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II.

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Die Forschungsliteratur zur Theologie Martin Luthers, der Entwicklung seines Denkens vor dem religionskulturellen, politischen und sozialen Hintergrund Deutschlands im 16. Jahrhundert, ist von einem Einzelnen kaum mehr zu überschauen.11 Auch der vorliegende Band kann und will keinen Gesamtüberblick über die Lutherforschung der jüngsten Gegenwart leisten.12 Er bietet eine Auswahl von repräsentativen Beiträgen zu ausgewählten Themen der Theologie des Reformators in ihrem geistesgeschichtlichen Kontext. Die Beiträge setzen die Forschungsgeschichte des 20. Jahrhunderts voraus, nehmen zu deren Thesen und Fragen Stellung. Verständlich werden die neuere Auseinandersetzung mit dem Wittenberger Theologen und die hier gesetzten Akzente erst vor dem Hintergrund der Interpretationsgeschichte seines Werkes.13

Grundlegend für alle neuere Beschäftigung mit dem theologischen Denken des Reformators ist das 1921 erschienene Buch Karl Holls mit dem schlichten Titel Luther.14 Es setzte, auch wenn es nicht unumstritten blieb,15 die Standards für alle weiteren Rekonstruktionen, indem es eine werkgeschichtliche Perspektive mit einer systematischen Fragestellung verband. Der Berliner Kirchenhistoriker rückte die Rechtfertigungslehre in den Fokus seiner Deutung Luthers. Diese interpretierte er – mit einem tendenziellen Zurücktreten der Christologie – strikt theozentrisch. In der Rechtfertigung erkennt Gott den Menschen nicht nur an, er tritt vielmehr mit ihm, der seiner unwürdig ist, in völlige Gemeinschaft.16 Der Ort der Begegnung von Gott und Mensch ist das Gewissen. Es bildet die Grundlage von Luthers Religionsverständnis.17 Holls Lutherbuch wurde für eine ganze Generation von Forschern zum Maßstab der eigenen Auseinandersetzung mit dem Wittenberger Theologen. Seine zahlreichen Schüler, u.a. Emanuel Hirsch, Heinrich Bornkamm und Hanns Rückert, führten seinen Ansatz weiter, setzten jedoch eigene Akzente.18 Hirsch, dem wir wichtige Beiträge zur Theologie des Reformators verdanken,19 betonte bei gleichem Ansatz wie sein Lehrer stärker die systematische Funktion der Christologie für das Verständnis der Rechtfertigung. Erich Vogelsang, ein Schüler Hirschs, hat diese Forschungsperspektive dann anhand der frühen Vorlesungen Luthers durchgeführt.20

Für die Lutherforschung bedeutete der Zweite Weltkrieg eine Zäsur. Das hängt mit der von Holl angestoßenen Lutherrenaissance zusammen.21 Einige Schüler Holls wie Hirsch und Rückert standen dem Nationalsozialismus äußerst nahe, und andere, wie die in der Tradition des Erlanger Neuluthertums stehenden Theologen Werner Elert und Paul Althaus, konstruierten vor dem Hintergrund ihrer Lutherdeutung theologische Modelle gottgewollter Schöpfungsordnungen.22 Im „Volk“ und in der Schicksalsstunde der nationalen Revolution vernahmen sie die Stimme Gottes. In diesen Tenor konnten freilich auch dialektische Theologen wie Friedrich Gogarten einstimmen.23 Diese fatalen Verbindungen von Luther- und theologischen Zeitdeutungen führten nach 1945 zu einer Neuausrichtung der Forschung. Signifikant hierfür sind die Luther-Studien des Erlanger Theologen Wilfried Joest, der sich um einen Ausgleich der Theologie des Wittenbergers mit derjenigen Karl Barths bemühte.24 Eine Rekonstruktion der Genese der Theologie Luthers vor dem Hintergrund der Wort-Gottes-Theologie des Baseler Systematikers nahm auch Ernst Bizer vor. In seiner für die Forschungsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg einflußreichen Schrift Fides ex auditu erklärte er, das eigentlich Reformatorische sei das Verständnis des Wortes Gottes als Gnadenmittel.25 Zu dieser Einsicht sei der Wittenberger indes erst 1518 oder gar Anfang 1519 gelangt und nicht, wie die ältere Forschung annahm, bereits im Umkreis der ersten Psalmenvorlesung von 1513. Mit seiner These stieß Bizer eine Kontroverse über Luthers reformatorische Entdeckung an, welche die Debattenlage seit den 1960er Jahren dominierte.26 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es auch in der römisch-katholischen Theologie zu einer neuen Sicht des Reformators sowie zu einer intensiven Beschäftigung mit seinem Werk. Forscher wie Erwin Iserloh,27 Otto Hermann Pesch28 u.a. legten wichtige Studien vor, in denen die Kritik des Wittenbergers an den Mißständen der damaligen Kirche als berechtigt anerkannt oder dessen Theologie in ein Gespräch mit der Thomas von Aquins gebracht wurde.

Neue Akzente setzte in der Lutherforschung nach dem Krieg vor allem Gerhard Ebeling. In seiner Dissertationsschrift Evangelische Evangelienauslegung von 1942 rückte er die Hermeneutik des Reformators in den Fokus, deren werkgeschichtliche Genese er vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Debatten minutiös rekonstruierte.29 Ähnlich wie bereits Holl verknüpfte der in Tübingen und Zürich lehrende Theologe einen werkgeschichtlichen Zugriff mit systematischen Fragestellungen. Durch eine Vielzahl von Einzelstudien zur Theologie Luthers,30 einer prägnanten Einführung in dessen Denken31 sowie anderen Beiträgen prägte er die weitere Forschung nachhaltig. Grundlegende Untersuchungen zu Einzelthemen aus dem Œuvre des Wittenberger Reformators wurden von den Schülern Ebelings vorgelegt.32

Vor dem angedeuteten forschungsgeschichtlichen Hintergrund erklärt sich das spezifische Profil der Auseinandersetzung mit Luther im 21. Jahrhundert.33 Es zeichnet sich vor allem durch eine Historisierung des Denkens des Wittenberger Reformators aus. Sein geistes-, sozial- und wissenschaftsgeschichtlicher Kontext ist in der Literatur der letzten Jahre stärker in den Fokus des Interesses getreten.34 Themen, welche in der Debatte des 20. Jahrhunderts aufgrund theologischer Voraussetzungen und Überzeugungen in den Hintergrund gedrängt wurden, wie die Mystik und deren Einfluß auf das Denken des Wittenberges, werden nun von der Forschung intensiv bearbeitet.35 Die Kontinuität und Diskontinuität seines Denkens zur mittelalterlichen Theologie wird in der neueren Literatur anders gewichtet. Dadurch wird die Theologie des Wittenbergers nicht mehr als ein gleichsam offenbarungshafter Neuansatz verstanden. Hierin schlägt sich das Zurücktreten der konfessionellen Polemik im späten 20. Jahrhundert nieder. Auch die für die ältere Forschung grundlegende Überzeugung, Luther hätte seit der zweiten Vorlesung über den Psalter mit der mittelalterlichen Lehre von dem vierfachen Schriftsinn auch die allegorische Auslegung der Bibel verabschiedet, welche vor allem Ebeling in seinen Untersuchungen zur Hermeneutik des Reformators noch einmal erneuerte, gerät ins Wanken.36 Und schließlich erfährt das Spätwerk des Reformators eine neue Aufmerksamkeit. Es stand lange Zeit im Schatten des jungen Theologen, und nur wenige Interpreten nahmen sich der späten Texte an.

Martin Luther

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