Читать книгу FILM-KONZEPTE 65 - Christian Petzold - Группа авторов - Страница 7
Motive und Narrative Liebe in Zeiten der Umbrüche
ОглавлениеDas leitende Motiv, man möchte eher sagen Narrativ, in allen Filmen Petzolds ist das der Liebe und ihrer Gestalten. In CUBA LIBRE (1996) und BEISCHLAFDIEBIN (1998) ist es eine vorgetäuschte, ökonomisch verzerrte oder instrumentalisierte Liebe. Das Terroristenpärchen in DIE INNERE SICHERHEIT (2000) ist konservativ in der Beziehung zueinander, bei allen angedeuteten, vermeintlich revolutionären Ausbruchsversuchen. In TOTER MANN (2001) wird Liebe wiederum simuliert, um Rache zu nehmen am Peiniger, wobei Leyla (Nina Hoss) von diesem Spiel und ihren Leidenschaften infiziert wird, was sie sympathisch macht. Und Blum (Sven Pippig) trinkt das Gift ganz bewusst aus.11 GESPENSTER (2005) und YELLA (2007) handeln von einer Sehnsucht nach Liebe und deren Komplizenhaftigkeit. Auch in Petzolds Folge von DREILEBEN – ETWAS BESSERES ALS DEN TOD (2011) steht die Liebe zwischen Johannes (Jacob Matschenz) und Ana (Luna Mijović) im Vordergrund – und deren Scheitern an den Klassen, ganz ähnlich in JERICHOW (2008). In BARBARA, PHOENIX (2014) und TRANSIT (2018) interferiert die Staatlichkeit mit dem einfachsten Anspruch der Liebe. In den drei POLIZEIRUF-110-Filmen (2015–2018) doppelt sich die gebrochene Zuneigung von Kommissar Meuffels (Matthias Brandt) und Constanze Herrmann (Barbara Auer) mit der triebhaften und destruktiv gewendeten Liebe der Täter. Das mythologische Wesen der UNDINE (2020) durchwirkt den Alltagsraum und macht aus diesem eine mythopoetische Kippfigur.12 Immer bricht Petzold das Spiel der Liebe, indem er Konkurrenzfiguren und (meistens männliche) (Ex-) Partner einflicht, so die Figur des Ben (Hinnerk Schönemann) in YELLA und des Thomas (Benno Fürmann) in JERICHOW. Die innere Loslösung scheint viel schwieriger und mehr Katastrophenpotenzial zu bergen als manch äußerer Konflikt. Es sind kopernikanische Planetensysteme der Liebe mit je eigenen Melodien.
DREILEBEN. Intimität, die sich physiognomisch zeigt: Johannes und Ana sind ineinander verliebt
Filme wie WOLFSBURG (2003) und PHOENIX lassen die Liebe unter Vorzeichen des Nicht-Erkennens sich wie in einer Versuchsanordnung neu erleben. Es ist, als ob die Realität die Prämissen neu mische und sich der Alltag in einem narrativen Spin neu ausrichte. Es mag unrealistisch sein, dass Johnny Lenz (Ronald Zehrfeld) in PHOENIX seine Ex-Frau nicht erkennt, und genauso unrealistisch mag es sein, dass Laura (Nina Hoss) in WOLFSBURG so lange braucht, um den flüchtenden Fahrer zu identifizieren. Aber in diesen Peripetien liegt eine antike Erzählhaltung, eine Orakelhaftigkeit und in ihrer Wiederholung eine eigentümlich beschwörende Dimension, die wir von Sophokles’ Ödipus her kennen und die nun (manchmal spielerisch) auf den Alltag angewandt wird. Durch diese Art von Durchgeistigung führt uns Petzold weg von dem, was passiert, hin zu dem Potenzial der Realität, zu probabilistischen Schachtelungen, Gedankenspielen, die sich manifestieren könnten. Dadurch wird auf eine feinsinnige Weise neu austariert, was für sicher geglaubt wurde. Dass wir zu wissen vermeinen, was einer über den anderen denkt und fühlt, steht plötzlich in Frage. Das Bild lernt bei Petzold so den Konjunktiv. Es entstehen Alltagsreben, Vorahnungen, Indizien, die uns die Physiognomien und Handlungen neu lesen lassen.