“ auszusetzen: „man weiß noch nicht, wo es hinauswolle, wohin man hinkomme.“97 Er schränkt die Metapher jedoch, wiederum im Sinn Heraklits, zugleich ein: Die Bewegung des Begriffs muß als Bewegung des Begriffs Halt in sich gewinnen und gewinnt ihn durch schrittweise Selbstbestimmung des Begriffs des Begriffs in bestimmter Negation. So ordnet Hegel den angeblichen Satz Heraklits als bestimmtes Moment in diese Bewegung ein, nämlich als Beginn der Bewegung überhaupt im haltlosen Übergang von Sein in Nichts bzw. Nichts in Sein: „Alles fließt, das heißt: Alles ist Werden.“98 Damit ist in Hegels Sinn die Metapher des Fließens zugleich begriffen, und eben dies, Metaphern zu begreifen, ist für ihn wiederum Aufgabe der Philosophie: „Vorstellungen überhaupt können als Metaphern der Gedanken und Begriffe angesehen werden“, und die Philosophie setzt „Gedanken, Kategorien, aber näher Begriffe an die Stelle der Vorstellungen“.99 Fließen als haltloser Übergang (vorausgesetzt, bei Halt und Übergang handle es sich nicht um Metaphern) wird dann zur Bestimmung all dessen, was keine Grenze und keinen Halt in sich hat. Das gilt von allem, was Quanten hat, was bestimmt ist durch „das Auf- und Absteigen an der Skala der Grade zu einem stetigen Fortgang, einem Fließen, das eine ununterbrochene, unteilbare Veränderung ist“.100 Und das gilt auch von der in beliebige Quanten einteilbaren Zeit. Zeit ist dann wohl etwas, das fließt, jedoch nicht mehr das Fließende schlechthin; durch das Fließen wäre die Zeit unterbestimmt. So vermeidet Hegel in seiner Bestimmung der Zeit den Begriff oder die Metapher des Fließens ganz.101 Statt dessen macht er nun die spezifische Flüssigkeit des Wassers im Vergleich mit der der Luft zum Gegenstand philosophischer Reflexion und im Anschluß daran auch die Wärme, sofern sie verflüssigt,102 und das Organische, sofern es anderes verflüssigen kann, um es zu verdauen und sich davon zu ernähren.103 Leben überhaupt heiße, die Unterschiede von anderem verflüssigen und es sich dadurch aneignen zu können, und sei darin „allgemeine Flüssigkeit“, die sich selbst halten und erhalten kann und so zugleich „sichselbstgleiche Selbständigkeit“ ist. In dem „allgemeinen flüssigen Medium“ ist Leben, so Hegel, „ein ruhiges Auseinanderlegen der Gestalten“ und „wird eben dadurch zur Bewegung derselben oder zum Leben als Prozeß.“104 Und so konnte Hegel dann wiederum vom „selbständigen Subjekte“ als „Organ des Begriffs“ sprechen, für das „alles ideell und flüssig ist; d.h. es denkt, macht alles Räumliche und Zeitliche zu dem Seinigen, hat so in ihm die Allgemeinheit, d.h. sich selbst.“105
4 Nietzsche bis zur Gegenwart – NIETZSCHE, der mit einer radikalen Kritik der europäischen Philosophie im ganzen antritt, läßt unter allen Philosophen (fast) ungeschmälert nur Heraklit gelten.106 Seine Philosophie ist eine weitere große Philosophie des Fließens, mehr noch in seinen nachgelassenen Notizen als in seinem veröffentlichten Werk. Mit seinem heraklitischen Credo „Die Form ist flüssig, der ‚Sinn‘ ist es aber noch mehr …“107 bringt er die Flüssigkeit des Denkens, die Hegel als Bewegung des Begriffs gedacht hat, noch einmal in Fluß.108 Er versteht den Fluß des Sinns nicht mehr zielgerichtet als notwendigen Gang einer sich schließenden Bewegung, sondern mäandrisch als „fortgesetzte Zeichen-Kette von immer neuen Interpretationen und Zurechtmachungen“.109 Auch die Formen des Lebendigen, an denen Aristoteles seinen Begriff des Begriffs gebildet und die ihm in der Fortzeugung der Arten noch als bleibend und feststehend gegolten hatten, waren mit der Evolutionstheorie CHARLES DARWINS in Fluß geraten, und Nietzsche reagiert philosophisch darauf.110 Von irgendeinem festen Bestand in der Natur war nun nicht mehr auszugehen, nur noch vom „ewigen Fluß der Dinge“.111 Aber eben „die letzte Wahrheit vom Fluß der Dinge verträgt die Einverleibung nicht, unsere Organe (zum Leben) sind auf den Irrthum eingerichtet.“112 Wir brauchen feste Bestände, um uns orientieren, uns im Leben an etwas halten und so uns überhaupt am Leben halten zu können. So sind wir „necessitirt zum Irrthum“,113 können das einsehen und doch nicht vermeiden. Wir sind „nicht fein genug, um den muthmaaßlichen absoluten Fluß des Geschehens zu sehen: das Bleibende ist nur vermöge unserer groben Organe da, welche zusammenfassen und auf Flächen hinlegen, was so gar nicht existirt […]: wir legen eine mathematische Durchschnittslinie hinein in die absolute Bewegung, überhaupt Linien und Flächen bringen wir hinzu, auf der Grundlage des Intellekts, welches der Irrthum ist: die Annahme des Gleichen und des Beharrens, weil wir nur Beharrendes sehen können und nur bei Ähnlichem (Gleichem) uns erinnern.“114
Die Metapher des „absolut Flüssigen“, die eine „Grund-Wahrheit“ aussprechen könnte, bleibt für Nietzsche so, anders als für Hegel, unvermeidlich Metapher.115 Nietzsche führt schon in seinen philosophischen Anfängen die Begriffssprache auf eine Metaphernsprache zurück und kehrt damit die von Aristoteles begründete Asymmetrie von Begriff und Metapher um. Die Sprache, erwägt er in seiner nicht veröffentlichten Abhandlung „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“,116 ist in ihrem Gebrauch im ganzen stets im Fluß, und die Metaphorisierungen sind es, die sie im Fluß halten. Die verflüssigenden Metaphern sind darum nicht als nachträgliche Bilder zu Begriffen, sondern umgekehrt Begriffe als erstarrte Metaphern zu verstehen. Was wir „Wahrheit“ nennen, ist dann ein „bewegliches Heer von Metaphern […], die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken […], die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.“117 Aber Menschen brauchen auch feste Begriffe, sie brauchen in ihren Sprachen den metaphorischen Fluß und haltbare Begriffsbauten zugleich. So gründet Nietzsche die Bau-Metaphorik auf die Fluß-Metaphorik, um beide schließlich durch eine dritte, die heute aktuelle Netz-Metaphorik zu ersetzen: „Alles, was den Menschen gegen das Thier abhebt, hängt von dieser Fähigkeit ab, die anschaulichen Metaphern zu einem Schema zu verflüchtigen, also ein Bild in einen Begriff aufzulösen […]. Man darf hier den Menschen wohl bewundern als ein gewaltiges Baugenie, dem auf beweglichen Fundamenten und gleichsam auf fliessendem Wasser das Aufthürmen eines unendlich complicirten Begriffsdomes gelingt; freilich, um auf solchen Fundamenten Halt zu finden, muss es ein Bau, wie aus Spinnefäden sein, so zart, um von der Welle mit fortgetragen, so fest, um nicht von dem Winde auseinander geblasen zu werden.“118
Gegen „im Flusse des Werdens schwimmende und ertrunkene moderne Fanatiker des Prozesses“ wie, nach seiner Einschätzung, EDUARD VON HARTMANN grenzt sich Nietzsche scharf ab,119 warnt vor der Wirkung von „Lehren vom souverainen Werden, von der Flüssigkeit aller Begriffe, Typen und Arten“ aufs „Volk“.120 Eben weil alles im Fluß sei, müsse es Aufgabe jeder Kultur sein, den Menschen von sich aus Halt zu geben. So ist zwar „Alles auf dem Gebiete der Moral […] geworden, wandelbar, schwankend, Alles ist im Flusse, es ist wahr: – aber Alles ist auch im Strome: nach Einem Ziele hin“,121 dem „Glockenguss der Cultur“. Ist einmal „das Flüssige erstarrt“, ist eine Kultur einmal gefestigt „innerhalb eines Mantels von gröberem, gemeinerem Stoffe: Unwahrheit, Gewaltsamkeit, unbegränzte Ausdehnung aller einzelnen Ich’s, aller einzelnen Völker“, bedarf es nach und nach „keiner Anlehnung an Metaphysik und die Irrthümer der Religionen mehr […], keiner Härten und Gewaltsamkeiten als mächtigster Bindemittel zwischen Mensch und Mensch, Volk und Volk“.122 Dann kann, wie Nietzsche für sich notiert, „[g]litzernder Sonnenschein der Erkenntniß […] durch den Fluß der Dinge auf deren Grund“ fallen.123 Doch „selbst für die grössten Liebhaber der Erkenntniss ist es nützlicher, wenn um alles Erforschbare und der Vernunft Zugängliche ein umnebelter trügerischer Sumpfgürtel sich legt, ein Streifen des Undurchdringlichen, Ewig-Flüssigen und Unbestimmbaren“, der sie vor neuen Metaphysiken bewahrt.124 Auch sie bleiben unvermeidlich bestimmt vom „Cultus“ ihrer Kultur, der „wie ein fester Wort-Text immer neu ausgedeutet“ wird: „die Begriffe und Empfindungen sind das Flüssige, die Sitten das Harte.“125
Philosophen kommt nach Nietzsche damit einerseits die Aufgabe zu, dem Fluß des Lebens Halt und Ziel zu geben, andererseits ihn aber dort, wo er selbstvergessen erstarrt, neu in Fluß zu bringen und so lebendig zu erhalten. Im ersten Sinn wirken Philosophen, wie Nietzsche notiert, als „befehlende Menschen im höchsten Sinne“, „tyrannische Geister, welche im Stande sind, einen Begriff fest zu setzen, fest zu halten, Menschen mit dieser geistigen Willenskraft, welche das Flüssigste, den Geist, für lange Zeit zu versteinern und beinahe zu verewigen wissen“.126 Im zweiten Sinn wirken sie dagegen als „Thauwind“, der das Eis erstarrter Begriffe schmelzen läßt und aufbricht: „Das Eis, das heute noch trägt, ist schon sehr dünn geworden: der Thauwind weht, wir selbst, wir Heimatlosen, sind Etwas, das Eis und andre allzudünne ‚Realitäten‘ aufbricht.“127 Nach den Einbrüchen der Moderne in das kosmische Denken der Griechen „befinden wir uns auch jetzt noch im eistreibenden Strome des Mittelalters; es ist aufgethaut und in gewaltige verheerende Bewegung gerathen. Scholle türmt sich auf Scholle, alle Ufer sind überschwemmt und gefährdet.“128 Das 19. Jahrhundert habe dies als lähmenden Nihilismus erfahren. Nun helfe nur, sich aufs offene Meer zu wagen und „nach neuen Meeren“ zu suchen.129 Philosophen wie er, so Nietzsche, können den Tauwind als Befreiung und Genesung, ja „Seligkeit“ erfahren.130
Nietzsche schöpft die Metaphernquelle des Fließens bis zum Grund aus. Seinen Zarathustra läßt er in einer einzigen kurzen Rede das heraklitische „,Alles ist im Fluss‘“ mit seiner eigenen Metapher des Tauwinds zusammenführen und dazwischen die Brücken-Metaphorik einfügen: „Wenn das Wasser Balken hat, wenn Stege und Geländer über den Fluss springen: wahrlich, da findet Keiner Glauben, der da spricht ‚Alles ist im Fluss‘. – Sondern selber die Tölpel widersprechen ihm ‚Wie? sagen die Tölpel, Alles wäre im Flusse? Balken und Geländer sind doch über dem Flusse!‘ – ‚Über dem Flusse ist Alles fest, alle die Werthe der Dinge, die Brücken, Begriffe, alles ‚Gut‘ und ‚Böse‘: das ist Alles fest!‘– Kommt gar der harte Winter, der Fluss-Thierbändiger: dann lernen auch die Witzigsten Misstrauen; und, wahrlich, nicht nur die Tölpel sprechen dann: ‚Sollte nicht Alles – stille stehn?‘ – ‚Im Grunde steht Alles stille‘ –, das ist eine rechte Winter-Lehre, ein gut Ding für unfruchtbare Zeit, ein guter Trost für Winterschläfer und Ofenhocker. – ‚Im Grund steht Alles still‘ –: dagegen aber predigt der Thauwind! – Der Thauwind, ein Stier, der kein pflügender Stier ist, – ein wüthender Stier, ein Zerstörer, der mit zornigen Hörnern Eis bricht! Eis aber – bricht Stege! – Oh meine Brüder, ist jetzt nicht Alles im Flusse? Sind nicht alle Geländer und Stege in’s Wasser gefallen? Wer hielte sich noch an ‚Gut‘ und ‚Böse‘? – ‚Wehe uns! Heil uns! Der Thauwind weht!‘ – Also predigt mir, oh meine Brüder, durch alle Gassen!“131 Den „Übermenschen“ läßt er Zarathustra dem Volk der Stadt mit den Metaphern des „Stroms“ und des „Meers“ nahebringen, verständlicherweise vergeblich.132 Zarathustra erinnert das Volk zunächst – mit Metaphern des Fließens – daran, daß bisher alle Wesen „etwas über sich hinaus“ geschaffen hätten: „und ihr wollt die Ebbe dieser grossen Fluth sein und lieber noch zum Thiere zurückgehn, als den Menschen überwinden?“133 Und dann vergleicht er den „Menschen“ mit einem „schmutzigen Strom“ und den „Übermenschen“ mit dem „Meer“, das diesen Strom, in dem die „grosse Verachtung“ des Menschen, dessen Seele von „Armut und Schmutz und ein[em] erbärmlichen Behagen“ künde, aufnehmen könne, „ohne unrein zu werden“. Indem der Mensch über sich hinausgehe, über sich hinaus schaffe, statt an scheinbar endgültigen Bestimmungen eines „letzten Menschen“ festzuhalten, könne er sich selbst reinigen wie ein Meer, das durch seine Zuströme und seine eigenen Strömungen unablässig im Fluß bleibt.
Der Übermensch soll der Fluß des Menschen über sich hinaus und zugleich die Erlösung vom Fluß sein, sofern er dem Menschen Ziel und Halt oder kurz: „Sinn“ gibt,134 und so ist er seinerseits zuletzt Fluß über den Fluß hinaus oder „Überfluß“. Zarathustra lehrt, so leitet Nietzsche Also sprach Zarathustra ein, aus Überfluß. Zarathustra hat in Jahren und Jahrzehnten so viel „Weisheit“ in sich aufgesammelt und aufgestaut, daß er sie nicht mehr bei sich behalten kann und von ihr abgeben muß, und darum muß er, so Nietzsche, unter die Menschen gehen und unter ihnen „untergehen“.135 Nietzsche hat dafür das Bild eines Sees, „der sich eines Tages versagte, abzufliessen, und einen Damm dort aufwarf, wo er bisher abfloss: seitdem steigt dieser See immer höher“,136 um dann aus seiner Höhe überzufließen. Er nimmt damit eine konkrete Erfahrung auf, die die Ionier mit ihren Flüssen und Kant mit der Ostsee gemacht haben. Und so trägt er dann auch seinen „Begriff vom Genie“ vor: „Das Genie – in Werk, in That – ist nothwendig ein Verschwender: dass es sich ausgiebt, ist seine Grösse … Der Instinkt der Selbsterhaltung ist gleichsam ausgehängt; der übergewaltige Druck der ausströmenden Kräfte verbietet ihm jede solche Obhut und Vorsicht. […] Er strömt aus, er strömt über, er verbraucht sich, er schont sich nicht, – mit Fatalität, verhängnissvoll, unfreiwillig, wie das Ausbrechen eines Flusses über seine Ufer unfreiwillig ist.“137 Seinen Zarathustra läßt Nietzsche zuletzt sein Glück im metaphorischen Schwimmen auf einem See, seinem „himmelblauen See von Glück“, erleben, dieses Glück aber nicht mehr ihn selbst, sondern seine Tiere zur Sprache bringen, die Zarathustra dann korrigiert: „ihr wisst auch, dass mein Glück schwer ist und nicht wie eine flüssige Wasserwelle: es drängt mich und will nicht von mir und thut gleich geschmolzenem Peche.“138 Sein Glück, Zarathustra zu sein, seinen Überfluß an Weisheit unter die Menschen bringen und so schaffen zu müssen, haftet an ihm wie Pech. Denn Nietzsche läßt ihn niemanden unter den Menschen finden, der ihm seine Weisheit auch abnehmen kann.
Auch WILHELM DILTHEY erwartet, daß die „Welt des Geistes“ ebenso wie die Natur „der ununterbrochene Fluß eines unteilbaren Geschehens“ sei,139 aus dem Einheiten nach unterschiedlichen Interessen abstrahiert und isoliert würden.140 Dabei werde in einem „darwinistischen“ Selektionsprozeß entweder „die Wirklichkeit dem Eigenleben angepaßt und so rückwärts vom Selbst aus die äußere Wirklichkeit beeinflußt, oder das Eigenleben fügt sich der harten und spröden Wirklichkeit. So besteht eine beständige Wechselwirkung zwischen dem Selbst und dem Milieu äußerer Wirklichkeit, in dem es sich findet, und in ihr ist unser Leben.“141 Als Bedingung der Möglichkeit des Bestands solcher Wechselwirkungen führt Dilthey die Begriffe Struktur und System ein. „Lebenseinheiten“ organisierten sich unter wechselnden Lebensbedingungen als „erworbene Strukturzusammenhänge“, die, als erworbene, sich ihrerseits wandeln, also im Fluß des Lebens bleiben.142 Es ist, „als sollten in einem beständig strömenden Fluß Linien gezogen werden, Figuren gezeichnet, die standhielten“.143 Dilthey und Nietzsche beginnen so, nicht nur im Fluß sich haltende, sondern auch in den Faktoren ihrer Haltbarkeit fließende Einheiten zu denken, die nun nicht mehr als Substanzen, sondern als „Fluktuanzen“ zu verstehen sind.144
WILLIAM JAMES schließt sich dem an und wird so zu einem der Begründer des Pragmatismus. Er überführt, ebenfalls unter Aufnahme von Darwins Evolutionstheorie, den Heraklitismus des Begriffs in eine neue, einerseits auf die Beobachtung psycho-physischer Wechselwirkungen, andererseits auf Introspektion gegründete Psychologie, die als Basis auch von Erkenntnistheorie, Moral- und Religionsphilosophie dienen sollte, und prägte zu ihrer Grundlegung den Begriff des „Stroms des Bewußtseins (stream of consciousness)“: Das Bewußtsein, das Denken, das „subjektive Leben“ bestehe „nicht aus verbundenen Gliedern; es fließt. Ein ‚Fluß‘, ein ‚Strom‘, das sind die Metaphern, durch welche es am natürlichsten versinnbildlicht wird.“145 Im Strom unterschieden sich wiederum „,substanzartige‘ Ruhe-Stellen“, „Haltestellen“, an denen sich Bilder und Begriffe bilden könnten, von „,transitiven‘ Bewegungs-Stellen“, die in ihrer Übergängigkeit und Vagheit kaum feststellbar seien und darum in der Selbstbeobachtung leicht übersehen würden.146 Sie machten jedoch den Fluß aus: „Die Ansicht der traditionellen Psychologie gleicht derjenigen, wonach ein Fluß lediglich aus so und soviel Löffeln, Eimern, Krügen, Fässern oder sonstigen Gefäßen voll Wasser bestünde. Auch wenn die betreffenden Gefäße alle tatsächlich in dem Strom ständen, würde das freie Wasser doch fortfahren, zwischen ihnen hindurch zu fließen. Gerade dasjenige, was diesem freien Wasser im Bewußtsein entspricht, ist es, was die Psychologen so standhaft übersehen.“147
EDMUND HUSSERL nimmt in seiner phänomenologischen Philosophie den Begriff des Bewußtseinsstroms auf,148 zieht jedoch die Metaphorik des gefaßten Flusses vor. In seinem Versuch, Philosophie neu als „strenge Wissenschaft“ zu begründen, rekurriert er zugleich auf Kants Konzeption eines transzendentalen Standpunkts, um den (Selbst-)Beobachtungen des strömenden Bewußtseins einen festen Halt zu geben. So kommt er unter neuerlichem explizitem Bezug auf Heraklit149 zu den schärfsten und produktivsten Formulierungen der im Bild des Flusses enthaltenen, aber auch handhabbaren Paradoxien.150 Er führt den „Fluß“ nicht als Bild ein, sondern identifiziert es erst nachträglich als solches, ohne daß ihm dafür, so Husserl, andere „Namen“ zur Verfügung stünden, es sei denn neue Metaphern wie der „Urquellpunkt ‚Jetzt‘“.151 Husserl gebraucht den Namen „Fluß“ dann wechselnd mit und ohne Anführungszeichen152 und läßt so unentschieden, ob es sich um einen Begriff oder eine (absolute) Metapher handelt. „Fließen“ besagt nach Husserl, daß das aktuelle Bewußtsein von etwas stets zugleich das Bewußtsein eines „Noch-nicht und Nicht-mehr“ ist,153 und der „Flußmodus“ ist „das Gesetz der Umwandlung von Jetzt in Nicht-Mehr und andererseits von Noch-nicht in Jetzt“ oder kurz des „Ablaufs“.154 Das „Flußkontinuum“ oder der „stetige Fortfluß des Bewußtseins“ ist jedoch ein Fluß, der „in viele Flüsse zerfällt“, sofern man sich zugleich verschiedener Abläufe bewußt sein kann.155 Und die Vorstellungen bleiben auch im Fluß, wenn die vorgestellten Gegenstände bleiben: es sind ebenso kontinuierliche Bewußtseinsabläufe, in denen ein Haus gemustert wie eine Melodie gehört wird. Man kann die Abläufe im Bewußtsein wohl „einen Moment zum Stehen bringen“, wie Husserl mit Aristoteles sagt,156 aber doch nur auf einen Moment; der Bewußtseinsseinsfluß als solcher ist nicht aufzuhalten. Der „Fluß stetiger ‚Veränderung‘ […] hat das Absurde, daß sie genau so läuft, wie sie läuft, und weder ‚schneller‘ noch ‚langsamer‘ laufen kann.“157 Anders formuliert: „Die Zeit ist starr, und doch fließt die Zeit.“158 Das heißt: „Die Veränderung ist keine Veränderung, und darum ist auch von etwas, das da dauert, sinnvoll keine Rede und ist es unsinnig, hier etwas finden zu wollen, was in einer Dauer einmal sich nicht verändert.“159 Und umgekehrt gilt dann auch: „Beharrlichkeit ist […] eine Einheit, die sich im Fluß konstituiert, und zu dessen Wesen gehört es, daß in ihm keine Beharrung sein kann.“160 Husserl entgeht solchen Paradoxien so, daß er die von Aristoteles vorgenommene und von Locke bestätigte Substantialisierung von Vorstellungen des Zeitlichen zurücknimmt, aber mit Kant an der (ebenfalls aristotelischen) Form-Inhalt-Unterscheidung festhält und eine „formale Struktur des Flusses, die Form des Flusses“ postuliert: „die beständige Form ist immer neu von ‚Inhalt‘ gefüllt“.161 Um den Fluß des Bewußtseins im Fluß des Bewußtseins unterscheiden zu können, muß Husserl das Bewußtsein als synthetische Einheit all seiner Flüsse postulieren. Das Bewußtsein konstituiere im Ablauf seiner Zustände Zeit und dürfe eben darum nicht wiederum als zeitlich betrachtet werden – wiewohl es zweifellos nur zeitlich gegeben ist.162 Husserl nennt die Einheit des Bewußtseins darum „quasi-zeitlich“ und „präphänomenal“,163 was bedeutet, daß das Bewußtsein auch „ein notwendig ‚unbewußtes‘ Bewußtsein“ ist.164 In ihm muß dann „notwendig eine Selbsterscheinung des Flusses bestehen und daher der Fluß selbst notwendig im Fließen erfaßbar sein“.165
HENRI BERGSON, der das Denken der Zeit wie kein anderer in Fluß gebracht hat,166 vermeidet jede Nähe zu Heraklit und so auch die Fluß-Metapher. An der einzigen Stelle in seinem Werk, an der Bergson ihn erwähnt, verwahrt er sich dagegen, mit Heraklit verglichen zu werden.167 Lediglich in Gelegenheitsschriften oder -ansprachen spricht er auch von der „Flüssigkeit“ (fluidité) unseres Innenlebens, der Zeit, der Erfahrung, der „tiefen psychologischen Zustände“, des Bewußtseins (l’essence des états de conscience est la fluidité), und der Gegenwart (le présent est quelque chose de fluide, incapable de l’arrêter).168 Auch MARTIN HEIDEGGER distanziert sich von der Fluß-Metapher ebenso wie von der des Erlebnisstroms, zählt beide zum „vulgären Zeitverständnis“.169 ALFRED NORTH WHITEHEAD dagegen leitet das Kapitel „Prozeß“ in Process and Reality mit der Reverenz ein, all things flow sei ein „göttlicher Ausdruck“, „die erste vage Verallgemeinerung, die die unsystematische, kaum analysierte Intuition der Menschheit hervorgebracht hat“, nicht nur bei Heraklit, sondern auch in den Psalmen. Ihre Konzeptualisierung sei das „Endziel“ (final aim) der Philosophie, auch seiner eigenen, um sie herum „müssen wir unser philosophisches System weben“: „Die Aufklärung der in den Ausdruck ‚alle Dinge fließen‘ eingehüllten Bedeutung stellt eine Hauptaufgabe der Metaphysik dar.“170 Die englische Übersetzung all things flow legt für ihn nahe, die drei Elemente des Satzes „Dinge“, „fließen“ und „alle“ gesondert zu analysieren, und er befragt dann seinerseits seine großen Vorgänger daraufhin, wieweit ihnen deren Konzeptualisierung gelungen sei. Bei JOHN LOCKE findet er eine, allerdings implizite, Unterscheidung zweier Arten des Fließens (fluency), die der „Konkretisierung“ (concrescence), des unablässigen inneren Werdens von etwas, und die des „Übergangs“ (transition) von einem zum andern, der unablässigen Beeinflussung von Konkretem untereinander, und setzt so selbst seine Metaphysik des Prozesses an.171 Daß alle Dinge fließen, läßt sich auch, so Whitehead, in die Sprache der mathematischen Physik übersetzen. Es lautet dann „Alle Dinge sind Vektoren“, und sofern diese Vektoren „fließende Energie“ (fluent energy) beschreiben, unterliegt „aller Energiefluß“ (all flow of energy) wiederum Quanten-Bedingungen.172 Whiteheads Metaphysik gipfelt und schließt im Konzept der „Vergottung der Welt“, in der nicht mehr die Welt als „Fluß“ (fluency) und Gott als „Beharren“ (permanence) getrennt, sondern als aufeinander angewiesen und sich ineinander erfüllend, also auch Gott als „fließend“ und die Welt als „beharrlich“ begriffen werden sollen.173
Der späte LUDWIG WITTGENSTEIN sieht auch im Bild vom „ständigen Fluß der Erscheinung“, den wir „im gewöhnlichen Leben nie spüren, sondern erst, wenn wir philosophieren“, „eine falsche Verwendung unserer Sprache“ durch die Philosophie: es sei klar, „daß das Bild mißbraucht ist. Daß man nicht sagen kann, ‚die Zeit fließt‘, wenn man mit ‚Zeit‘ die Möglichkeit der Veränderung meint. – Was wir hier betrachten, ist eigentlich die Möglichkeit der Bewegung. Also die logische Form der Bewegung.“174 Aber auch er kann und will nicht darauf verzichten. Auch logische Beschreibungen setzten schon ein „Weltbild“ voraus, als „überkommene[n] Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide“, und die, „die dies Weltbild beschreiben, könnten zu einer Art Mythologie gehören. […] Man könnte sich vorstellen, daß gewisse Sätze von der Form der Erfahrungssätze erstarrt wären und als Leitung für die nicht erstarrten, flüssigen Erfahrungssätze funktionierten; und daß sich dies Verhältnis mit der Zeit änderte, indem flüssige Sätze erstarrten und feste flüssig würden. – Die Mythologie kann wieder in Fluß geraten, das Flußbett der Gedanken sich verschieben. Aber ich unterscheide zwischen der Bewegung des Wassers im Flußbett und der Verschiebung dieses; obwohl es eine scharfe Trennung der beiden nicht gibt. […] Ja, das Ufer jenes Flusses besteht zum Teil aus hartem Gestein, das keiner oder einer unmerkbaren Änderung unterliegt, und teils aus Sand, der bald hier bald dort weg- und angeschwemmt wird.“175 So bleibt auch das Ufer des Flusses der Erscheinungen, jede Art von Logik, im Fluß.
Auch der an Wittgensteins frühen Tractatus logico-philosophicus anschließende Logische Empirismus weiß sich „auf offener See“. Otto NEURATH prägt ein Leitbild auch noch für die später so genannte Analytische Philosophie, als er für das Problem der Bereitstellung „endgültig gesicherter sauberer Protokollsätze“ für streng empirische Wissenschaften einräumt: „Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können.“176 Auch der Bau des Schiffs einer haltbaren und gehaltvollen Wissenschaft bleibt im Fluß. WILLARD VAN ORMAN QUINE, der sich gerne auf das Bild beruft, erschließt in einer Ontologie des Flusses Möglichkeiten, „Prozeß-Objekte“ in „Moment-Objekten“ sprachlich zu identifizieren.177 Dennoch setzt man vorzugsweise nun wieder auf Metaphern des Bauens, des „logischen Aufbaus der Welt“, für den RUDOLF CARNAP das Signal gegeben hat.178 Auch der Begriff der Struktur, den sich der Strukturalismus zu eigen macht, schließt im Wortsinn an lat. struere, „schichten, bauen, errichten“ an. Strukturen können und sollen dann aber ihrerseits wieder „destruiert“ und „dekonstruiert“, abgebaut und umgebaut werden, nach JACQUES DERRIDA in Prozessen des „Verschiebens“ (différance) und „Zerstreuens“ (dissémination).179 GILLES DELEUZE und FÉLIX GUATTARI entwerfen das Konzept eines freien Fluktuierens der Differenzen oder Mannigfaltigkeiten, aus und über denen zu ihrerseits fluktuierenden Zwecken Kanalisierungen und Territorialisierungen, Vereinheitlichungen und Totalisierungen gebildet werden, von denen (sich) das philosophische Denken befreien soll, um sich im offenen Meer auf „tausend Plateaus“ ergehen zu können.180 MICHEL FOUCAULT, ebenfalls Strukturalist und Kritiker des Strukturalismus zugleich, der auf archäologische Metaphern setzt, sieht das Konzept des Menschen, das sich aus einander vielfach überkreuzenden Dispositionen des Wissens in der Moderne ergeben habe, bald auch wieder verschwinden „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“.181 Die rhythmisch ans Ufer strömenden Wellen holen alle scheinbar festen Strukturen wieder in den Fluß zurück.