Читать книгу Liebe im Versteck der Seele - Gudbergur Bergsson - Страница 6

16. Oktober 1993

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… Es hat mich eine ziemliche Zeit gekostet, ein geeignetes Zimmer zu finden, in dem wir uns treffen konnten, ohne daß es auffiel, denn es mußte in einem Keller sein, so daß man direkt von der Straße aus hineingehen konnte. Es mußte so aussehen, als käme man zufällig auf dem Gehsteig daher, und dann konnte man einfach auf dem Absatz kehrtmachen und verschwinden, als ob einen die Erde verschluckt hätte. Niemand sonst durfte dort wohnen, die Leute in Kellern haben kein Verständnis, sondern nur Neugier für die Situation derer übrig, die unter den gleichen Umständen wohnen wie sie selbst, und sie verachten sie innerlich, weil sie es im Leben nicht zu etwas gebracht und ein Haus erworben haben. Solche Leute haben die Angewohnheit, auf jedes Geräusch zu hören, doch sie lassen andere nicht dafür bezahlen, wenn sie über irgendeine Unstimmigkeit stolpern, Diebstahl oder Schwarzbrennerei, Prostitution, Ehebruch oder Schmuggelei. Das hat nichts mit Toleranz zu tun, sondern sie denken, daß sie, wenn sie nur das geringste Zeichen von Verachtung oder Einmischung zeigen, Gefahr liefen, ganz andere Sachen nicht mitzukriegen, etwas viel Übleres, denn bei solch armen Schluckern kann es noch viel schlimmer kommen. In dieser Hinsicht sind sie verständnisvoller als gesunde und anständige Leute. Man könnte glauben, Kellerbewohner seien die letzten Nachfahren der Höhlenbewohner, die Kontakt mit guten und schlechten Erdgeistern hatten, bevor wir zivilisiert wurden und einen sogenannten Menschengeist bekamen. Es sind nicht nur schlechte äußere Umstände, die einen in ein düsteres Loch treiben, um dort zu hausen, es trifft auch eine ganz spezielle Sorte Menschen mit den Wohnungen, die entweder in Kellern oder zu ebener Erde liegen.

Ich kannte das aus eigener Erfahrung und habe in meiner Schulzeit damit Bekanntschaft gemacht, als ich als Fremder in die Stadt kam. Da wohnte ich in Kellern zur Miete, nicht nur, weil ich wenig Geld zur Verfügung hatte und die Miete billig war, sondern auch, weil ich fast noch ein Erdbewohner im wahrsten Sinne des Wortes war. Seitdem hatte ich immer Sympathie für Kellerleute empfunden, und ich sah mich als ihnen in der Seele verwandt an, obwohl ich mich langsam, aber stetig in der Gesellschaft hochgearbeitet habe, die ich in meinem Herzen verachte, besonders die Ornamente auf ihrer leicht gekräuselten Oberfläche. Dennoch habe ich das gegründet, was man ein trautes Heim nennt, mit großen, hellen und stilvollen Räumen, vier Schlafzimmern und einer perfekt eingerichteten Küche. Das stimmt nicht ganz – keiner kommt im Leben nur aus eigener Kraft voran –, in meinem Fall sind es die Kontakte zu einem Jugendfreund und seinem Wohlstand oder seinem unglücklichen Schicksal, die mein finanzielles Wohlergehen oder Unheil bewirkt haben. So ist alles zu einem Ganzen verflochten, und daher kann es im Leben der Menschen gemeinsam zugrunde gehen.

Als ich nach einem geeigneten Ort suchte, hatte ich das Gefühl, daß ich beinahe jedes Kellerloch in der Stadt besichtigt und mir keines gefallen hätte. Zuletzt beschloß ich, eine Anzeige wegen einem geräumigen Abstellraum in einem Keller aufzugeben, in der Vorstellung, daß sich doch irgendwo eine alte wohlhabende Witwe verbergen müsse, die nicht mehr gut sah und die beschlossen hatte, das frühere Spielzimmer der Kinder neben der Waschküche, das lange leergestanden hatte, zu vermieten. Anscheinend war mein Bewußtsein zu jener guten Frau geschweift, die seinerzeit an mich vermietet hatte: eine halbblinde Witwe, desinteressiert an ihrem eigenen Aussehen, die nach altem Essen roch, aber eine warme Art hatte und verständnisvoll war, wie solche Frauen eben sein können. Aufgrund sinnloser Prüfungen in der Ehe, des Unglücks ihrer Kinder und der Blindheit der Augen sind sie über Vorurteile erhaben und lieben das Leben aus Gleichgültigkeit, aber nicht, weil sie selbst etwas davon verlangen, ganz im Gegenteil, sie haben schon lange aufgehört, sich etwas vom Dasein zu erwarten, und möchten, daß die, die jünger sind, dieses Leben genießen, das seinem Wesen nach nichts ist, wenn man vom Wesen von etwas sprechen kann, das an und für sich nichts ist, aber zur eigenen Erfüllung unendlich viel von anderen annehmen und so für den Menschen wünschenswert werden kann.

Nachdem ich zweimal in den Zeitungen annonciert hatte, bekam ich ein schriftliches Angebot. Als ich in das Haus kam, sah mich die alte Frau belustigt und mißtrauisch an und schien nicht ganz zu glauben oder erfreut darüber zu sein, daß ich eine Abstellkammer suchte; sie fragte:

Brauchst du nicht viel eher eine kleine Wohnung für deine Zwecke? Jetzt ist es leicht, eine zu kriegen. Das macht die schlechte Zeit, die in unserem Verständnis keine schlechte Zeit ist, weil wir die schlechte Zeit gekannt haben, und hoffentlich bist du nicht wie der junge Mann, dem ich einmal letztes Jahr vermietet habe.

Wie war er? fragte ich, um etwas zu dieser gutmütigen Frau zu sagen, die mir im selben Moment, als ich sie vor mir stehen sah, prima gefallen hatte, etwas beleibt und ständig unbewußt mit den Daumen den Rock an den Seiten glattstreichend.

Nein, ich rede dummes Zeug, sagte sie und schien sich zu besinnen. Das war nicht jetzt, sondern zu der Zeit, als es fast keine Möglichkeit gab, eine Wohnung zu bekommen, selbst wenn man eine Menge Geld dafür bot. Er nahm das Zimmer hier im Keller, doch sein Zuhause stellte er sich auf seine ganz eigene Weise vor, die etwas speziell war, weil er die Küche im einen Stadtteil mietete, das Schlafzimmer in einem anderen, und den Gang bekam er im Zentrum.

Sie machte eine Pause, um Atem zu holen, denn sie war kurzatmig.

Kannst du dir ein solches Arrangement vorstellen? fragte sie.

Ja, antwortete ich und versuchte aus dem Labyrinth, das dieser Mensch offensichtlich konstruiert hatte, schlau zu werden, und ich war davon überzeugt, daß seine Bauweise etwas Besonderes bedeutete, sogar für mein Leben und für mich selbst.

Ich hingegen war etwas befremdet, fuhr die Frau fort, und fragte wegen dieser Lebensweise nach, und da sagte er: »Ich puzzle mir das Zuhause auf isländische Art und Weise zusammen; alles ist zu einem unlösbaren Knoten geworden, aber es ist an seinem Platz, und obwohl kein einziges Stück halbwegs zum andern paßt, so hält es vielleicht trotzdem irgendwie zusammen.« So war seine Situation. Alles war vorhanden, aber nichts paßte zusammen, weil jedes Teil ganz für sich war.

Die alte Frau lachte das tiefe Lachen der Kettenraucherin, und es endete mit einem komischen Knurren und dem Verlangen nach Tabak, den sie sich vorenthalten hatte, solange sie sprach. Sie war erheitert, nicht von dem, was sie sagte, sondern wahrscheinlich von einer ähnlichen Erinnerung aus ihrem eigenen Leben innerhalb dieser vier Wände, die sie mir vermietete.

Hoffentlich hat er trotzdem selbst irgendwie zu seiner fragmentarischen Lebensweise gepaßt, sagte ich und versuchte, mich gut, doch nicht zu gut auszudrücken.

Da antwortete sie und sagte geheimnisvoll:

Man darf nie etwas buchstäblich nehmen. Manche Leute leben ohne Zusammenhalt, und ihr Leben paßt sich daran an. Doch das kann ein ausgezeichnetes Leben sein. Und damit du es weißt, ich fand dabei die Methode des jungen Mannes gut, wie er die Zeit, die vergeht, mit der Zeit verband, die in unserem Zusammenleben mit anderen gewöhnlich zum Stehen gekommen ist und in Scherben in einer Küche liegt, vielleicht in einem Schlafzimmer, in einem Bad, in einem Gang oder an den unmöglichsten Orten.

Ja, sagte ich. Die Ehe war vielleicht etwas ausgeleiert und ohne Zusammenhalt.

Das kann man wohl sagen, stimmte sie zu. Er betrog natürlich seine Frau und gab zu, daß das Schwierigste gewesen sei, dem Alten, der ihm den Gang vermietete, klarzumachen, daß er einen Gang mieten wolle, der nicht zu einer Wohnung führe. »In was für einem vernünftigen Haus sind die Gänge so?« rief der Alte wütend, wie ratlose alte Leute es tun. Der junge Mann erklärte ihm daher, daß das Heim, das er gegründet hatte, in Trümmern lag, und es deshalb logisch wäre, daß er eine Wohnung mietete, die in Stücken über die ganze Stadt verstreut war. Da beruhigte sich der Alte und begriff den Stand der Dinge, und der Junge bekam den Gang, aber ich sagte: »Die Frauen, die dir das Schlafzimmer vermieten wollten, haben dieselben gewichtigen Argumente nicht verstanden, mein Lieber.« Darauf antwortete er: »Es ist ihr gutes Recht, nur das zu verstehen, was ihnen gerade paßt.«

Und was hast du gesagt? fragte ich.

Ich sagte nur: »Ach so, und wo soll dann deine Frau bei einer so seltsamen Lebensweise bleiben, soll sie dich kreuz und quer durch die ganze Stadt verfolgen?«

Nein, antwortete er, wir haben Trennung von Tisch und Bett, doch wir wohnen zusammen, jeder auf seine Weise, so daß sich die Mietverhältnisse danach zu richten haben. Wenn ich im Bad in dem einen Stadtteil bin, ist sie in der Küche im anderen und dann im Schlafzimmer, während ich in dem Zimmer bin, das du mir hier im Keller vermieten würdest. Andererseits begegnen wir uns mit unseren Herzen in der Stadtmitte in dem Gang, der zu keiner Wohnung führt, falls wir uns überhaupt begegnen, aus Furcht vor dem Alten, der an uns vermietet und den Gang benutzt, um dort herumzulaufen, furchtbar wütend darüber, wie schlecht man wieder das Erste Programm im Radio empfängt.

Sie seufzte geistesabwesend, rührte sich etwas und sagte:

Daran kannst du sehen, daß dieses Zimmer in mancher Beziehung viel Glück bringt. Ständig kamen Leute zu ihm.

Hoffentlich wird es bei mir genauso sein, aber nicht in derselben Beziehung, sagte ich.

Im selben Moment öffnete sie die Tür zum Zimmer und führte mich in ein kleines Bad mit Klo, und dann öffnete sie eine andere Tür, die zu einer Küchenzeile führte, und sie fügte mit einem leisen Schnalzen hinzu:

Du bekommst beide Türen dazu. Hier kannst du tun und lassen, was du willst. Ich bin sowieso schon halbblind, so daß ich nichts sehe, und dann bin ich auch noch mehr als taub, so daß ich nichts höre außer dem, was man mir direkt in die Ohren schwatzt.

Zum Beweis dafür sah sie mich an und sperrte die leeren Augen auf, ohne zu sehen oder sich über irgend etwas zu vergewissern, und schnalzte ein paarmal mit den Lippen und fügte hinzu:

In einem gewissen Alter wollen alle Männer das Leben genießen, und oft ist es höchste Zeit für sie; du bist in diesem Alter. Mein Mann dagegen war viel zu normal und anständig, daß er in seinen Sehnsüchten und Phantasien weiter gekommen wäre, als das Kabuff hier einzurichten, um es ganz für sich zu haben, wenn er miese Laune hatte und beleidigt war. Er hatte sein ganz privates Mieselaune-Zimmer, bis zu seinem Tod, ich aber setzte da nie einen Fuß hinein und vermiete es an andere Leute, die einen ähnlichen Zufluchtsort brauchen. Was wolltest du noch mal damit machen?

Ich sagte, daß ich daran gedacht hätte, es zum Schreiben oder zum Meditieren zu benutzen.

Ja, das ist eine gescheite und moderne Beschäftigung, sagte sie. Jetzt sehe ich, daß du eine Menge Kraftpunkte hast.

Übrigens bin ich Lehrer, sagte ich.

Sie sagte »Ja«, und ich dachte, daß sie noch hinzufügen wollte: »Das ist gescheit, weil die Lehrer eine Unzahl Kraftpunkte haben«, doch sie wurde plötzlich geistesabwesend und schien das Interesse ebenso verloren zu haben wie jemand, der sicher zu sein meint, daß er den anderen kein Wort mehr zu glauben braucht, alles ist unwahr, und er weiß es besser.

Im Benehmen der alten Frau war eher der Stil einer vergangenen Zeit als der Formbruch und die Gekünsteltheit der heutigen Zeit, die durch ihr ständiges Hin und Her jede Art von Zeit tilgt. Später sollte sich noch heraussteilen, daß sie niemals, weder zu Zeiten noch zu Unzeiten, im Keller herumschnüffelte, obwohl sie natürlich manchmal herunterkam, um in irgendwelche Schachteln zu schauen. So wird es auf der Erde bleiben, solange es Schachteln mit Krimskrams und alte Leute gibt. Ich sollte noch erfahren, wie gut es sein kann, sich zu lieben, während alte Frauen gerade auf der anderen Seite der Wand des Genießens nach altem Kram schauen oder darin herumsuchen, es ist, als ob man liebenswürdig gegen die weibliche Natur sündigte und sich gegen die Autoritäten auflehnte. Die alten Frauen wissen undeutlich, was auf der anderen Seite der Trennwand los ist, sie bekommen es durch den Instinkt mit und freuen sich, daß man sich endlich den Pflichten verweigert. Deshalb ist es wunderbar, mit Unterstützung der alten Weiber in solche gleichermaßen seltenen und schwierigen Situationen zu kommen.

Ich spürte, daß sie am liebsten wollte, daß ich meine Frau in einen tiefen Brunnen hinunterwarf, und sie mir und meinem Kumpan beim Liebesspiel am Brunnenrand zusehen durfte, während ich mich über den Brunnen beugte und so tat, als ob ich sie aus dem Wasser retten würde. Ich dachte bei mir: »Die Alte hätte gerne, daß meine Frau glaubt, meine Schreie wären Angstschreie, weil sie im kalten Wasser ist, daß ich Angst habe, sie würde aufgeben zu strampeln und ertrinken, doch die Alte amüsiert sich, und trotz ihrer Blindheit und Taubheit sieht und hört sie, daß die Schreie durch etwas anderes ausgelöst werden. Ich ertränke die Sorgen, während ich die Ehefrau ertränke. Das amüsiert die Alte. Doch ich bin kein Mörder, außer vielleicht ein theoretischer Mörder, sondern ein Mensch, der seine Pflichten nach festen Regeln erfüllt, obwohl ich sie umgehe und mich im Sonnensystem der Sittlichkeit nicht ganz auf der rechten Bahn halten kann.«

Gesegnet sei die Natur, die ihr Sonnensystem vergißt, sagt die Alte zum Schluß.

Wenn ich der armen Alten, die an mich vermietet, über den Weg laufe, tut sie, als ob sie mich nicht sieht, und erwidert nichts, wenn ich sie grüße. Andererseits nimmt sie am Letzten jeden Monats die Miete entgegen, entschieden, aber uninteressiert. Ich habe jedesmal Angst davor und denke, daß sie mir die Leviten liest oder mir kündigt, was sie nie tut. Trotzdem schlägt mein Herz heftig, wenn ich anklopfe und sie anscheinend schon gespannt auf die Bezahlung gewartet hat, doch sie öffnet die Tür nie mehr als gerade nötig, so daß sie einen Arm durch den Spalt stecken und das Geld entgegennehmen kann. Dann reicht sie mir die Quittung, die sie bereithält, und schlägt unter beträchtlichem Lärm die Tür zu.

Dann hallt der Knall im Takt des Herzschlags und eines fürchterlichen Schuldgefühls wider, doch das Verwunderlichste und Schlimmste dabei ist, daß trotz des Knalls – oder vielleicht gerade deswegen – in mir ein fast unwiderstehliches Verlangen erwacht, der Alten die Wahrheit zu sagen und um Trost oder Verständnis zu betteln, obwohl ich weiß, daß es in solchen Dingen nicht möglich ist, von anderen Trost oder Verständnis zu bekommen. Jeder Mensch muß mit seinen Gefühlen leben, das Leben leben, das er sich gewählt hat, und den Attacken, die eher von innen her gegen ihn und seine Zweifel erfolgen als von der Umgebung, zum Opfer fallen, falls es so kommen sollte, oder ihnen standhalten, denn es gibt kaum etwas so Schwächliches, daß es nicht die Attacken von etwas anderem als sich selbst abwehrt.

Zunächst war am auffälligsten, wie schrecklich die Stille im Haus war. Als ich versuchte herauszufinden, ob die Alte mich ausspionierte, und ich still dasaß und kaum zu atmen wagte, dachte ich, das Haus würde unter der Last der Stille zusammenbrechen und über mir einstürzen, bersten, nur um die Stille im Haus und die Unruhe in meiner Brust zu zerreißen. Ich konnte kaum atmen vor erstickender Ruhe und dachte:

Was wohl die Alte gerade oben bei sich treibt? Womit kann sich eine einsame alte Frau den ganzen Tag lang im Erdgeschoß und unter dem Dach so ganz allein beschäftigen?

Je länger ich dort zur Miete wohnte, desto mehr hatte ich Angst davor, daß sie sterben könnte, und ich dachte, daß sie vielleicht mausetot oben bei sich auf dem Fußboden lag, während wir in dem Zimmer unter ihrem Schlafzimmer gerade zugange waren. Aufgrund einer Art primitiver Furcht aus der Urzeit glaubt man, daß die Liebe mit Schicksalsschlägen, Schrecken oder dem Tod verbunden sein muß, oder zumindest mit schlimmen Nachrichten. Ich weiß, daß das ein Aberglaube ist, und ich erkenne ihn an mir selbst, doch es ist egal, wie sehr ich auch versuche, Verstand und Vernunft walten zu lassen, ich weiß, daß die Liebe mit dem Tod verbunden ist und daß wir (wahrscheinlich ich) früher oder später das Leben opfern müssen, vielleicht nicht für sie, sondern wegen ihr.

Natürlich bin ich darauf gefaßt, daß einer von uns oder wir beide Aids bekommen müssen, die Krankheit paßt wie die Faust aufs Auge des Aberglaubens, daß die Leidenschaft und die Liebe untrennbar mit einer Tragödie verbunden sind. Seitdem man die Krankheit zum ersten Mal diagnostiziert hat, war sie in den Augen des Christenmenschen die Strafe dafür, daß eine bestimmte verdorbene und gottlose Sorte Menschen die Liebe und das Bedürfnis nach körperlicher Nähe zu Intimität machte, die ihrem eigenen Zweck diente, die Liebe war Genießen und die Nähe an und für sich. Diese besondere Sorte im voraus verurteilter Menschen befreite sich mit ihrem Verhalten aus den Fesseln des gängigen Denkens und suchte eine Abreaktion und Befriedigung nur im Fleisch um des Fleisches willen, und obendrein beim eigenen Geschlecht.

Die Krankheit, das lodernde Schwert, kam deshalb in die Welt, geschickt von Gott, der einen speziellen Strafvirus erschuf, um den Körper des Verdorbenen mit einem schrecklichen Tod zu belegen, weil er die Liebe nicht auf gesunde Art in einer Ehe nach christlichen Regeln genoß, die Vermehrung der Menschen aus dem Mutterleib im Sinn und die Bevölkerung der Erde. Die Seuche entstand, weil Jemand wider das Heiligtum der Frau gelästert hatte, welches der Ursprung des Lebens ist, und dieser selbe jemand begehrte wohl niedrigere und dunklere Schluchten oder Öffnungen am Körper, wo kein Licht aus der Dunkelheit geboren wird und der Samen ausgesetzt wird, bevor durch Zeugung die Kinder entstehen, wie bei primitiven Leuten.

Dennoch mußte es an den Tag kommen, daß das Leben mechanisch und seelenlos ist, die Krankheit war nicht das Resultat des Wunschdenkens des Glaubens im Herzen christlicher Männer und Frauen, sondern sie war immun gegen Trauer und drang in alle Öffnungen und in jede Art von Blut ein, vornehm oder niedrig, blau oder rot, sie nahm ihren Weg, nichts verpflichtet außer ihren eigenen Gesetzen, und sie war nicht als Strafe für Verbrechen gegen die Gebote Gottes und seine Zeugungslöcher gekommen. Sie war allein gegen alle, auf dieselbe Art wie jeder andere Tod auch.

Ich habe Kinder gezeugt, aber nichtsdestoweniger erwachte in mir das komische Verlangen danach, an dem teuflischen Virus zu sterben. Es ist es durchaus wert, daß man auf eine besondere Weise für die Wahrheit von Seele und Körper stirbt. Es verschafft einem ein Gefühl der Versöhnung, heute wie damals, zur Zeit der großen Erleuchtung, als überzeugte Menschen für eine Idee sterben wollten, sterben für ihre Ansichten, das Leben für den Glauben lassen oder etwas anderes, das dem Menschen nahesteht, wie zum Bespiel sich für den Vater zu opfern, Mutter, Frau oder Kinder, Gott oder die Gesellschaft: für die ganze Welt, auf dieselbe Weise wie der Erlöser es getan hat; die Kunst, ihm nachzufolgen, ist zu den Tugenden gezählt worden. Doch Aidskranke werden kaum von irgend jemand zu den Heiligen gerechnet, sich zu lieben und deshalb an einer realen und fürchterlichen Krankheit zu sterben hat nichts mit Philosophie oder Ökonomie oder Göttern zu tun, sondern mit einem unklaren und unberechenbaren Verlangen, von dem christliche Menschen behaupten, daß es pervers sei, denn es stirbt an sich selbst, sowie es befriedigt worden ist.

Damals wußte ich noch nicht, daß es einmal ans Licht käme, daß nach wissenschaftlichen Untersuchungen alle Menschen, gute oder schlechte, gerechte oder ungerechte, ebenso wehrlos und anfällig für diese Krankheit sind wie auch für andere, weil Krankheiten kaum einen Unterschied zwischen den Menschen machen, sie haben keine Moral, Vernunft oder Logik wie gebildete Menschen, und sie haben keinen Gott, und sie bekennen sich zu keinem Gesetz und keiner wahren Religion.

So dachte ich in dem Zimmer.

Als ich einen Telefonanschluß bekommen hatte und fand, daß nun alles fertig und bereit sei, daß mein Gefährte anrufen könnte, wann immer er wollte, da rief er vor ein paar Wochen an und sagte:

Jetzt komme ich dir nicht mehr nahe, bis du einen Aidstest gemacht hast und ein Attest vom Arzt vorzeigen kannst, daß du nicht infiziert bist.

Ich betrachtete das als Beleidigung, meinen Überlegungen zum Trotz und dem Bedürfnis nach heiligen Martyrien, und ich fühlte mich, als ob mir jemand eine Ohrfeige verpaßt hätte, und ich sagte:

Soweit gehe ich dir zuliebe nicht; das tue ich nie, lieber krepiere ich.

Na, das war’s dann wohl und tschüß, sagte er.

Also ging ich zur Untersuchung und wedelte mit dem Attest in seinem Gesicht herum. Er strahlte vor Zufriedenheit und wurde ganz stolz.

Tja, was man sich nicht alles traut, quietschte er vor Vergnügen. Was steht im Attest?

Daß ich serenpositiv bin, antwortete ich.

Was bedeutet das?

Ich habe positives Blut, antwortete ich.

Du bist immer positiv mir gegenüber gewesen, sagte er vergnügt.

Ja, sagte ich. Ich habe ein positives Leben gelebt.

In meinem ist auch alles positiv, sagte er und wurde noch vergnügter.

Gut, sagte ich.

Ja, was man sich nicht alles traut, quietschte er wieder.

Ich war es, der sich getraut hat, sagte ich mit Nachdruck. Und ich traue mich auch für meine Wesensart und meine Krankheit zu sterben.

Spar dir bloß deine Heldendarstellungen, sagte er kurz und drohend. Ich war es, der die Idee hatte, weil ich dachte, daß ich Aids von du weißt schon bekommen und dich angesteckt hätte.

Manchmal betrachtete er das Attest und war so begeistert, daß er vergaß, weshalb er gekommen war.

Was würde passieren, wenn etwas anderes dastehen würde und du mit Aids infiziert wärst? fragte er und antwortete sich sofort selbst: Natürlich würde meine Frau alles herauskriegen, und ich wäre ebenfalls dem Tod geweiht.

Man ist nicht nur hierin dem Tod geweiht, sondern in allem, seit wir geboren sind, sagte ich kalt und barsch.

Er hörte dieser Wahrheit nicht einmal zu und wiederholte ständig dieselben Worte:

Verdammt, wie kalt man sein kann; ich habe es gewagt, dich hinzuschicken!

Was würde passieren, wenn ich Aids hätte und es von dir bekommen hätte? fragte ich und versuchte, die Fassung zu bewahren.

Ich müßte Selbstmord begehen, bevor es alle mitbekommen haben, wie dein Jugendfreund es gemacht hat. Der war kaltschnäuzig.

Wie denn? fragte ich, und mir gefiel diese Art von Gespräch nicht.

Das ist ja wohl klar, daß es am mutigsten überhaupt ist, wenn man sich umbringt, antwortete er.

Ich verstand nicht, was daran mutig sein sollte, sich das Leben zu nehmen, bis er sagte:

Sich selber umzubringen ist mutiger, als andere umzubringen, weil man so gleichzeitig die ganze Welt für sich umbringt.

Warum? fragte ich und sah ihn an, wich dabei aber irgendwie aus, gefühlsmäßig betrachtet.

Natürlich deshalb, weil man dann den Schmerz selbst spürt, antwortete er, verwundert über meine Einfalt. Wenn man einen anderen umbringt, spürt keiner den Schmerz, außer dem, der umgebracht wird.

Ich hatte nie an unser ständiges Spiel gedacht und an das Vergnügen, das darin besteht, den Schmerz herauszufordern.

Einmal, als mein Gefährte kam und begeistert mit dem Aidstest dasaß, schien ihm ein Licht aufzugehen, und er sagte halb verwundert:

Das Kondom ist dann also für die Menschheit die größte Hoffnung auf Leben geworden!

Er fing an, schallend über seine Entdeckung zu lachen.

Ja, es ist Lebensspender und Mörder zugleich, sagte ich kurz.

Nein, das gibt es nicht, das widerspricht sich, protestierte er. Wie soll das gehen?

Der, der ihn überzieht, bleibt am Leben, das, was reingeht, stirbt und wird nie ein Mensch, sagte ich.

Ach so siehst du das, sagte er erstaunt und fügte hinzu:

Ich habe mir nie den Kopf darüber zerbrochen, wie es war, als ich tot war, bevor ich geboren wurde, aber meine Frau sagt oft:

Wenn jemand für die Menschheit gestorben ist, dann nicht Jesus Christus, sondern die Ratten, die benutzt werden, um in den Labors Medikamente auszuprobieren, damit wir Kranke geheilt werden können. Die sterben ganz sicher für die Menschheit. Und es ist eigentlich viel interessanter und rätselhafter, wie es war, tot zu sein, bevor man zur Welt kam, als zu wissen, wohin man geht, wenn man sie wieder verläßt.

Man fährt natürlich mit dem Körper ins Grab, doch die Seele fliegt zu Gott, sage ich dann, sagte er.

In welchem Grab waren wir vor der Geburt begraben und bei welchem Gott? fragt sie zurück.

Und was sagst du, wenn sie das sagt? fragte ich.

Ich versuche mir weder die Zukunft noch die Vergangenheit vorzustellen, wo wir waren oder sein werden, ich will nur, was mir zusteht, antwortete er.

Mir gefiel nicht, wie er mich ansah.

Nach solchen Gesprächen kriege ich immer, was mir zusteht, sagte er triumphierend. Auch wenn wir manchmal bis spät in die Nacht herumdiskutieren oder bis einen der Geist völlig verlassen hat; dann kommt statt dessen nur das Verlangen.

Wo der Geist aufhört, beginnt die Leidenschaft, sagte ich.

Liebe im Versteck der Seele

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