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Martin Luther im Spiegel der neueren Forschung. Eine Einführung Christian Danz I.
ОглавлениеDer ehemalige Mönch Martin Luther gehört ohne Zweifel zu den wirkungsmächtigsten Gestalten der europäischen Geschichte. Seine Kritik am mittelalterlichen Ablaßwesen, die sich daran entzündende Reformation sowie Kirchenspaltung führten zu einer Koexistenz von widerstreitenden Auffassungen des wesentlich Christlichen mit folgenreichen Wirkungen auf die europäische Kultur.1 Letztere gehen weit über die religiösen Auffassungen des Christlichen im engeren Sinne hinaus und betreffen sowohl soziale als auch politische, rechtliche und kulturelle Dimensionen. Die durch die Reformation bedingte konfessionelle Differenzierung stellte vor die Herausforderung, sowohl die überkommenen religionspolitischen als auch die religionsrechtlichen Rahmenbedingungen neu zu bestimmen. Dies wiederum beförderte im Zusammenspiel mit anderen Faktoren eine Transformationsdynamik, welche die moderne Welt mit hervorbrachte.2 Die Folgen des Werkes des Wittenberger Theologen sind vielschichtig. Nicht minder unterschiedlich fallen die Deutungen seiner Gestalt und seines Denkens aus. Für die einen erneuerte er den wahren Sinn des Christentums, für die anderen zerstörte er die Einheit der Kirche. Wieder andere sehen in der Lutherischen Reformation die Morgenröte der Neuzeit anbrechen, welche das dunkle Mittelalter weit hinter sich läßt. Gegenläufig hierzu kann der Wittenberger Reformator auch ganz in den Horizont des Mittelalters eingerückt werden oder gleich über allen Zeiten zu stehen kommen. Ihren Grund haben die unzähligen Luther-Bilder nicht nur in den theologischen Überzeugungen ihrer Schöpfer, sondern auch darin, daß die Haltung, die man gegenüber der Reformation einnimmt, deren Wertung mitbestimmt.
Martin Luther wurde am 10. November 1483 in Eisleben geboren, wo er auch am 18. Februar 1546 starb.3 1501 begann er mit dem Studium der Jurisprudenz und ab 1507 mit dem der Theologie an der Universität Erfurt. Dem Wechsel der Studienrichtung waren das Gewitter bei Stotternheim im Juli 1505 sowie der Eintritt in das Kloster der Augustiner Eremiten vorangegangen. An der Erfurter Universität von dem spätmittelalterlichen Nominalismus geprägt, setzte er 1509 seine Studien an der kurz zuvor gegründeten Universität Wittenberg fort, wo er mit dem Baccalaureus biblicus den untersten akademischen Grad erlangte. Nach einem weiteren Studienaufenthalt in Erfurt und einer im Auftrag seines Ordens erfolgten Romreise wurde Luther am 18./19. Oktober 1512 in Wittenberg zum Doktor der Theologie promoviert und übernahm noch im selben Jahr die Professur seines Beichtvaters und Ordensoberen Johannes von Staupitz. Der junge Doktor der Theologie hielt seine erste Vorlesung über den Psalter. Nach den Dictata super psalterium (1513–15) las er über den Römerbrief (1515–16), den Galaterbrief (1516–17), den Hebräerbrief (1517–18) sowie ein zweites Mal über die alttestamentlichen Psalmen (1518–21). In diesen Jahren formierte er im Kontext von Kloster und Universität seine theologischen Grundanschauungen um. Den Ausgangspunkt hierzu bildete seine Kritik an dem mittelalterlichen Bußsakrament.4 Sie begegnet bereits in der ersten Psalmenvorlesung. Gegenüber dem Bußsakrament der mittelalterlichen Kirche und seinen drei Bestandteilen – Reue (contritio cordis), Beichte (confessio oris) und Genugtuung (satisfactio) – nimmt der junge Theologieprofessor eine Innenverlagerung vor: In dem inneren Geschehen der Buße erfaßt sich der Einzelne allererst als Sünder vor Gott. Sie ist also kein sakramentaler Akt, sondern, wie es prägnant in den Ablaßthesen von 1517 heißt, Lebensbuße.5 Verbunden ist die Herausbildung des neuen Bußverständnisses mit einer Umformung des überlieferten Sündenverständnisses6 sowie der mittelalterlichen Praxis der Schriftauslegung.7
Eine komplexe, keineswegs einlinig verlaufende Entwicklung des theologischen Denkens von Luther vollzog sich in den Jahren zwischen der Übernahme der Wittenberger Professur und der Versendung der Thesen über die Kraft des Ablasses an Erzbischof Albrecht von Brandenburg am 31. Oktober 1517. Die genannte Thesenreihe markiert den ‚äußeren Durchbruch‘ der Reformation. Sie widmeten sich mit dem Ablaß einem eher randständigen theologischen Thema, lösten jedoch geradezu eine Lawine aus, deren Konsequenzen ihr Verfasser wohl selbst weder beabsichtigte noch überschaute. Die ‚Sache Luthers‘ kam durch die Thesen ins Rollen und war, bedingt durch sehr unterschiedliche Konstellationen wie die politischen Rahmenbedingungen (die anstehende Kaiserwahl), eine ablaßkritische Zeitstimmung und anderes, nicht mehr aufzuhalten. Anfang Januar 1521 wurden Luther und seine Anhänger per päpstlicher Bulle mit der Folge einer nun einsetzenden Konfessionalisierung des abendländischen Christentums exkommuniziert. Reichsrechtliche Geltung erhielten die neu entstandenen protestantischen Stände freilich erst durch den Augsburger Religionsfrieden im Jahre 1555. Der Versuch einer inneren Reformierung der Kirche, die Beseitigung von Mißständen, schlug in eine konfessionelle Neubildung um. An deren Neuordnung arbeitete Luther beharrlich seit den 1520er Jahren. Aus dieser Notwendigkeit resultierten die beiden Katechismen aus dem Jahre 1529 oder die Schmalkaldischen Artikel von 1536/37, die einzige Bekenntnisschrift aus seiner Feder. Zahllose innerreformatorische Streitigkeiten erforderten in jenen Jahren die Stellungnahme des Wittenberger Theologen. In ihnen verschiebt sich, bedingt durch diverse theologische und politische Konstellationen, seine Position. Grundlegende Werke, wie die 1525 erschienene Schrift De servo arbitrio, in der sich Luther mit Erasmus von Rotterdam auseinandersetzt, verdanken sich solchen Anlässen. Gleiches gilt für die großen Abendmahlsschriften gegen Ulrich Zwingli oder seine Stellungnahmen zum Bauernkrieg. Allerdings neigt der Wittenberger Theologe in den Auseinandersetzungen mit seinen zahllosen Gegnern häufig dazu, sie als Schwärmer zu denunzieren. Hierzu dient das schon früh in der Konfrontation mit der römischen Kirche im Anschluß an 2 Thess 2, 3f. ausgebildete Argument, sie erheben sich über das in der Schrift niedergelegte Wort Gottes und ersetzen es durch bloße menschliche Willkür.
Das theologische Werk des Wittenbergers ist aufgrund der Situationsbedingtheit seiner Schriften äußerst komplex und stellt den Interpreten vor nicht geringe Herausforderungen. Dies dokumentiert nicht zuletzt die Forschungsgeschichte zu seinem Werk. Bereits 1914 notierte Heinrich Boehmer, es „gibt so viele Luthers, als es Lutherbücher gibt“.8 Das liegt vor allem daran, daß im Protestantismus die Lutherdeutung stets auch eine Art Selbstvergewisserung der eigenen konfessionellen Identität darstellt. Sodann prägt der jeweilige theologiegeschichtliche Problemhorizont des Forschers das Verständnis des Reformators immer mit und beeinflußt die Auswahl der Themen aus dessen Werk, welche man als für die eigene Gegenwart bedeutungsvoll erachtet. Jede Zeit schafft in gewisser Weise ihr eignes Luther-Bild. Das macht verständlich, daß die Interpretationen des Wittenberger Theologen sehr divergent ausfallen. Hinzu kommen systematische Interpretationsprobleme, die sich aus dem Charakter der Texte des Wittenberger Theologen ergeben. Luther hatte an der Wittenberger Universität die lectura in biblia inne. Entsprechend diesem Lehrauftrag hielt er seit seiner Übernahme der Professur im Jahre 1513 bis zu seinem Tod 1546 mit Unterbrechungen Vorlesungen über biblische Bücher, und zwar vornehmlich über alttestamentliche. Seine Theologie und seine neue, auf den Begriff des Glaubens zugespitzte Deutung des Christentums hat er in seinen exegetischen Vorlesungen vorgetragen. Einen anderen Charakter haben seine zahllosen Stellungnahmen, Gelegenheitsschriften und Predigten. Diese Texte erschließen sich – ebenso wie seine akademischen Vorlesungen – allein in ihrem situativen Kontext, der spezifische Akzentsetzungen erforderte. Als eine weitere Gattung von Texten kommen die Disputationen in Betracht. Vor allem in den späteren Disputationen zur Christologie aus den Jahren 1539 (Verbum caro factum est) und 1540 (De divinitate et humanitate Christi) wird diese im Unterschied zu den Texten des jungen Theologen im Anschluß an die altkirchliche Bekenntnisbildung geradezu ‚schulmäßig‘ abgehandelt. Der jeweilige Kontext der genannten Textgattungen wirft die Frage auf, wie sie in einen konsistenten systematischen Zusammenhang gebracht werden können, der ihrer jeweiligen werkgeschichtlichen Eigenart Rechnung trägt.9 Hieraus resultieren die methodischen Probleme von systematischen Darstellungen der Theologie Luthers. Sie tendieren dazu, die Komplexität der werkgeschichtlichen Entwicklung seines Denkens auszublenden. Das Darstellungs- und Interpretationsproblem läßt sich auch nicht dadurch lösen, daß man, wie Bernhard Lohse in seiner Theologie des Reformators, einen werkgeschichtlichen mit einem systematischen Zugang einfach kombiniert.10