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2.1 Bibelexegese
ОглавлениеMit dem aktuellen Stand der Bibelwissenschaften sind die neuen Atheisten zwar nicht vertraut, aber es kann doch zugestanden werden, dass ein RICHARD DAWKINS über einige grundlegende Einsichten zur Entstehung der Evangelien verfügt. So erfahren wir bei ihm etwas holzschnittartig, aber von der Tendenz her durchaus zutreffend:
„Seit dem 19. Jahrhundert haben Theologen überwältigende Belege dafür, dass die Evangelien keine zuverlässigen Berichte über die wirklichen historischen Ereignisse darstellen. Alle wurden erst lange nach dem Tod Jesu verfasst, und sie entstanden auch erst nach den Briefen des Apostels Paulus, in denen so gut wie nichts über die angeblichen Tatsachen aus dem Leben Jesu steht.“47
Auch informiert Dawkins seine Leserinnen und Leser darüber, dass die beiden Geburtsgeschichten Jesu im Matthäus- und Lukasevangelium zwar den aus Mi 5,2 für den Messias erschlossenen Geburtsort Bethlehem gemeinsam haben, ansonsten sich aber nicht zur Übereinstimmung bringen lassen.48 Auch habe die von Lukas berichtete im gesamten Römischen Reich durchgeführte Volkszählung zur Zeit von Jesu Geburt nicht stattgefunden, sondern nur eine Steuerschätzung in der Provinz Syrien erst im Jahre 6 n.Chr.49
Recht unkritisch verfährt Dawkins, wenn er sich unter Berufung auf einen Artikel von ROBERT GILLOOLY dessen weitgehend unzutreffende Behauptung zu eigen macht, dass folgende Motive der Jesusgeschichte in den Evangelien aus anderen Religionen des Mittelmeerraums und des Nahen Ostens übernommen worden seien: „der Stern im Osten, die Jungfrauengeburt, die Anbetung des Babys durch die Könige, die Wunder, die Hinrichtung, die Wiederauferstehung und die Himmelfahrt“.50 Auf eine Diskussion im Einzelnen verzichte ich hier. Nur dies sei angemerkt, dass das Matthäusevangelium – und nicht das Lukasevangelium, wie es bei DAWKINS heißt – eine Anbetung des Jesuskindes durch Magier kennt (erst die spätere christliche Überlieferung erklärt sie zu Königen). Und weshalb die Hinrichtung aus den Umweltreligionen übernommen worden sein soll, bleibt das Geheimnis von Dawkins. Bedeutete doch das Wort vom gekreuzigten Christus den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit (vgl. 1Kor 1,23).
Was den literarischen Zusammenhang der synoptischen Evangelien betrifft, rezipiert Dawkins offenbar die Zwei-Quellen-Theorie. Diese besagt, dass das älteste Evangelium das Markusevangelium darstellt, das zusammen mit der sogenannten Logien- oder Redequelle dem Matthäus- und Lukasevangelium als Textbasis gedient hat.51 Dagegen ist es schlichte Unkenntnis der neutestamentlichen Kanonsgeschichte, wenn Dawkins meint, die vier Evangelien seien „mehr oder weniger willkürlich aus einer größeren Zahl ausgewählt“52 worden. Und zu behaupten, der „einzige Unterschied“ zwischen den kanonischen Evangelien und dem Roman „The Da Vinci Code (Sakrileg)“ bestehe darin, „dass Sakrileg eine moderne literarische Erfindung ist, während die Evangelien schon vor sehr langer Zeit erfunden wurden“53, ist nicht nur dreist, sondern zeugt auch von mangelnder geschichtlicher Bildung.
Ähnlich wie Dawkins lassen ebenfalls die anderen neuen Atheisten „auch nur die Spur einer Ahnung von Wissen um das hermeneutische Problembewusstsein religiöser Traditionen vermissen“54. Dies zeigt sich z.B. in SCHMIDT-SALOMONs unsäglicher Interpretation des Gleichnisses vom Unkraut unter dem Weizen, die darin gipfelt, dass Jesus hier dem „überwiegenden Teil der Menschheit“ eine „Art ‚jenseitiges Auschwitz‘ mit Engeln als Selektionären an der ‚himmlischen Rampe‘ in Aussicht“ gestellt habe55. Und bei DAWIKINS überrascht es nicht, wenn er das Gotteszeugnis der Bibel als irrelevant abtut, da sie „keinen zuverlässigen Bericht über die tatsächlichen historischen Ereignisse“ enthalte56. Die neuen Atheisten – und darin stimmen sie mit den christlichen Fundamentalisten überein – verkennen, dass die Bibel nicht einfach gleichzusetzen ist mit „biblischer Geschichte“, sondern eine Fülle von literarischen Gattungen aufweist – sei es nun ein Geschichtsbericht, eine Legende, eine Vision, ein Gleichnis, ein Bildwort, ein Sprichwort, ein Mythos, ein Prophetenwort und vieles andere mehr. Die Bibel ist, wie GERD THEISSEN gezeigt hat, ein „polyphones Kunstwerk“:
„In ihr finden wir vielfältige Stimmen, die z.T. einander widersprechen. Dennoch klingen sie zusammen. Manche Stimmen werden korrigiert, einige weitergeschrieben, andere zusammen mit ihrem Gegenteil tradiert. Das Ganze ergibt eine strukturierte Pluralität. Dazu klingen in der Bibel die Stimmen der Alten Welt nach: Längst vergangene Kulturen Mesopotamiens, Syriens und Ägyptens haben in ihr sichtbare und unsichtbare Spuren hinterlassen. Im Neuen Testament hören wir ferner die Stimmen einer Erlösungssehnsucht aus vielen jüdischen und heidnischen Gruppen. Diese Vielstimmigkeit findet ihre Fortsetzung in der Polyphonie der Wirkungsgeschichte.“57
Wenn die Bibel ein solches polyphones Kunstwerk ist, dann kann auch nur ein polyphones Verstehen ihr gerecht werden. Dabei kommt es darauf an, das Thema herauszuhören, das in der Vielfalt der Stimmen stets von Neuem variiert wird: der Bezug des Menschen zu Gott. Geben wir noch einmal GERD THEISSEN das Wort:
„Die Bibel ist Chance zur Dialogaufnahme mit Gott. Man findet diesen Dialog nie in reiner Form, sondern muss ihn aus einem Geflecht vieler Stimmen heraushören, auch zusammen mit Stimmen, die nur ein oberflächliches Zuhören als störende Nebengeräusche wahrnimmt. Man wird vielmehr immer wieder das Thema mal hier, mal dort hören. Je weniger überraschungsfrei seine Wiederkehr ist – auch in Durchführungen und Stimmlagen, in denen man das Thema nie vermutet hätte, umso überzeugender ist die Polyphonie des Gesamtstückes. Dabei wird im Nebeneinander und Miteinander verschiedener selbständiger Stimmen immer auch eine Polyphonie der Bedeutung in jeder einzelnen Stimme hörbar. Jede Stimme ist für verschiedene Interpretationen offen. Alles Gehörte wird dadurch für verschiedene Deutungen offen – bis wir selbst lernen, in diesem Stück mit zu musizieren und in unserem eigenen Leben diese Musik weiter zu spielen.“58