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5. Zum Dialog in der politischen Praxis der Gegenwart: Deliberation vs. A(nta)gonismus
ОглавлениеMit dem abrupten Wechsel vom literarischen Dialog der Vergangenheit zu dem der politischen Praxis in der Gegenwart erfolgt einerseits ein radikaler Wechsel der Kategorie, andererseits aber auch eine harte Ellipse, denn die Literaturgeschichte des Dialogs endet natürlich nicht mit Petrarca, sie hätte vor allem im Humanismus und in der Aufklärung noch eine Fülle glänzender Vertreter aufzuweisen. Gleichsam in einer praeteritio sei nur auf Erasmus von Rotterdam hingewiesen, der in seiner Neuübersetzung des Neuen Testaments den lógos vom Beginn des Johannesevangeliums nicht wie einst Hieronymus mit verbum, sondern mit sermo wiedergibt, weil der Vater durch seinen Sohn und also im „Gespräch“ zu uns Menschen spreche. Und Erasmus selbst hat mit einer Fülle von Dialogen weltliterarische Geltung erlangt, allen voran mit den „Colloquia familiaria“, die in mehreren Fassungen erschienen und eine gewaltige Wirkung über mehrere Jahrhunderte erzielten.
Anlass für die nun folgenden Überlegungen ist, wie eingangs erwähnt, der Wunsch der Veranstalter dieser Tagung, meine fachlichen Kenntnisse zum Thema mit meinen konkreten Erfahrungen als Politiker in den letzten Jahren (Wissenschaftsminister von 2011 bis 2013, danach Abgeordneter zum Nationalrat auf einem Mandat der Österreichischen Volkspartei bis 2017) in Bezug zu bringen. Ich habe mich dazu schon einmal in einer ähnlichen Konstellation geäußert, im Juli 2015 im Eröffnungsvortrag einer internationalen Rhetoriktagung in Tübingen7, und habe dort auf die Diskrepanz zwischen der Gattungsbezeichnung der politischen Rede als genus deliberativum, also Argumente „abwägend“, und ihrer praktischen, jeglicher Argumentation meist unzugänglichen Form hingewiesen. Meine persönliche Erfahrung von den Pseudodebatten in den Ausschüssen und im Plenum des österreichischen Parlaments, wo über längst anderswo Entschiedenes nochmals nicht nur ausgiebig, sondern auch mit großer Heftigkeit gestritten wird, lässt sich durch wissenschaftliche Untersuchungen8 und sauber recherchierte Reportagen9 stützen, die meinen eigenen Eindruck ein Stück weit verallgemeinern.
Was für die „argumentierend“ genannte Gattung der politischen Rede gilt, trifft in gleicher Weise auch auf politische Debatten zu: Sie sind fast immer „Scheindebatten“10, da jeder Gesprächsteilnehmer in seiner Position verharrt.
Dieses Phänomen scheint aber nicht auf Parlamentsdebatten beschränkt zu sein, sondern generelles Kennzeichen der gegenwärtigen Gesprächs(un)kultur vor allem im Bereich der Politik zu werden. Dazu gibt es inzwischen eine Fülle von Beobachtungen und Erklärungsversuchen. Manfred Kraus hat die internationale Debatte zu dem im Wachsen gesehenen Phänomen des „deep disagreement“ eines „dialogue des sourdes“ zusammengefasst, in dem man einander nicht mehr zuhöre, daher aneinander vorbeirede und nur bestrebt sei, der „eigenen Position Gehör“ zu verschaffen.11 Ziemliche Aufmerksamkeit darin hat z.B. der US-amerikanische Psychologe Jonathan Haidt gefunden, der die zunehmende Dialogunfähigkeit zwischen links und rechts evolutionär auf die nicht hintergehbare Dominanz der moralischen Intuition über das strategisch-rationale Denken zurückführt.12 Mit vielen anderen ortet Olaf Kramer die Ursache für die Ablösung echter durch Pseudodebatten in der „Kolonisierung der Politik durch die Medien“13, weshalb Inszenierung und Symbolisierung dominierten. Ohne Zweifel hat es hier zuletzt Verschärfungen gegeben, allerdings sind solche Phänomene zu allen Epochen feststellbar und in ihren Grundzügen nicht nur zeitlos14, sondern dem Geschäft der Politik inhärent. Sie muss sich eben immer auch darstellen, um in der sie betreffenden Gesellschaft wirksam zu werden, und keine Verfassung bedarf der Kommunikation und damit der Medien mehr als gerade die Demokratie. Weil sie damit immer und heute zunehmend in Gefahr läuft, das Anpreisen ihrer Ware über diese selbst zu stellen, schwindet das Vertrauen in ihr Funktionieren.
Die Verfassungsform der Demokratie und ihr Wesensmerkmal der argumentierenden Rede durften sich allerdings zu keiner Zeit ungeteilter Wertschätzung erfreuen. Die Antike hat in Theorie und Praxis bekanntlich den ‚Demos‘ weithin geringgeschätzt und seine politische Mitwirkung oder gar Alleinherrschaft deswegen selten gutgeheißen. Das ist natürlich auch der Überlieferungslage und den zumeist aus der Oberschicht stammenden Autoren geschuldet, so schon in dem frühesten uns erhaltenen einschlägigen Text, einer anonymen „Athenaion politeia“ aus dem 5. Jahrhundert v. Chr., wo der als „alter Oligarch“ titulierte Verfasser mit nahezu grimmiger Zustimmung die Folgerichtigkeit, aber für die reicheren eben auch abträglichen Einrichtungen der jungen athenische Demokratie schildert. Das setzt sich fort in Platons Staatsmodell, in dem nicht das Volk, sondern eine der menschlichen Seele analoge Vernunftinstanz, die Philosophen, zur Herrschaft bestimmt sind, und endet in Ciceros „De re publica“, wo die Demokratie die „am wenigsten zu billigende“ Einzelverfassung, die Monarchie hingegen die beste sei, am allerbesten allerdings eine aus den Einzelverfassungen (als dritte kommt noch die Aristokratie hinzu) gemischte, wie sie Rom im Laufe der Geschichte entwickelt habe.
In der modernen westlichen Welt steht nach den totalitären Katastrophen noch des 20. Jahrhunderts der Vorrang der demokratischen Staatsverfassung weithin außer Frage. Debattiert wird allerdings etwa über ihre Reichweite und ihre Ausgestaltung. Die geringe tatsächliche Partizipation des ‚Demos‘ am politischen Geschehen stellt z.B. die „Elitetheorie“ heraus, zu deren Hauptvertretern der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter zählt.15 Er hat in seinem Werk „Capitalism, Socialism, and Democracy“ von 1942 (auf deutsch 1947 erschienen, 8. Auflage von 2005) die Demokratie lediglich als einen Weg zu einer funktionsfähigen Regierung gesehen, die dann eben bis zur nächsten Wahlentscheidung dezidiert ohne die Mitwirkung des Volkes agiert. Ansonsten aber gehe von der Demokratie keine prägende Gestaltung der Gesellschaft aus, indem sie ihr etwa Gleichheit oder Freiheit oder wirkliche politische Teilhabe vermittle. Diese stehe immer nur einer Elite zu. Elitetheoretiker erklären mit dieser Konstellation auch das weitverbreitete Desinteresse an Politik und die niedrige und immer noch sinkende Wahlbeteiligung in entwickelten Demokratien und heißen sie als Zeichen von Zufriedenheit mit den je gegebenen Zuständen sogar gut.
Was die Ausgestaltung der demokratischen Verfassung betrifft, steht seit langem insbesondere die repräsentative Form und deren Wesensmerkmal, das Parlament, in der Kritik. In der aktuellen österreichischen Debatte äußert sich diese etwa darin, dass mancherorts, insbesondere in der FPÖ vor ihrer Regierungsbeteiligung, eine Stärkung von Elementen einer ‚direkten‘ Demokratie verlangt wird. Als Musterland wird hier immer wieder die Schweiz bemüht, wo dafür allerdings eine ganz andere politische Kultur mit starker Tradition zur Verfügung steht.
Zu der Debatte um die Formen der politischen Auseinandersetzung und zum Parlamentarismus, und damit kehre ich zum Thema des Dialogs und zu meiner einleitenden Behauptung von seinem Ende zurück, hat kürzlich meine Innsbrucker Kollegin Marie-Luisa Frick eine übersichtliche Darstellung der unterschiedlichen Positionen vorgelegt und Vermittlungsvorschläge gemacht.16 Danach kann man zwei Grundrichtungen ausmachen, eine, die an die Kraft und Sinnhaftigkeit von deliberativer Rede und argumentierender Diskussion glaubt, und eine gegenteilige, in der die stete Unversöhnlichkeit politischer Gegensätze und damit letztlich die Unmöglichkeit eines Dialogs behauptet wird.
Zu den bekanntesten Vertretern der ersten Gruppe kann man etwa Walter Jens, Hannah Arendt, Jürgen Habermas oder John Rawls zählen. Frick17 unterscheidet dabei zwischen dem eher strukturellen Ansatz von Rawls, der darauf hofft, dass man unter Ausblendung persönlicher Befindlichkeiten und daraus möglicherweise resultierender Vorteile zu einer gerechten Gesellschaftsordnung gelangen kann, und dem eher substanziellen von Habermas, der auf den freien und allen zugänglichen, von der Vernunft geleiteten Diskurs setzt. Dieser würde letztlich immer zu rationalen und daher für alle tragbaren Entscheidungen führen.
Wir kennen dieses optimistische Vertrauen in die Vernunft als entscheidender Instanz des Menschen, ob individuell oder kollektiv, ja schon aus der antiken Philosophie, wo es etwa Platon oder die Stoa kennzeichnet, und wir wissen von dort, dass es ein Konzept von nur begrenzter Tragweite sein kann, weil es eben immer nur einen Teilaspekt des Menschlichen erfasst. In der gegenwärtigen politischen Diskussion wird ihm vor allem vorgeworfen, dass es den nicht zu gewinnenden politischen Gegner der Unvernunft bezichtigt, dessen Position dann eben von anderen Kräften, z.B. von Emotionen bestimmt ist. Oft bemüht werden da derzeit ‚Ängste‘ wie die Xeno- oder die Islamophobie, und der betreffende Diskurs gleitet dann leicht ins Moralische und unterscheidet zwischen der guten eigenen und der schlechten anderen Position. Damit aber endet der Dialog, da aus dem politischen Gegner der minderwertige oder eben sogar böse ‚Rechtsextreme‘, ‚Populist‘ und ‚Rassist‘ wird. Aus eigener politischer Erfahrung kann ich z.B. beisteuern, dass es etwa völlig aussichtslos war, Mitglieder unseres Koalitionspartners in der Regierung mit rationalen Mitteln von der Notwendigkeit eines Zugangsmanagements für überlaufene Fächer an der Universität zu überzeugen, wenn ihnen das Dogma vom ‚freien Hochschulzugang‘ über alles ging.
Der hier zugrundeliegende Sachverhalt, dass es in der Politik eben kaum je um reine Rationalität, immer aber um Interessen geht, hinter denen viele Motive, von ehrenwerter Ideologie bis zu schlichter Gewinnsucht, stehen können, lässt eine Alternative zur Deliberation plausibel erscheinen, die nach Frick als „agonistische“ oder „radikale Demokratietheorie“ zu bezeichnen wäre.18
Mit dem ersten dieser beiden Termini operiert die Theorie von Chantal Mouffe.19 Sie entwickelt ihn aus früheren skeptischen Ansätzen, vor allem aus dem „Antagonismus“ von Carl Schmitt, der u.a. gegen Hans Kelsen und andere Verteidiger der parlamentarischen Demokratie gerichtet war. Wie er und andere Vorgänger und Zeitgenossen sieht auch Mouffe in der Hoffnung auf rational und dialogisch lösbare politische Konflikte eine Utopie, anders als er meint sie aber, dass diese nicht in einen antagonistischen Kampf von Feinden, sondern in eine „agonistische“ Auseinandersetzung von „Kontrahenten“ münden sollten, die sich nach von beiden Seiten akzeptierten Regeln abspielt.20
Dieser kurze und notgedrungen oberflächliche Ausflug in die aktuelle Debatte zu den Möglichkeiten des politischen Dialogs scheint die Berechtigung, von seinem „Ende“ zu sprechen, zu verstärken. Gleichwohl glaube ich nicht wirklich daran und hoffe auf Mittelwege zwischen der wohl zu optimistischen Hoffnung auf die Macht des rationalen Gesprächs und deren radikaler Leugnung.