Читать книгу Martin Luther - Группа авторов - Страница 12
Reformatorische Erkenntnis Ein reformatorischer Durchbruch? Volker Leppin
ОглавлениеDie Lutherforschung steht bis heute im Banne der Selbstdarstellungen des Reformators. Unter ihnen ist die wohl wichtigste und am kontroversesten diskutierte sein Rückblick auf die reformatorische Entwicklung, den er der Ausgabe seiner lateinischen Werke im Jahr 1545 voranschickt:
„Inzwischen war ich in diesem Jahr [1519] zum Psalter zurückgekehrt, um ihn von neuem auszulegen, im Vertrauen darauf, daß ich geübter sei, nachdem ich St. Pauli Brief an die Römer und Galater und den an die Hebräer in Vorlesungen behandelt hatte. Ich war von einer wundersamen Leidenschaft gepackt worden, Paulus in seinem Römerbrief kennenzulernen, aber bis dahin hatte mir nicht die Kälte meines Herzens, sondern ein einziges Wort im Wege gestanden, das im ersten Kapitel steht: ‚Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm [d.h. im Evangelium] offenbart‘ (Röm 1, 17). Ich haßte nämlich dieses Wort ‚Gerechtigkeit Gottes‘, das ich nach dem allgemeinen Wortgebrauch aller Doktoren philosophisch als die sogenannte formale oder aktive Gerechtigkeit zu verstehen gelernt hatte, mit der Gott gerecht ist, nach der er Sünder und Ungerechte straft.
Ich aber, der ich trotz meines untadeligen Lebens als Mönch mich vor Gott als Sünder mit durch und durch unruhigem Gewissen fühlte und auch nicht darauf vertrauen konnte, ich sei durch meine Genugtuung mit Gott versöhnt, ich liebte nicht, ja, ich haßte diesen gerechten Gott, der Sünder straft; wenn nicht mit ausgesprochener Blasphemie, so doch gewiß mit einem ungeheuren Murren war ich empört gegen Gott und sagte: ‚Soll es noch nicht genug sein, daß die elenden Sünder, die ewig durch die Erbsünde Verlorenen, durch den Dekalog mit allerhand Unheil bedrückt sind? Muß denn Gott durch das Evangelium den Schmerzen noch Schmerzen hinzufügen und uns durch das Evangelium zusätzlich seine Gerechtigkeit und seinen Zorn androhen?‘ So raste ich in meinem wütenden, durch und durch verwirrten Gewissen und klopfte rücksichtslos bei Paulus an dieser Stelle an, mit heißestem Durst zu wissen, was Sankt Paulus damit sagen will. Endlich achtete ich in Tag und Nacht währendem Nachsinnen durch Gottes Erbarmen auf die Verbindung der Worte, nämlich: ‚Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm offenbart‘, wie geschrieben steht: ‚Der Gerechte lebt aus dem Glauben‘ (Hab 2, 4). Da habe ich angefangen, die Gerechtigkeit Gottes als die zu begreifen, durch die der Gerechte als durch Gottes Geschenk lebt, nämlich aus Glauben; ich begriff, daß dies der Sinn ist: Offenbart wird durch das Evangelium die Gerechtigkeit Gottes, nämlich die passive, durch die uns Gott, der Barmherzige, durch den Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: ‚Der Gerechte lebt aus dem Glauben.‘
Nun fühlte ich mich ganz und gar neugeboren und durch offene Pforten in das Paradies selbst eingetreten. Da zeigte sich mir sogleich die ganze Schrift von einer anderen Seite. Von daher durchlief ich die Schrift, wie ich sie im Gedächtnis hatte, und las auch in anderen Ausdrücken die gleiche Struktur, wie: ‚das Werk Gottes‘, d.h. was Gott in uns wirkt, ‚die Kraft Gottes‘, mit der er uns kräftig macht, ‚die Weisheit Gottes‘, mit der er uns weise macht, ‚die Stärke Gottes‘, ‚das Heil Gottes‘, ‚die Herrlichkeit Gottes‘.
Nun, mit wie viel Hass ich früher das Wort ‚Gottes Gerechtigkeit‘ gehaßt hatte, mit umso größerer Liebe pries ich dieses Wort als das für mich süßeste; so sehr war mir diese Paulusstelle wirklich die Pforte zum Paradies. Später las ich Augustins ‚De spiritu et littera‘, wobei ich unverhoffterweise darauf stieß, dass auch er die Gerechtigkeit Gottes ähnlich interpretiert: [als die Gerechtigkeit,] mit der uns Gott bekleidet, indem er uns rechtfertigt. Und obwohl dies noch unvollkommen gesagt ist und Augustin von der Anrechnung nicht alles klar expliziert, gefiel es mir doch, daß die Gerechtigkeit Gottes gelehrt wird, mit der wir gerechtfertigt werden.“1
Dieser Text wurde hin- und hergewendet wie wohl kein zweiter in der Lutherforschung. Einerseits weckte es Begeisterung und Interesse, daß hier der Reformator selbst Auskunft über seinen Entwicklungsgang zu geben schien, und zwar gerade über die zentral Entdeckung: die Rechtfertigungslehre, die zum zentralen Identitätsmerkmal des Luthertums werden sollte. Was theologisch und konfessionell zentral ist, das scheint sich hier in einem einzigen historischen Moment zu verdichten,2 zumal Luther in anderen Erinnerungen immer wieder die Plötzlichkeit des Ereignisses betont und übrigens auch eine klare Ortsangabe hinzusetzt. Jene Entdeckung soll in einem Turm des Klosters stattgefunden haben,3 den man heute in Wittenberg auch identifiziert zu haben meint. Luther gibt den Ort sogar noch genauer an: „Diese kunst hatt mir der Spiritus Sanctus auf diss Cloaca eingeben.“4 Heiko Augustinus Oberman hat aufgrund dessen geistreiche Spekulationen über den Zusammenhang von Fäkalien und Teufelsaustreibung angestellt,5 aber vermutlich ist er dabei ebenso sehr einer zu wörtlichen Deutung der Textstelle erlegen wie Martin Brecht, der diese Textstelle gegen Oberman mit der bisherigen Deutungstradition nicht unmittelbar darauf deutet, daß Luder auf dem Abort gesessen habe, sondern sie auf ein Turmzimmer oberhalb des Abortes bezieht.6 Schon die Formulierung „diss Cloaca“ macht deutlich, daß Luther hier etwas benennt, wo er sich mit den Hörern der Tischreden gerade gemeinsam befindet – schwerlich die Toilette. Und in einer anderen Tischrede wird denn auch deutlich, was Luther eigentlich meint. Im Lob über die Musik erklärt er nämlich: „So unser Her Gott in diesem leben in das scheißhaus solche edle gaben gegeben hat, was wirdt in jhenem ewigen leben geschehen, ubi omnia erunt perfectissima et iucindissima?“7 Der Gegensatz zum ewigen Leben legt es nahe: „Cloaca“ und „Scheißhaus“ sind nichts als deftige Metaphern für das damit massiv abgewertete irdische Leben.8
Allein schon diese skurrile und von Oberman wohl durchaus mit einem gewissen Augenzwinkern geführte Debatte zeigt aber, in welch emotional hoch besetztem Feld man sich mit dem „Turmerlebnis“ Luthers bewegt: An einem Ort, in einem Moment und in einer Person schien der große Durchbruch festzumachen zu sein. Die große, komplizierte theologische Sachfrage verdichtete sich zu einem symbolischen Akt. Das kam vielen Bedürfnissen entgegen, dem pietistischen Bedürfnis nach einer echten Konversion ebenso wie dem neuzeitlichen Versuch, Geschichte faßbar zu machen.
Aber so schlagend und überzeugend all dies auf den ersten Blick scheint: Der Text enthält, auch wenn man grundsätzlich der Annahme eines solchen Turmerlebnisses folgt, eine Fülle von Problemen. So ist keineswegs klar, von welcher Zeit Luther hier eigentlich redet. Der Text steht im Verlauf eines längeren Abrißes über seine frühen Jahre, so daß die eingangs eingefügte Jahreszahl 1519 verläßlich ist. Aber das Berichtete bezieht sich keineswegs zwingend auf dieses Jahr, denn es entsteht im Erzählduktus eine grammatikalisch höchst eigenartige Formulierung, ein doppeltes Plusquamperfekt: „Inzwischen war ich in diesem Jahr zum Psalter zurückgekehrt […]. Ich war von einer wundersamen Leidenschaft gepackt worden, Paulus in seinem Römerbrief kennenzulernen.“ Die schlichte Frage, die diese Konstruktion aufwirft, ist die, ob beide Plusquamperfekte einander bei- oder untergeordnet sind, ob Luther also lediglich in der Erzählzeit des Plusquamperfekts fortfährt und mithin im Jahre 1519 bleibt, oder ob er mit dem zweiten Plusquamperfekt noch einmal in eine noch fernere Vorzeit zurückgreift, nämlich, wie sich dann angesichts des Inhalts nahelegte, in die Anfangszeit der Römerbriefvorlesung, also 1515. Die Vertreter dieser Position, die „Frühdatierer“, befanden sich lange Zeit in der Mehrheit, ehe Ernst Bizer 1958 mit seinem Buch Fides ex auditu der Spätdatierung zum Durchbruch verhalf, indem er in den Vorlesungen jene oben erwähnte humilitas-Theologie aufweisen konnte9 und sie damit als letztlich noch nicht genuin reformatorisch einstufte.
Damit repräsentierte er einen anderen Zugriff auf die Deutung der reformatorischen Wende Luthers: Nicht allein die Interpretation des späten Selbstzeugnisses sollte leitend für Datierungsfragen sein, sondern die darin enthaltenen Angaben wie auch das Wissen über die reformatorische Theologie sollten es ermöglichen, jenen Durchbruch im Werk des jungen Luder festzumachen, indem man darin reformatorische Positionen identifizierte – oder ihr Fehlen aufwies.
Diese lange Zeit die Diskussion bestimmende Methode wies freilich ihrerseits wiederum eine Fülle von Problemen auf. Eines wurde schon sehr früh von Emanuel Hirsch benannt: daß nämlich jene Rede von der „passiven Gerechtigkeit“, von der iustitia passiva, die man doch nach Luthers spätem Rückblick recht prominent in seinen frühen Werken erwarten müßte, hier erst ab 1525 Bedeutung hat,10 also zu einem Zeitpunkt, zu dem Luther längst klare reformatorische Positionen bezogen hat. So mußte man also nach anderen Anhaltspunkten für reformatorisches Denken suchen als dem hier von Luther selbst als Inhalt seiner reformatorischen Entdeckung Berichteten, beziehungsweise, vorsichtiger ausgedrückt, man mußte das von Luther Gemeinte in anderen Formulierungen als denen, die er selbst hierfür in der Rückschau benutzte, wiederfinden. Damit war nun allerdings ein hermeneutischer Zirkel höchst problematischer Art eröffnet, denn je nachdem, wie man das Reformatorische bestimmte, verschob sich auch der Zeitpunkt, zu dem man dieses Reformatorische in Luthers Werk feststellen könnte. Es war also letztlich die vorab gebildete Konzeption von „dem“ Reformatorischen, die die Fragestellung bestimmte, normatives Denken drang massiv in die Erforschung einer Biographie ein. Und, als wäre dies noch nicht genug, die Methodik wurde auch deswegen höchst problematisch, weil auf diese Weise Luders frühe Texte einer durchgängigen teleologischen Lektüre unterzogen wurden. Man legte einen Zeitpunkt fest, zu dem eine eindeutige reformatorische Position gefunden sein sollte, definierte diese reformatorische Position und fragte dann danach, wo diese Position „schon“ zu finden sei. Das hieß, man folgte dem jungen Luder gerade nicht in seiner allmählichen Genese, sondern betrachtete ihn ganz vom Ende der Entwicklung her und suchte dem eigenen Bild des Reformatorischen entsprechende Formulierungen bei ihm zu finden. Dies geschah oft auch, ohne den literarischen Charakter eines Bibelkommentars ausreichend zu berücksichtigen, der selbstverständlich nicht nur von der Sprache des Kommentators geprägt ist, sondern auch von der der kommentierten biblischen Schrift. Deshalb ist es nicht immer ganz leicht zu sagen, ob deutlich rechtfertigungstheologische Aussagen nun deswegen im Kommentar zu finden sind, weil Luder sie schon von sich aus für theologisch zentral hält, oder sie schlicht deswegen, weil die Theologie des Paulus, liest man sie durch die Brille der Fragestellungen westlich-christlicher theologischer Tradition, so sehr von der Rechtfertigungslehre geprägt ist und sein Interpret gar nicht anders kann, als entsprechende Formulierungen wiederzugeben.
Die Fülle von Problemen, die sich hier stellte, brachte es mit sich, daß ein Konsens in den wesentlichen Fragen der Deutung der reformatorischen Wende Luthers nicht erzielt werden konnte. Die Datierungen schwankten ebenso wie die inhaltlichen Bestimmungen, und die Forschung wurde immer kleinteiliger. In gewisser Weise stellte sie gerade aufgrund der Fülle von Momenten, an denen man meinte, einen „Durchbruch“ Luders festmachen zu können, schon in sich das ganze Konzept eines solchen Durchbruchs in Frage, so daß der bedeutende katholische Lutherforscher Otto Hermann Pesch schon 1966 zu großer Vorsicht riet und vorschlug, Luthers reformatorische Entwicklung terminologisch von einem „Durchbruch“ zu unterscheiden;11 allein so schien es möglich, die theologische Komplexität der Frage nach Luthers theologischer Entwicklung frei von der ungeheuren Reduktion von Komplexität zu halten, die die Schilderung eines einmaligen grandiosen Durchbruchserlebnisses mit sich bringt.
Doch scheint es, daß man das Konzept eines Durchbruchs noch energischer in Frage stellen muß. Denn jenes große Selbstzeugnis steht keineswegs allein. Neben ihm steht ein anderer Bericht über eine plötzliche Bekehrung, der ganz frappierend ähnliche Züge bei doch signifikanten Unterschieden zeigt. Es ist der oben schon angesprochene Bericht über das durch Staupitz vermittelte neue Bußverständnis im Widmungsschreiben zur Erläuterung der Ablaßthesen12:
„Ich erinnere mich, ehrwürdiger Vater, daß bei Deinen so anziehenden und heilsamen Gesprächen, mit denen mich der Herr Jesus wunderbar zu trösten pflegt, zuweilen das Wort ‚Buße‘ gefallen ist. Es erbarmte uns des Gewissens vieler und jener Henker, die mit unerträglichen Geboten eine Beichtvorschrift (wie sie es nennen) vorlegen. Dich aber nahmen wir auf, als ob du vom Himmel herab redetest: daß wahre Buße allein mit der Liebe zur Gerechtigkeit und zu Gott beginne. Was jene für das Ziel und die Vollendung der Buße hielten, das sei vielmehr nur deren Anfang.
Dieses dein Wort haftete in mir ‚wie der scharfe Pfeil eines Starken‘ (Ps 120, 4), und ich fing an, es der Reihe nach mit Schriftstellen zu vergleichen, welche von der Buße lehren. Und das war eine überaus angenehme Beschäftigung. Denn von allen Seiten kamen Worte auf mich zu, fügten sich ganz dieser Auffassung ein und schlossen sich ihr an. Das Resultat war: Wie es früher in der ganzen Schrift nicht Bittereres für mich gab als das Wort ‚Buße‘ […], kann mir jetzt nichts süßer und angenehmer in die Ohren klingen als das Wort ‚Buße‘. Denn dann werden die Gebote Gottes süß, wenn wir erkennen, daß sie nicht bloß in den Büchern, sondern in den Wunden des geliebten Heilands gelesen werden müßen.“13
Der Bericht, der gleich mit der Begegnung mit dem griechischen Testament des Erasmus fortsetzt, weist, neben jenes berühmte große Selbstzeugnis von 1545 gehalten, auffällige strukturelle Parallelen auf, die sich in drei Punkten zusammenfassen lassen:
In beiden Fällen dreht – erstens – sich die Erkenntnis, an die Luther sich erinnert, um genau ein Wort, das früher verhaßt war und nun „süß“ geworden ist: In der Erinnerung von 1545 ist es, passend zu der reformatorischen Kernlehre von der Rechtfertigung des Sünders vor Gott, das Wort iustitia, Gerechtigkeit, 1518 hingegen passend zu dem zu erklärenden Kontext der Ablaßthesen, deren Thema der weitere Kontext dieser Lehre war, eben die poenitentia, Buße.
Zum Zweiten fällt die Bildlichkeit auf, mit der Luther jeweils die Bedeutung der Entdeckung herausstreichen will. Berichtet er 1545, ihm sei es gewesen, als trete er in das Paradies selbst ein, so hörte er 1518 Staupitz, „als ob du vom Himmel herab erschalltest“ („te velut e caelo sonantem“). In beiden Berichten also wird durch die im Kern scheinbar nur immanent philologische Entdeckung die hiesige Welt transzendiert, durchscheinend für ein Jenseits, in dem die eigentliche Wirklichkeit verborgen ist.
Drittens ist dieser momenthafte Offenbarungsvorgang in beiden Fällen Anlaß, noch einmal gründlich an den biblischen Text zu gehen und hier überall Bestätigung für die einmal gefundene erhellende Erklärung zu finden.
Betrachtet man diese frappierenden Ähnlichkeiten, so ist man geradezu gezwungen, das Verhältnis beider Texte zueinander zu untersuchen. Das Problem, das sich stellt, begegnet durchaus vergleichbar auch sonst in philologischen Zusammenhängen. Was hier vorliegt, ist eine klassische Doublette. Aus der philologischen Perspektive ergeben sich für die Deutung einer solchen Doublette recht einfach drei Möglichkeiten: Beide Berichte geben ein jeweiliges reales Geschehen wieder, das heißt, ihre Ähnlichkeit liegt eben an der Ähnlichkeit solcher Geschehnisse. Oder nur einer der beiden Berichte gibt ein reales Geschehen wieder, der zweite variiert dieses Geschehen, verfälscht oder verzerrt es in der Erinnerung.14 Und schließlich die dritte Möglichkeit, platt ausgesprochen und im folgenden differenzierter zu betrachten: Keinem der beiden Berichte entspricht ein tatsächliches Geschehen, jedenfalls nicht in der geschilderten Weise.
Daß die vorliegende Biographie zu dieser dritten Möglichkeit neigt, hat seinen Grund vor allem in der Schwierigkeit der ersten beiden Möglichkeiten. Wollte man im ersten Sinne annehmen, daß beide Erinnerungen ein reales Geschehen wiedergeben, also, vereinfachend gesagt, „richtig“ sind, so bekäme man einige Schwierigkeiten: Die 1518 geschilderte Wende reicht wohl in die frühe Wittenberger Zeit zurück15 und zog sich nach dem Bericht, der ja noch die Begegnung mit dem griechischen Neuen Testament in den Gesamtprozeß einbezog, bis mindestens 1515. Noch 1518 galt dies Luther als die entscheidende theologische Entdeckung, die ihn durchbruchsartig zu einer neuen Sicht der Bibel geführt habe. Damit ist eine Frühdatierung der Entdeckung eines neuen Gerechtigkeitsverständnisses nach dem Text von 1545 praktisch ausgeschlossen: Nimmt man für eine solche Frühdatierung die Vorlesungen, sei es die Psalmenvorlesung oder auch die Römerbriefvorlesung, so kommt man so oder so eben in die Zeit, in der man nach der früheren Erinnerung die poenitentia-Entdeckung zu finden hat, und im Zweifelsfall wird man doch wohl der früheren Erinnerung Recht geben müßen. Für zwei gleichzeitige Entdeckungen von solch umfassender Bedeutung ist schwerlich Raum. Doch auch die Spätdatierung eines „reformatorischen Durchbruchs“, einer punktuellen Entdeckung eines neuen Gerechtigkeitsverständnisses, wäre unter der Voraussetzung, daß beide Berichte korrekt sind, kaum mehr zu halten. Ernst Bizer kommt in die Zeit 1518 oder Anfang 151916 und meint, den Durchbruch an Luthers Auslegung von Ps 5, 9 in den Operationes in Psalmos festmachen zu können.17 Martin Brecht grenzt das Geschehen sogar noch genauer ein: Während er noch im Februar 1518 Luther lediglich auf dem Weg zur neuen Erkenntnis sieht, ist diese in einer Predigt vom 28. März 1518 voll durchgebrochen.18 Sollte dem so sein, wäre der Bericht an Staupitz vom 30. Mai desselben Jahres gänzlich unsinnig. Denn wenn Luther mittlerweile schon die umstürzende Entdeckung einer neuen Gerechtigkeit gemacht haben sollte, warum sollte er noch die Entdeckung eines neuen Bußverständnisses als umstürzend beschreiben? Doch auch wenn man in die zweite Jahreshälfte 1518 oder den Anfang 1519 geht, fällt es schwer, daran zu glauben, daß Luther tatsächlich so kurz nach einem Bericht über eine poenitentia-Wende eine ganz ebenso geartete iustitia-Wende erlebt hätte. Ausschließen wird man das schwerlich können, aber eine biographisch-psychologische Wahrscheinlichkeit ist einer solchen nah beieinander liegenden Doppelung des Geschehens wohl kaum zuzumessen.
Einiges mehr hat die zweite Erklärungsmöglichkeit für sich, also der Gedanke, hier hätten sich zwei Erinnerungen überlagert. Daß dann der zeitlich nähere Bericht die weitaus größere Glaubwürdigkeit verdiente, dürfte außer Frage stehen. Das hieße, Luder hätte eine eindrucksvolle Bekehrung erlebt, die ihm ein neues Bußverständnis und daraus folgend ein neues Bibelverständnis eröffnet hätte. Erst Jahrzehnte später hätte er die Entwicklung so erinnert, daß sich dieses durchbruchsartige Ereignis nicht auf die Buße, sondern auf die Gerechtigkeit bezogen hätte. Wenn man den mauvais goût nicht scheut, daß man bei einer solchen Deutung das theologisch für lutherisches Selbstverständnis entscheidende Ereignis, die Entdeckung der Rechtfertigungslehre, als weniger plötzlich, weniger durchbruchsartig verstehen würde als jene offenkundig innermittelalterliche, von Staupitz verursachte Entwicklung im Bußverständnis,19 so hat eine solche Deutung vor allem eines für sich: Sie könnte die Schwierigkeiten, die sich in den Streitigkeiten um Früh- und Spätdatierung der reformatorischen Entdeckung Luders ranken, mit einem Schlag auflösen, insofern beide Datierungen sich ja aus der komplizierten sprachlichen Anlage des „Großen Selbstzeugnisses“ von 1545 ergeben. Die Frühdatierung, die in die Zeit der ersten Psalmenvorlesung und der Römerbriefvorlesung geht, würde dann eine Erinnerung an den tatsächlichen Zeitpunkt eines „Durchbruchs“ festhalten, während die Spätdatierung sich auf die inhaltlich akzentuierten Aspekte der Rechtfertigungslehre bezöge, die sich tatsächlich wohl erst ab 1518 in Luthers Denken ins Zentrum geschoben zu haben scheinen. Der alte Luther hätte also gerade deswegen bewußt oder unbewußt eine unklare Zeitangabe verwandt, weil sich in seinem Gedächtnis die psychologisch „richtige“ Erinnerung an das frühe Durchbruchserlebnis (zur Buße) verbunden hätte mit der theologisch „richtigen“ Erinnerung an die späte allmähliche Durchsetzung der Rechtfertigungslehre. Eine solche Deutung besitzt offenkundig Charme und ist auch nicht eindeutig widerlegbar. Ihre größte Schwierigkeit besteht wohl darin, daß sie Texte, die auf den ersten Blick ausgesprochen ähnlich sind, gegeneinander ausspielt, den einen als richtiger als den anderen einordnen muß.
Dies ist angesichts der zeitlichen Distanz zwischen beiden Texten möglich, aber wirft zumindest die Frage auf, ob man nicht, dritte Variante, den Deutungsansatz bei der Beobachtung der literarischen Entsprechung beider Texte suchen sollte. Beides sind Bekehrungsberichte, gehören also einem literarischen Genre an, das der Selbstlegitimation durch Re-konstruktion der eigenen Biographie dient.20 Es handelt sich um autobiographische Texte im strengen Sinne und damit um solche, die die Vergangenheit immer unter der Perspektive der Begründung der eigenen Gegenwart darstellen.
Insofern enthält diese Erinnerung zweifellos eine Erfahrungsdimension, aber schon in dieser Erfahrungsdimension oder in der rückschauenden Interpretation verkürzt sie den komplexen Weg zu einer neuen Erkenntnis in radikaler Weise. Die eigene allmähliche Entwicklung so punktuell zu verdichten, dürfte auch deswegen für Luther plausibel gewesen sein, weil solche autobiographischen Texte deutlich einem vorgegebenen Muster folgen. Hierauf hat schon Heiko Augustinus Oberman verwiesen, der von einer „Turmerlebnis-Tradition“ in der Literatur des Mittelalters sprach.21 Diese Tradition, die natürlich nur aufgrund der Spezifik Luthers als „Turmerlebnis“-Tradition bezeichnet werden kann, ansonsten eher als Tradition von Bekehrungsberichten beschrieben werden sollte, fußt bei dem Prototyp der Bekehrung nach dem Apostel Paulus und der biblischen Zeit: Augustin von Hippo, dem Ordenspatron Luders. Er berichtet in seinen Confessiones in einer berühmten Szene, die Luder schon während der Abfassung seiner ersten Psalmenvorlesung bekannt war,22 davon, wie er im Garten eine Stimme hörte, die in einem Singsang „Nimm und lies“ vor sich hin trällerte und ihn so auf den biblischen Text, einen Ausschnitt aus dem Römerbrief, stoßen ließ. Dass diese Bekehrung ihrerseits diskutierbar ist und allenfalls eine in einer Reihe von „Bekehrungen“ Augustins darstellt,23 unterstreicht nur die Schwierigkeit im Umgang mit diesen literarischen Texten beziehungsweise das Dilemma, in das man kommt, wenn man in der Realität nach einer einlinigen Entsprechung zum Berichteten sucht.
Erkennt man aber die literarischen Regeln, denen solche Bekehrungsberichte folgen, so ist man von dem Zwang befreit, nach der Realität des jeweils berichteten punktuellen Durchbruchsereignisses zu suchen,24 und kann die Berichte gleichwohl – oder gerade erst – ernst nehmen. Verdichtet sich in ihnen doch autobiographisch-punktuell ein Geschehen, das der Berichtende zum jeweiligen Zeitpunkt als grundlegend bestimmend für seine gegenwärtige Existenz wahrnimmt. Das heißt: Für das Jahr 1518 gilt, daß Luther die Entdeckung eines neuen Bußverständnisses als schlechterdings konstitutiv für seine gegenwärtige Existenz wahrnahm. Entsprechend rekonstruierte er seine Vergangenheit so, daß diesem theologischen Gewicht ein biographisch-psychologisches entsprach, dessen Bedeutung durch die Unerwartetheit, den Jenseitsbezug und den umfassenden Erschließungscharakter herausgestrichen wurde. 1545 aber sah er die Rechtfertigungslehre als schlechterdings konstitutiv für seine theologische Existenz an und rekonstruierte nun dies autobiographisch.
Da für beide Ereignisse nur diese autobiographischen Rekonstruktionen vorliegen, die zeitgenössischen Quellen aber über plötzliche Durchbruchserfahrungen schweigen,25 liegt die Folgerung nahe, daß ein psychologisch greifbarer reformatorischer Durchbruch nicht stattfand. Wohl aber gab es, und genau dafür wird der Blick dann frei, eine ganz allmähliche Entwicklung, die Luder, der sich bald Luther nennen sollte, Stück für Stück über seinen mittelalterlichen Bezugsrahmen hinausführte, die aus dem spätmittelalterlichen Mönch und Frömmigkeitstheologen den Reformator machte. Versucht man, diese allmähliche Entwicklung an jenen Ausschließlichkeitsformeln festzumachen, die die reformatorische Theologie charakterisieren sollen: Sola gratia, Solus Christus, Sola scriptura und Sola fide, so wird erkennbar, wie sich das durch diese Formeln beschriebene komplexe Gesamtgefüge, das erst in seinem Miteinander und nicht in jeder einzelnen Formel die reformatorische Theologie ausmacht, allmählich formt. Auf das Solus Christus wurde Luder schon etwa 1513 von Staupitz ausgerichtet, seine zunehmende Augustin-Lektüre läßt in der Zeit um 1516/7 eine klare Betonung des Sola gratia erkennen. Als wichtige Station zur Entwicklung des Sola-fide-Prinzips wird man – auch wenn das Konzept hier noch nicht in ausgereifter Form dasteht – die Heidelberger Disputation 1518 sehen können, während das Sola-scriptura-Prinzip klare Ausformung – und dies zunächst durch Melanchthon – erst 1519 erfährt. Damit ist dann das geformt, was reformatorische Theologie genannt werden kann und im Jahre 1520 in klarer Form in den sogenannten „reformatorischen Hauptschriften“, die von den genannten Grundüberzeugungen getragen sind, vor die Öffentlichkeit gestellt wird. Zu einer Reformation kommt es erst, wenn diese Theologie zur Leitlinie gesellschaftlicher Veränderungen wird, und erst mit diesem Vorgang der zwanziger Jahre des 16. Jahrhunderts erreicht Luther dann jene grundlegende historische Bedeutung, die ihm bei allem Streit um Zuordnung und Gewicht im Einzelnen bis heute den Platz in den Geschichtsbüchern sichert.