Читать книгу Liebe im Versteck der Seele - Gudbergur Bergsson - Страница 9

14/11

Оглавление

Ich wartete den ganzen Morgen rastlos, daß mein Gefährte anrufen und sagen würde, daß er kurz von Bord verschwinden könnte oder eine Entschuldigung gefunden hätte, um die Arbeit einen Moment zu verlassen, doch der Wunsch und seine Kraft sind weit davon entfernt, einen solchen Einfluß zu haben, daß er in Erfüllung geht. Mittags hatte ich alle Hoffnung aufgegeben, ich ließ von meinem Wunsch ab und begleitete das Schiff in Gedanken aus dem Hafen hinaus. Ich sah seine Frau vor mir, wie sie sich von ihm verabschiedete. Sie tat es auf dieselbe Weise, wie einfache Leute sich voneinander verabschieden, auf eine neutrale und distanzierte Art, als ob sie ihre Gefühle nicht auf eine Weise zeigen könnten, daß sie den erreichen, an den sie eigentlich gerichtet sind, und deshalb dem eine Bürde scheinen, für den sie sich regen, und aus Verlegenheit verlöschen.

Ich sah ihn deutlich vor mir, ein bißchen wie ein Schaf, wie er sich über die Reling beugte, mit viel zu großen Arbeitshandschuhen an den Händen, erleichtert, daß er nach kurzer Zeit aus dem Blickfeld der Frau entschwinden würde, die ebensowenig wußte, was sie neben dem Auto auf dem Kai mit sich anfangen sollte, ob sie winken oder etwas rufen sollte; ihr fiel nichts ein, und es war nicht mehr möglich, ihn wegen irgend etwas fortzuschikken oder mit ihm über die ewigen Probleme der Kinder zu reden, die niemals auf eigenen Füßen stehen konnten und sich ständig Geld von den Eltern leihen mußten, die wiederum gezwungen waren, bei der Bank einen Kredit mit hohen Zinsen aufzunehmen, um dem ohnmächtigen Gejammer zu entkommen. Er legte den Zeigefinger auf ein Nasenloch und blies aus dem anderen, um irgend etwas zu machen, bevor er sich ganz vergaß und in die Arbeit und Anstrengung versank, zufrieden, daß er nun seinen Körper mehr spürte als seine Gefühle, denn auf einem Schiff gibt es viel zu tun, nicht nur ständig etwas anzustreichen und den Rost von der Brücke zu klopfen, da gibt es keine Zeit, um an Kleinigkeiten an Land zu denken, Probleme und Sentimentalitäten. Ich hatte ihn einmal gefragt:

Sitzt die Liebe bei dir mehr im Kopf oder da …?

Er zeigte sofort auf »da« und fragte verwundert:

Wo soll sie denn sonst sitzen?

Vielleicht erfinde ich das bloß, vielleicht ist das schon lange zur Gewohnheit geworden, daß er bei jedem Wetter hinaus ins Ungewisse fährt, daß er mit der Unsicherheit lebt und nie selbst über seine Zeit verfügen kann, daß es nicht möglich ist, mit Sicherheit zu wissen, wann er heimkommt und wann er den Hafen wieder verläßt, daß das ganze Leben in der Kunst besteht, mit verschieden großen Ungewißheiten und Risiken im Dasein und in der Arbeit bei niedrigem Lohn leben zu können, hart zu schuften, schlimme Unwetter, starken Seegang zu erleben, nur wenig Liebe an Land zu erfahren, wo ihn ständig irgendwelche Zahlungen und ewige Besorgungen per Auto erwarten.

Ich erinnere mich jetzt daran, als ich am Nachmittag desselben Tages in das Lehrmittelzimmer im ersten Stock ging, wie klar das Blau über den Sunden war, und ich wußte, daß in diesem Moment, als ich zum Fenster hinaussah, der Eindruck mehr von meinem seelischen Zustand, meinen Gefühlen und meiner Sehnsucht herrührte als vom Meer selbst. Tags darauf ging ich wieder ins Lehrmittelzimmer hinauf, frühmorgens in der Dunkelheit des Winters, bevor es Tag wurde, und blickte unausgeschlafen aufs Meer hinaus und zu den Bergen, aus der unnatürlichen Helligkeit des elektrischen Lichts in die Dämmerung, die trüber war, als die wilde Helligkeit tatsächlich ist, da der Uhr zufolge der Tag bereits angebrochen sein mußte. Ich sah hinaus in die Dunkelheit unterhalb des Hauses, auf die Kiste oder den kleinen Container, der dort auf der Seite lag und auf dem Sjoskip h.f. stand. Ich tat das, um meines Freundes zu gedenken und ihm auf diese Weise nahe zu sein, indem ich einen konkreten, sichtbaren Gegenstand betrachtete, der mit seiner Arbeit und seiner Reederei zu tun hatte. Obwohl ich den Container nicht berühren konnte und ihn in der Morgendämmerung nur undeutlich sah, leistete er mir in gewisser Hinsicht Gesellschaft, während ich die Regale absuchte und das Material für den Unterricht zusammenstellte.

Keiner von meinen Schülern konnte wissen oder ahnen, daß ich oft nicht in das Lehrmittelzimmer im ersten Stock hinaufging, um Unterrichtsmaterial für sie zusammenzusuchen, oder auf die Toilette, um mich zu erleichtern, sondern um mein Gemüt zu beschweren und die Trauer zu verstärken, indem ich eine Weile aus dem Fenster den Container der Reederei betrachtete. Auf diese Weise segelte ich immer weiter und tiefer hinein in die Qual, die Liebe weckt.

Wenn ich wieder ins Klassenzimmer zurückkehre, rötet sich manchmal der Gipfel des Berges. Der Schein ist schwach, aber voller Hoffnung auf einen klaren Tag oder voller Sehnsucht nach einem neuen Tag. Dann, wenn ich begonnen habe, eine andere Klasse weiter oben im Schulgebäude zu unterrichten, erscheinen die Sunde in den großen Fenstern des Raumes, hell und klar, je weiter die Helligkeit den Himmel öffnet. Das Licht ist langsam, doch die Morgendämmerung dringt entschieden aus der Nacht.

Auf einmal war ich während des Unterrichts völlig in Gedanken verloren oder folgte den Schiffen und ihren Fahrten über die Sunde in den Hafen, doch nie zuvor hatte ich ihnen besondere Aufmerksamkeit geschenkt, ich entdeckte die Aussicht zugleich mit der Schönheit, vor allem, wenn man an dem Ort aus dem Fenster blickte, den ich früher bloß als für einen einzigen Zweck notwendig angesehen hatte, nämlich daß sich der Körper dort erleichtern konnte, und ich hatte mich beeilt, hinunter zu meinen Schülern oder Kollegen zu kommen, um über Politik herumzudiskutieren und so zu tun, als ob man von allem zwischen Himmel und Erde eine Ahnung hätte. Jetzt wurde er zu einem Platz für Träumereien, die mehr mit der Jugendzeit zu tun hatten, der Pubertät, als mit dem mittleren Alter eines verheirateten Mannes in seinem Heim oder den reifen Gefühlen eines Vaters dreier Kinder. Aber was zeugt von größerer Reife, als einem voll ausgewachsenen Körper und Charakter zu gestatten, aus dem Ei der Gewohnheit schlüpfen zu dürfen?

Unten im Klassenzimmer sitzen meine Schüler, froh darüber, daß ich kurz verschwunden bin, so daß sie einen Moment miteinander schwatzen und sich mit ihren Privatangelegenheiten beschäftigen können. Währenddessen ergehe ich mich in Klarheit. Einmal als ich wieder in die Klasse zurückkehrte, sprach ein Mädchen gerade von ihrer Traurigkeit darüber, daß ihr Freund auf See war. Es war in der Zeichenstunde. Ich hatte sie zuvor nie besonders beachtet, doch ich begriff, daß wir etwas gemeinsam hatten, während ich schwieg und zuhörte, wie sie offen von ihrem Kummer erzählte, da ihre Liebe und die Trauer, die ihr entsprang, natürliche Reaktionen eines Bedürfnisses waren, das darin besteht, daß man mit einer Meereswelle zusammenfließen möchte, die über einen strömt, doch dann taucht der, der die Klippe ist, rein und unversehrt am Strand auf, wie ein freies und unabhängiges Individuum.

Nachdem ich dem leichten Gezwitscher des Mädchens bis zu Ende zugehört hatte, fragte ich eher aus Neugier denn aus Sympathie:

Ist er Seemann?

Auf einmal schien sie erleichtert. Sie sah mich mit dankbaren Augen an, froh darüber, daß ich an ihren Herzensangelegenheiten Anteil nahm, anstatt sie zum Schweigen zu bringen und zu versuchen, Seele und Hände der Schüler durch Kenntnis und Beherrschung der technischen Zeichnung zu bereichern. Im Nu hatte ich mich von einem langweiligen Zeichenlehrer in ein lebendiges menschliches Wesen verwandelt, und sie antwortete mit etwas gekünstelter Traurigkeit:

Nein, mein Freund ist auf einem Trawler und kommt erst in drei Tagen wieder an Land. Das ist eine schrecklich lange Zeit, eine ganze Ewigkeit. Du weißt einfach nicht, wie das ist.

Was sind drei Tage im Vergleich mit einem langen Leben? dachte ich, doch ich sagte:

Wenn man jung ist, werden drei Tage Trennung von dem, den man liebt, zu einer unendlich langen Zeit, doch das Warten wird durch die Freude beim Wiedersehen vielfach vergolten. Andererseits geht es uns mit zunehmendem Alter immer mehr so, daß man dankbar dafür ist, daß der, den man einmal geliebt hat, für einige Tage fortgeht, so daß man sich von ihm und seiner ständigen, erdrückenden Nähe erholen kann; das kommt daher, daß man in der Hoffnung lebt, jemand käme unverhofft in unser Leben, während er fort ist, ja sogar mehr als nur einer. Wenn man dieses Glück nicht hat, besteht immer noch die Möglichkeit, zu glauben, daß der, der fortgegangen ist, am Ende seiner Abwesenheit die Erneuerung mitbringen werde.

Das Mädchen lächelte freundlich, wie jemand, der zu verstehen vorgibt, was er aufgrund seiner Jugend oder mangels Lebenserfahrung nicht versteht, oder sie tat es vielleicht aus Toleranz gegenüber einem Lehrer, der fast nur unverständliches Zeug redet. Junge Leute verstehen nur das, was konkret ist oder ihnen als völlig simples Beispiel dargeboten wird, als Erklärung von etwas anderem, Komplizierterem; doch falls der Unterricht geklappt hat, begreift der Schüler in den Worten des Lehrers etwas, was ihm vielleicht später einmal im Leben klar wird. Ein normaler Schüler versteht im Spiel der Jugend die unumstößliche Tatsache nicht, daß ein kompliziertes Beispiel eine komplizierte Erklärung erfordert, die am besten unverständlich sein soll, um ein nachhaltiges Verlangen zu wecken, verstehen zu wollen.

Wir sahen einander in die Augen, und ich dachte:

Ob du wohl Verständnis und Toleranz zeigen würdest oder dich weigern, als Schülerin meine Nähe zu dulden, wenn du wüßtest, was keiner wissen darf? Würdest du dann dasselbe sagen, was ich zu dir gesagt habe?

In den nächsten Tagen begann das Mädchen mir unerwartetes Verständnis zu zeigen und zu fragen, wie es meiner Frau ging. Als ich ihr halb im Spaß, halb im Ernst antwortete: »Ach, ihr geht es ganz gut«, da lächelte sie, weil ich ihr eine zweideutige Antwort gab und meine Probleme verbergen wollte, und sie nickte sogar, zum Zeichen dafür, daß auch sie sich im Lebenskampf wacker schlagen und nie über die Liebe klagen wolle, ich hätte sie gelehrt, ihre Probleme zu ertragen. Zum ersten Mal in meiner Berufskarriere hörte ich von einem Außenstehenden, daß ich ein prima Lehrer sei, einer der wenigen an der Schule, der seine Schüler und die Jugend verstand; das kam daher, daß ich es selbst irgendwie schwer im Privatleben hatte, auch wenn ich es nicht zeigte. Der Schülerrat machte dem Rektor den Vorschlag, mich zum Freistundenbetreuer zu machen und jedem, Eltern wie Jugendlichen, wenn sie Mittwoch abends ohne besonderen Grund geradewegs von der Straße hereinkamen, mit Rat und Tat zu helfen, ich käme so gut mit den Schülern zurecht, doch ich lehnte diese Ehre dankend ab.

Du möchtest abends natürlich daheim bei deiner Frau sein, das verstehe ich, sagte der Rektor.

Ja, sagte ich. Unsere Jüngste ist zur Zeit nicht ganz gesund.

Das war dem Mädchen unzweifelhaft zu Ohren gekommen, denn es fing an, taktvoll und voll unangenehmen und sentimentalen Mitgefühls zu fragen, wie es meiner Tochter ginge. Als ich es dabei beließ, mit einem neutralen Lächeln zu antworten, erfuhr ich, daß meine Tochter an einer unheilbaren Krankheit litt, und innerhalb von zwei Wochen hatte sich die Klasse in den meisten Fächern erheblich verbessert, das Pflichtbewußtsein war eine Anstrengung der Schüler, um mir ihre Sympathie zu erweisen und mir durch ordentliche Noten in den mündlichen Prüfungen Mut zu machen. Dann wurde alles wieder wie früher und sogar noch schlechter, und da begann ich nervös zu werden und war auf der Hut, ich horchte, ob nicht irgendwelche seltsamen Geschichten über mich in Umlauf wären. Als ich nichts hörte, was darauf hinwies, war ich erleichtert und sagte spöttisch zu mir selbst, daß man meinen könnte, Reykjavik sei eine Millionenstadt geworden, wo kein Mensch die nicht zu bewältigende Aufgabe lösen kann, tatsächlich das Privatleben jedes einzelnen Menschen auszuspionieren, und jeder ist dem andern scheißegal, nur er selbst zählt, ausgenommen bei den Kommunal- und Parlamentswahlen alle vier Jahre, und in der Zwischenzeit kultivierten die Einwohner ihr Mitleid mit ständigen Spenden für die Notleidenden in der Wohlstandsgesellschaft, die die Rezession durch ein schwindendes Bruttosozialprodukt zersetzte.

Ich hatte nicht aus eigenem Antrieb nach der neuen Reise des Körpers auf den unergründlichen Wegen der Liebe gesucht, sondern es war der Tod eines alten Freundes und Schulkameraden, der mir unerwartet Flügel verlieh. Als er seinen Lebensfaden abschnitt, übernahm ich das, was von ihm immer noch da war und was er verlassen hatte: Ich übernahm seinen Geliebten. Es war ganz, als wäre ich durch seinen Tod gestärkt worden; eine schreckliche Lebenslust ergriff mich und zügelloser Optimismus, gepaart mit Freude und Hunger nach Sättigung. So kann des einen Tod des andern Brot werden oder das Manna in der Wüste des Lebens. Der, der ins Brot beißt, bittet die Allmacht darum, es ihm täglich zu geben, doch zugleich ruft er etwas in sich selbst an und befiehlt ihm zu weichen, damit er weiter in den Fesseln der Gewohnheit am Tisch sitzen darf, wo er Tag für Tag dasselbe Mischbrot aus der Hand seiner Frau und des Bäckers ißt.

Liebe im Versteck der Seele

Подняться наверх