Читать книгу Liebe im Versteck der Seele - Gudbergur Bergsson - Страница 8
13/10 1988
ОглавлениеIch war nachmittags zur festgesetzten Zeit im Bett, weil er vorhatte, sich zwischen eins und zwei »blicken zu lassen«. Ich hatte ein Bad genommen, damit ich sauber war und er mich eine Weile mit heiliger Unsauberkeit beschmutzen konnte, mich mit Leidenschaft verunreinigen, mich in seiner Gischt wälzen, meine Liebe mit dem verwöhnen, was von seiner Seite sicher nur Lust ist, doch bei mir so etwas wie gequälte und klare Liebe.
Ich finde, daß der Körper besser zum Liebesakt taugt, wenn er nicht frischgewaschen dazukommt, sondern nachdem er seine Salze auf der Haut wieder bekommen hat und nicht mehr unnatürlich sauber nach Seife oder Parfüm riecht. Das gilt zumindest für Männer. Es ist etwas anderes, wenn ich mit meiner Frau schlafe: Sie ist am besten, wenn sie direkt aus einem gerade angenehm warmen Bad kommt. Ich muß eine kalte Dusche nehmen oder nackt auf dem Fußboden herumlaufen, bevor ich ihr nahekommen darf, denn wie sagt sie immer:
Klare Gegensätze, hierin wie in anderen Dingen, sind am besten.
Ich habe nie die neue Frau meines Freundes gesehen, doch wahrscheinlich ist sie übertrieben reinlich, denn er geht sorgfältig mit seinen Sekreten um, fast auf weibliche Art und Weise, obwohl er ansonsten natürlich rauh im Umgang mit dem Fleisch ist. In bezug auf die äußere Sauberkeit muß ich ihm mit genügend Bädern und Waschen entgegenkommen. Am Telefon sagt er immer, wenn er sein Kommen ankündigt:
Du mußt gebadet haben und fertig sein, wenn ich mich blicken lasse.
Ich möchte, daß der Körper bei der Liebe seinen natürlichen Geruch behält. Ich mag ihn am liebsten, wenn er gerade von der Arbeit gekommen ist und nach Anstrengung duftet und etwas müde ist und bei der Liebe Erholung suchen muß.
Ich hatte zu Mittag gegessen und den Körper darauf vorbereitet, daß wir gegenseitig unser Fleisch verschlingen konnten, unter Schweigen, das von vereinzelten, dürftigen Worten unterbrochen wird, die immer die gleichen sind und dennoch inmitten aller Heftigkeit genauso wirkungsvoll wie zu Beginn, hinterher jedoch problematisch werden und in Gedanken kurios klingen, so daß man sich fast schämt und sich darüber wundert, daß so leere und banale Worte am richtigen Ort und zur richtigen Zeit wahr scheinen und einem Freude bereiten können.
Gerade als ich fertig war, rief er wieder an und sagte mit tiefer, heiserer und ängstlicher Stimme, daß er mich nicht treffen könne. Seine Frau war unten in der Waschküche und konnte ihn jeden Moment überraschen, so daß er so schnell wie möglich zum Telefon gegriffen hatte, und das Gespräch wurde kurz und abrupt.
Irgendwie habe ich das Gefühl, daß seine Frau abends ziemlich oft im Keller ist, um zu waschen und das Bett und alles um sich herum sauberzuhalten. Währenddessen schleicht er zum Telefon, um anzurufen und mir vor Einbruch der Nacht erregende Worte zu sagen. Wenn ich versuche, ihn damit zu ärgern, daß er damit wohl die Potenz steigern muß, dann widerspricht er und sagt:
Er steht mir immer einwandfrei bei der Frau, und ich brauche keine besonderen Tricks.
Trotzdem ist es nicht unwahrscheinlich, daß er sich mit mir erregt und die Leidenschaftlichkeit auf die Frau überträgt, wenn sie endlich aus dem Keller gekommen ist, mit wolkenlosen Gedanken und strahlend weißer Wäsche, und seine Zudringlichkeit nicht begreift.
Es kommt mir vor, als müßte ich abends kaum in den Keller gehen, damit du in Hochstimmung bist, wenn ich wieder raufkomme, sagt sie erschöpft, doch im selben Moment ist sie sich ihrer Macht über ihn bewußt, und es macht ihr Spaß, widerstrebend nachzugeben.
Ich vermisse dich so, sagt er mit der Heiserkeit im Hals, die Männer oft bekommen, wenn sie in dieser Stimmung sind.
Nur, wenn ich schnell mal in den Keller gehe? fragt sie und fügt hinzu: Das ist eigenartig.
Er erzählt mir das oft, nicht direkt im Vertrauen, sondern in unschuldiger Verwunderung darüber, daß er sich genötigt fühlt, etwas zu sagen, wenn wir fertig sind; er möchte sofort verschwinden. Wenn ich die Inbrunst in seinen Worten höre, denke ich, daß er mir ein besonderes Vertrauen zeigt, das einer aufrichtigen Haltung entsprungen sein muß. Ich frage unwillkürlich, um meinen Wunsch bestätigt zu bekommen: »Warum bist du mit mir zusammen, wenn deine Frau nur mal kurz mit der dreckigen Wäsche runtergehen muß, damit du hinterher nicht ohne sie im Bett sein kannst?« Ich hoffe, daß er etwas sagt, das auf wärmere Gefühle mir gegenüber hinweist, aber meistens sagt er entweder: »Ich habe keine Gewalt über mich, weil irgendwas in mir drin sitzt«, oder: »Ich treffe mich mit dir, um der Frau eine Pause zu gönnen. Und willst du deiner damit nicht auch eine gönnen?«
Ist das, was wir tun, nur dazu da, um den Ehefrauen eine Pause zu gönnen? frage ich.
Natürlich, antwortet er und sieht mich an, beleidigt, daß ich etwas anderes denken kann. Das ist das Gute daran, daß man in der Ehe betrügt. Verheiratete Frauen und Mütter halten nicht viel Belastung durch ihre Männer aus.
Mir wird ganz sonderbar zumute, ich bin etwas durcheinander und weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll angesichts einer ebenso kindischen wie auch natürlichen Einstellung dem gegenüber, was zwischen uns ist, und seiner Ansichten darüber, was Rücksicht auf Mütter sei, doch ich nehme mich zusammen, wappne mich gegen seine festverwurzelten Ansichten über die Sünde und welcher Art das Recht des Körpers in bezug auf sie sein kann, und sage mit einem Sarkasmus, der eher in meinen Gedanken als in Worten oder auf meinen Lippen ist:
Was mich betrifft, so gönne ich nicht der Frau eine Pause, sondern ich mag dich einfach.
Da wirft er mir schweigend und beunruhigt einen Blick zu, und ich glaube, daß er denkt: »Ach so, bist du dann nachts bei deiner Frau, um mir tagsüber eine Pause zu gönnen? Ich dachte, sie hat Urlaub.« Er ist offensichtlich zufrieden mit dem Gedanken, ja sogar selbstzufrieden über seinen Anteil an meiner Potenz, doch er sagt ganz einfach:
Die Frauen müssen auch ihren Anteil kriegen.
Als er vor kurzem anrief, wollten sie gerade zusammen in die Innenstadt fahren. Sie mußte für ihn etwas zum Anziehen kaufen, denn er sagt oft: »Die Frau wählt alles für mich aus; auch die Socken.«
Das Schiff fährt morgen nach Amerika, flüsterte er am Telefon. Wir sehen uns erst in drei Wochen wieder.
Blut und Saft gerannen plötzlich in meinem Körper. Ich bekam Kopfschmerzen, und mir war nach jenem typischen schmerzlichen Weinen zumute, von dem ich mir vorstelle, daß alte Menschen es stets in ihrem Dasein empfinden, jenes trockene Weinen, das der Trauer über ein schwindendes Leben in einem rasch verfallenden Körper entspringt, der eine immer kürzere Zukunft vor sich hat, wenn die Lebenszeit vorbei ist. Wenn einem das widerfahren ist, kann nicht einmal die Trauer von Dauer sein; in einem alten Körper ist schon alles geschehen außer dem eigenen Ende. Das Leben ist vorbei und weit weg. Deshalb ist all das, was alte Leute verpassen, nur ein Teil von keiner Zukunft. Wenn man ein vernünftiger alter Mensch ist, dann macht man sich klar, daß man auch die Zukunft verlieren und diesen Verlust dem hinzufügen kann, was man im Leben verloren hat. Ich fühlte mich ungefähr genauso, da ich die Mitte des Lebens erreicht habe und die Potenz schwindet, doch zum Trost dachte ich mir, daß ich ihn nicht immer zum Gefährten gehabt habe und trotzdem lebte, und ich habe ihn immer noch nicht ganz sicher, aber ich lebe dennoch weiter.
Das Alter bringt eine besondere Art von Freude mit sich, die von Trauer begleitet wird; sie ist von der Art, daß man nicht länger Angst vor dem Leben hat, je kürzer es wird. Diese Art von Liebe ist auch eine Art von Mut: Sie ist völlig anders als die Liebe, die ich natürlich und aufrichtig gegenüber meiner Frau empfand, als sie noch eine eheliche Liebe war und hieß. Wenn man durch eine andere Art von Liebesbanden gebunden wird, beginnt man unwillkürlich ein Leben zu leben, das nicht offen oder auf reale Weise gelebt wird, es wird zu einer Art Phantasie und Dichtung, die man schlecht beschreiben kann.
Vielleicht ist das eine mögliche Erklärung dafür, daß ich mich in meinem Alter mit einem gleichaltrigen und verheirateten Mann in etwas gestürzt habe, dem ich nicht einmal im Traum erlaubt hätte, sich in mein Begehren zu schleichen, als ich noch jung war und noch dazu ein Frauenheld.
Die längste Zeit meines Lebens, beziehungsweise seit ich verheiratet bin, war ich sehr auf meinen guten Ruf bedacht und duldete keinen einzigen Makel auf meinem Leben. Jetzt aber lebe ich hauptsächlich für diesen Makel, der wahrscheinlich ein Muttermal gewesen ist, das erst jetzt zum Vorschein kommt, wie rein und weiß auch immer mein Körper oder meine Seele sonst gewesen sein mögen, bevor es in meinem Umgang mit der Welt, der Frau und den Kindern, doch besonders mit meiner jüngsten Tochter sichtbar wurde. Wie jemand, der hinreichend streng im lutherischen Glauben erzogen und dessen Ideen verpflichtet ist, so hatte ich die Absicht gehabt, das Leben ebenso rein, makellos und nackt zu verlassen, wie ich es bei meiner Geburt in die Welt bekommen hatte. Jetzt habe ich beschlossen, es eines anderen Glaubens wegen tot zurückzulassen.
Also treffe ich ihn dieses Mal nicht, bevor er in See sticht. Nach dem Telefongespräch zu urteilen, hat er sich entschieden, das Ganze fortzusetzen, wenn er nach zwei, drei Wochen oder noch längerer Zeit wiederkommt; wer weiß, wann die Schiffe die Nebel auf dem Meer verlassen und den Hafen ansteuern, selbst wenn sie nach einem Fahrplan segeln?
Er hatte kaum aufgelegt, als unsere Bekannte Sigga anrief. Manchmal kommen die Anrufe für mich alle auf einmal. Oft vergehen mehrere Tage, ohne daß jemand anruft. Dann beginnen Freunde und Bekannte plötzlich anzurufen, und das passierte jetzt. Sigga schien zu spüren, daß mich etwas bedrückte, oder das Ungestüm, mit dem ich den Hörer abnahm, und die Enttäuschung, als ich hörte, daß sie es war, kamen ihr merkwürdig vor. Tatsächlich dachte ich, daß mein Gefährte seine Meinung geändert oder seine Frau plötzlich den Plan umgeworfen hätte, nachdem sie im Schrank gewühlt und gesehen hatte, daß sie in der untersten Schublade mehr als genug Socken und Unterhosen für ihn hatte, und ihn dann gebeten hätte, das Auto zu wachsen, während sie aufräumte, das ist bei Ehepaaren normal, und er würde vom Autowaschplatz anrufen, um zu sagen, daß er käme, doch es müsse schnell gehen. Als ich hörte, daß Sigga am Telefon war und nicht er, hatte ich meine Erregung nicht gleich unter Kontrolle. Jemand, der auf dieselbe Art liebt wie ich, muß Selbstkontrolle haben, am besten darf er seine Gefühle nicht anders zeigen als in kryptischen Zeichen, oder er muß sie im Umgang mit anderen Leuten so entstellen, daß sie nie richtig darauf achten oder ihnen direkt eine Bedeutung beimessen. Das Gesagte muß das normale Verständnis eher verwirren als ihm etwas deutlich machen. So ist die Ausdrucksweise des Clowns, der einen gleichzeitig bezaubert und abstößt.
Als Sigga anfing, neugierige Fragen nach meinem Gemütszustand zu stellen, und versuchte, die Wahrheit aus mir herauszulocken, machte ich sie glauben, ich sei etwas erregt, nachdem ich nach dem Essen mit der Frau im Bett gewesen war. Da räusperte sie sich auf übertriebene und langgezogene Weise, um damit gewisse Andeutungen zu machen und auf gutmütige Art komisch zu sein. Natürlich machte es ihr nichts aus, daß ich durcheinander und erregt war, sie hatte mit ihren eigenen Angelegenheiten zu tun und wollte mit jemandem darüber und über sich reden – wie leid sie es wäre, die Kontoführung in der Bank zu machen, und die Theater fände sie, gelinde gesagt, furchtbar, weder ertrüge sie die Lebensweise der Isländer noch das Konsumverhalten der Leute, die sich trotzdem ständig beschwerten, oder die isländische Kultur, falls man das überhaupt als Kultur bezeichnen könne, und sie würde aus dem Land fliehen, wenn sie im Lotto gewänne.
In einer winzigen Pause gelang es mir, auf ähnliche Weise, wie es gerade Mode ist, zu fragen:
Ja, aber wohin soll man denn gehen, wenn nirgendwo etwas passiert, außer in Dingen, die den Devisenhandel und den Markt angehen, und da ist die Lage kritisch, und alles liegt völlig darnieder?
Das sagst du aus gutem Grund, sagte sie. Das ist eine gute Frage, denn die Politik lief bis jetzt darauf hinaus, daß es nirgends auf der Welt etwas anderes gibt als die Gleichberechtigung der Mittelmäßigkeit.
Im selben Moment mußte ich aus irgendeinem Grund an meine Mutter denken, in der Weise, daß ich mich als breiten und langen Strich empfand, der in das unendliche Weltall gezogen ist. Ich weiß nicht, warum mir das in den Sinn kam, oder was eine so lächerliche Vorstellung mit meiner Mutter zu tun hatte, außer daß sie seinerzeit das eintönige Leben draußen auf dem Land gründlich satt hatte und ständig damit drohte, sich von Papa scheiden zu lassen und nach Reykjavik zu ziehen, bis er es in die Tat umsetzte, sich scheiden ließ, eine andere Frau fand und dort hinzog, und sie blieb allein im Haus zurück, damit sie nicht am gleichen Ort wohnen mußte wie er. Ich erzählte das Sigga und nahm Mama als gutes Beispiel für die Entschlußfreudigkeit der Frauen, und jetzt sei sie heilfroh, daß sie Papa dazu gezwungen hatte, einen Entschluß zu fassen, und ihn mit einer anderen Frau in die Stadt verjagt hatte, sie selbst war jetzt frank und frei und viel näher am Flughafen in Keflavik dran als er und konnte ins Flugzeug steigen, wann immer es ihr einfiel, und mit ihrer Rente in die Welt hinaus fliegen.
Sag mal, Sigga, glaubst du, daß mich meine Mutter nur geboren hat, damit ich jemand einen großen Strich durch die Rechnung mache, und daß der vielleicht im Weltraum ist? fragte ich.
Ich weiß nicht, was mit dir los ist, man kann heute mit dir nicht vernünftig reden, sagte Sigga und legte auf.
Kurz darauf klopfte die Frau von der Wohnung gegenüber an, um nach meiner Frau zu fragen, und als ich antwortete, daß sie Ferien im Norden mache, sagte sie, daß die Sprechanlage in unserem Treppenhaus im Block anscheinend kaputt sei, ein Bekannter von ihr wäre gekommen und hätte geläutet, doch man hätte es nicht gehört. Ich erschrak, doch die Frau sagte, daß es nicht so schlimm wäre, man könnte ja immer noch das Telefon benutzen und seinen Besuch zu einer bestimmten Zeit ankündigen, was nur höflich wäre und europäische Sitte, und dann würde man hinuntergehen und an der Eingangstür auf den Gast warten, wenn die Klingel kaputt wäre.
Ich pflichtete ihr aus vollem Herzen bei, und da fügte sie hinzu:
Diese gute Sitte kann man hierzulande nur einführen, indem man die Gegensprechanlagen in allen Häusern mindestens ein Jahr lang kaputt bleiben läßt.
Ich bekam einen Schreck, da ich es nicht mitbekommen hätte, wenn mein Freund vorbeigekommen wäre. Während ich mich mit der Frau unterhielt, rief J. an, so daß ich einer weiteren Diskussion über Gegensprechanlagen entkam. Als ich abnahm, fing er an, davon zu erzählen, daß er sich seit der Beerdigung von M. vor zehn Jahren immer noch nicht erholt hätte, sie hätte in ihm zum ersten Mal Erinnerungen aus seiner Jugendzeit geweckt, und er dachte, daß er bald mehr Verwandte und Freunde im Grab hätte als im Leben.
Das war eine ziemliche Lebenserfahrung, sagte er.
Beerdigungen neigen dazu, Erinnerungen zu wecken und die Leute zu denkenden Wesen zu machen, zumindest in Büchern, antwortete ich.
Das ist mir passiert, wo ich doch keine besonderen Talente habe, und ich bin nicht so bemerkenswert, daß ich als Vorlage in einem Roman taugen würde, sagte er. Ich sah das Blut der Fische daheim auf dem Kai vor mir, wie es in der Kälte zu feinen Kristallen gefror, und mitten in der Leichenrede des Pfarrers kam mir der Gedanke, daß mit meinem eigenen Blut etwas Ähnliches passiert sei. Die Erinnerung ist merkwürdig.
Ja, das kann man wohl sagen, sagte ich und hatte schon keine Lust mehr zuzuhören, doch er redete in einem fort, mit poetischen Schilderungen, wie ihn in der Kirche ein strenger Frost aus der vergangenen Jugendzeit befallen hätte.
Ich hörte nur mit einem Ohr desinteressiert hin, denn es ist jetzt der neueste Schrei hierzulande, daß alle so tun, als seien sie gläubig, und sagen, daß man sich in der Ungewißheit und dem Chaos zur Jahrhundertwende an Gott anlehnen müsse.
Gott ist heute das Größte! fügen sie hinzu und tun so, als ob diese Erkenntnis auf ihrem eigenen Mist gewachsen ist.
Vor der Beerdigung dachte ich, daß in meiner Jugend immer Regen war oder Tauwetter und Glatteis auf den Pfützen im fahlgelben Moor, aber so ändert Gott unsere Erinnerung an das Wetter und die Farben, sagte er.
Während ich versuchte zuzuhören, ergriff mich eine Niedergeschlagenheit, die ich mit der Unendlichkeit verbinde und von der ich glaube, daß sie in der absoluten Leere an einem unbekannten Ort im Weltall entstanden ist. Es ist nicht das Weltall der Sterne und Planeten, sondern die Weite des Universums, die, so habe ich das Gefühl, in jedem Menschen ist, da die Trauer zweifellos aus der Weite der Seele kommt. Sie stammt nicht von einem bekannten oder bestimmten Ort, sondern schleicht sich an uns heran aus der Erfahrung des Daseins, aus dem unendlichen Bereich des Gedankenlebens: Sie entspringt zugleich allem und nichts, auf dieselbe Weise wie die Angst. Ich hielt den Hörer etwas vom Ohr weg – das mache ich oft, wenn die Leute anrufen und lange reden –, so daß ich aus der Distanz nur den Klang der Worte hörte.
All das entsprang nur der Sehnsucht nach dem, der mit dem Schiff wegfuhr. Das wußte ich. Wahrscheinlich sehnte ich mich nach Trauer. »Du bist versessen auf Traurigkeit wie die Kinder auf Schokolade«, hat meine Frau einmal gesagt.
Als ich das Haus verließ und den Laugavegur hinunterging, um das schlechte Gefühl abzuschütteln, das überall in mir war, fiel mein Blick auf eine Gruppe von Leuten, die um irgend etwas in einer Hofeinfahrt herum zu stehen schienen. Gleichsam von dem Bedürfnis nach Trauer geleitet, stieg ich auf einen Absatz und sah eine ältere Frau an der Treppe liegen, eine andere, jüngere, war damit beschäftigt, sie zuzudecken. Während ich zusah, wie sie sich hinabbeugte und die ältere Frau streichelte, fragte ich mich, warum man sterbende Menschen oder Leichen immer zudeckt. Es scheint ganz egal zu sein, wo man sich aus dem Leben verabschiedet, innerhalb kürzester Zeit erscheint eine Decke aus dem Nichts oder aus Humanität, die sich auf diese Weise bemerkbar macht, wenn sie nicht mehr nötig ist. Denn was nützen eine Wolldecke und Gutherzigkeit angesichts des Todes? Welche Decke kann einen Körper wärmen, der in den Zustand seiner Erkaltung übergeht?
Die Frau, die auf dem Rücken dalag, das eine Bein leicht untergeschoben, war schon älter, sie war sorgfältig geschminkt, die Lippen waren bemalt und halbgeöffnet. Man sah die ebenmäßigen Zähne der Prothese, die in dieser Situation so unnatürlich waren wie die rote, leuchtende Schminke im Gesicht. Die halbgeschlossenen Augen schienen gebrochen, oder die Hornhaut war von einem trockenen Film überzogen, das linke Auge hatte sich in die Augenhöhle gedreht, als ob es im Augenblick des Todes nirgendwohin gerichtet wäre, um in der letzten Sinnlosigkeit des Lebens völlig blind auf nichts blicken oder starren zu können.
Da begann ich darüber nachzudenken, was im Leben es sein kann, das am meisten stirbt, wenn wir sterben, und ich stellte mir vor, daß es nicht der Körper als Ganzes war, sondern der Mund und die Augen. Sogleich begriff ich, daß der Zweck des Lebens höchstwahrscheinlich darin besteht, daß man andere sehen und mit ihnen reden kann: entweder mit sich selbst, mit Tieren oder mit anderen Menschen. Darüber zerbrach ich mir auf meinem erhöhten Platz den Kopf und betrachtete die Frauen, die aus allen Richtungen herbeiströmten, um ihre sterbende Geschlechtsgenossin zu streicheln, sie streichelten sie sanft, aber bestimmt, offenbar, um zu versuchen, sie wieder ins Leben zu prügeln, es mit Schlägen zu Gehorsam zu bringen und zur Rückkehr zu bewegen, so wie Mütter es mit unartigen Kindern machen, die sich nicht um ihre Regeln kümmern, und versuchen, sie zum Gehorsam zu prügeln. Ich sagte zu mir selbst: »Es ist egal, ob die Frau gestreichelt, ausgelacht oder beweint wird, einerlei, was man probiert, sie ist tot und unempfindlich gegen alles. Das Leben ist erbarmungslos und unbändig, und nur seine Gesetze können dem Körper den Tod aufzwingen.«
Kurz darauf war das heulende Herzauto am Schauplatz erschienen, die Männer, die darin saßen, stürzten heraus und hatten mit solchen Fällen offensichtlich Routine; sie sahen gleich, wie die Sache stand, und nahmen ihr Funksprechgerät zur Hand, einer hob fachmännisch mit zwei Fingern beide Augenlider der Frau an, die Augen bewegten sich dabei nicht heftig, verwundert und pulsierend vor Leben, beinahe spöttisch frohlockend, wie wenn die Lider eines Menschen, der tot scheint, aber nur in Ohnmacht gefallen ist, angehoben werden, sondern sie waren so leblos wie die Augenlider. Dann packten sie den Körper auf eine Bahre, schoben sie hinten in das Auto hinein, schlossen die Türen und fuhren weg. Die Gruppe der Frauen zerstreute sich, und danach war es so, als ob auf der Straße nichts geschehen sei. Zu meiner Erleichterung war meine Deprimiertheit weg, und ich rief meine Frau an und sagte:
Komm doch in den Sonnenschein hier im Süden, laß dir nicht länger im Norden auf die Brüste regnen.
Brauchst du nicht mehr Muße, um deine Angelegenheiten zu Ende zu bringen? fragte sie.
Nein, antwortete ich. Ohne dich bin ich am Ende.