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2. Maria im Licht 1

Selten schneit es in der Weihnachtszeit und wenn, dann liegt nach wenigen Stunden schmutziger Schneematsch auf den Straßen. Im Hof, über den bei Ostwind der Rauch vom Kraftwerk Klingenberg zieht, färbt rostrote Asche den frisch gefallenen Schnee und verdirbt den Kindern die Freude daran.

„Schieben Sie den Dreck endlich weg!“ Die alte Möhring, die rosa gepuderte Varieténummer aus der Emser Straße, keift den Hauswart an. Die Mutter und Uli am Müllkasten horchen auf.

Als er Salz streut, wird sie noch schriller: „Das Salz frisst die Schuhe auf!“ Sie meint ihre weißen Satinpumps mit schief getretenen Pfennigabsätzen und Schleifen, von funkelndem Strass besetzt.

Uli starrt auf die Schuhe und wundert sich. „So was im Winter!“ Selbst für den Weg zum Müllkasten hat sie ihre Stiefel angezogen.

„Das Salz macht die Füße blutig!“ Die Möhring meint die Pfoten ihres Hundes. Der kleine weiße Spitz zerrt an der Leine und kläfft die Hosenbeine des Hauswarts an.

Die Möhring hat eine flinke Zunge, die hinter ihren Zahnlücken auf der Lauer liegt. Ihr Auftritt ist wie ein Platzregen, den der Hauswart schweigend erträgt.

„Dass sie nicht friert“, brummt er, als sie im seidenen Morgenrock davonweht.

Wenn Schnee liegt, bilden sich kleine Pfützen in den Fußspuren. Es gibt mehr Fußspuren als Schnee. Die Kinder formen pappige Schneebälle und dürfen keinen Schneemann bauen.

„Das wird doch nur ein Haufen Schmutz“, behauptet die Hauswartsfrau und bleibt unerbittlich.

Die Winterstiefel der Kinder sind zum Schnüren, mit vielen Ösen, und die Mützen aus Wolle, die kratzt, und die langen braunen Wollstrümpfe werden mit Strumpfhaltern an einem Leibchen befestigt. Das Anziehen im Winter ist mühsam, der ganze Winter ist mühsam. Wenn der Kohlenträger kommt, zieht sich eine Spur aus schwarzem, glitzerndem Brikettstaub vom Flur durch das Schlafzimmer der Eltern bis zum Balkon und auf dem Balkon weht ein scharfer Wind. Manchmal heult er im Rauchabzug, dann ziehen die Öfen nicht gut und die Kacheln werden kaum warm. Sie müssen aber heiß sein, wenn man nicht frieren will. In der Küche, wo es feucht ist, bilden sich Eisblumen an den Fensterscheiben und ein schmieriger rosa Schwamm gedeiht in den Ritzen der spröden Holzrahmen.

Noch am Vormittag des Heiligen Abends kommt der Mann mit der singenden Säge in den Hof und spielt Süßer die Glocken nie klingen. Seine Frau sammelt das Geld ein, das in Zeitungspapier eingewickelt von den Hausbewohnern heruntergeworfen wird.

Die Fenster in den Straßen leuchten, sobald es dunkel ist.

„Am Heiligen Abend stellen wir Kerzen in die Fenster für unsere Verwandten in der Ostzone. Alle tun das“, sagt die Großmutter.

„Aber das sehen die doch gar nicht“, wendet Uli ein.

„Als Kinder waren wir nicht so vorlaut“, rügt die Großmutter sie und richtet den Hut für den Gottesdienst.

Vor der Magdalenenkirche drängen sich die Leute, jeder will vor dem anderen hinein. Empört richtet die Großmutter sich auf.

„Und so was in der Christnacht! Lassen Sie doch mal die Kinder durch!“ verlangt sie laut.

Uli und Hubert schlüpfen unter erhobenen Armen durch das Kirchenportal, drehen sich nach den Eltern und der Großmutter um und winken. Die Eltern und die Großmutter bahnen sich einen Weg an den Leuten vorbei, streifen Mäntel und Hüte.

„Ich habe einen Schwerbeschädigtenausweis“, sagt die Großmutter drohend und die Nächststehenden weichen zurück.

Die Familie sitzt oben, wie jedes Jahr auf der Empore rechts, der Kanzel gegenüber.

Wenn der Superintendent predigt, bleibt kein Platz frei und zu spät Kommende müssen hinter den letzten Sitzbänken stehen.

Der Superintendent, kerzengerade, mit akkurat gescheitelter Frisur, pechschwarzen Haaren und makellosem Profil ist eine markante Erscheinung, wenngleich von kleiner Statur. Um größer zu sein, besteigt er auf der Kanzel eine Fußbank. Jedenfalls behauptet das Ulis Vater. Der Mann, der sich über die Grenzen der Kirchengemeinde hinaus einen Ruf als überragender Prediger erworben hat, weckt seine Missgunst. Der überlegenen Rhetorik des Predigers zum Trotz hakt der Vater sich an einem vermeintlichen Makel fest. Dabei ist der Superintendent ein blendend aussehender Mann und das mit der Fußbank ist eine Unterstellung.

Im Altarraum steht die mit Heu gefüllte Krippe, eine Laterne daneben, die der Josef ergreifen wird, wenn er mit Maria, seinem vertrauten Weib, Platz nimmt.

Der Superintendent hat einen wachen Blick und blitzende Zähne.

„Liebe Gemeinde“, sagt er, die Zähne entblößend als lächelte er, „das Kind, dessen Geburt wir in dieser Christnacht feiern, war auch ein Jude.“

Das letzte Wort bleibt über den Köpfen der Zuhörer hängen. Dort zittert es ein wenig nach.

Uli weiß nicht, was dieses Zittern bedeutet. Ihre Augen wandern vom Lichterbaum zum großen Adventskranz mit den dicken roten Kerzen, von der Krippe zum Altar, auf dem die Heilige Schrift liegt, ein riesiges Buch mit Goldschnitt, und vom Weihnachtsstern unter dem Chorgewölbe zur Empore mit der Orgel. Auf jeder Brüstung leuchten weiße Kerzen. Überhaupt erfüllt ein unbeschreibliches Leuchten den ganzen Raum. Selbst die Organistin, eine weißhaarige Dame mit Dutt, in weißer Bluse, glüht wie eine lachsfarbene Rose. Die Gesichter der Chorsänger leuchten und die Orgel leuchtet und die Töne leuchten. Es ist wohlig warm und Uli schließt die Augen, atmet den Duft von Stearin, hört den Superintendenten von dem jüdischen Kind sprechen, einem Knaben, der aus der Wurzel Jesse stammt.

Und dann treten Maria und Josef an die Krippe, betten den holden Knaben so tief ins Stroh, dass niemand ihn sehen kann, und ganz sanft wird die Stimme des Superintendenten, um das Kind nicht zu erschrecken. Er liest die Weihnachtsbotschaft und als die Gemeinde Stille Nacht singt, gehen die Lampen aus und nur die Kerzen an den Bänken und auf den Brüstungen strahlen mit einem Heiligenschein um die Flamme herum in den Raum. Und es ist zum Wegsterben schön und sollte niemals aufhören, selbst um die Preisgabe der Geschenke nicht, die zu Hause, neben dem Lichterbaum aufgebaut wie in jedem Jahr, auf die Kinder warten und im Kerzenschein ebenfalls leuchten werden, anders als die Dinge sonst, als wären sie just an diesem Abend aus der Dunkelheit heraus zum Dasein erweckt worden.

Unter dem Geläute der Glocken schieben die Leute sich aus dem wärmenden Lichterglanz ins Freie. Maria und Josef haben sich aufgemacht und stehen neben dem Ausgang, beide halten eine Kerze in einer Hand und einen Korb für die Kollekte in der anderen. Maria ist so zart, so blau das glänzende Tuch über ihrem Scheitel, das Gesicht im Schein einer dicken weißen Kerze so beklemmend schön.

Uli, verzückt starrend, wird weitergeschoben. Verzückt, weil Maria doch eben ganz dicht neben ihr war, die leibhaftige Maria, hier in der Magdalenenkirche, mitten im kalten Winter. Und sie steht wie ein Wunder im Licht der Kerze und lächelt und Uli durfte sie anschauen.

„Das ist doch die echte?“ Uli blickt zur Mutter empor.

„Ja, was denn sonst!“

Draußen die Laternen summen und werfen ihr trübes Licht auf Schneematsch und Hundekot. In den Fenstern sind Kerzen angezündet für die Schwestern und Brüder jenseits des Eisernen Vorhangs, an die ein Radiosprecher mit feierlichem Tonfall seine weihnachtlichen Grüße richten wird.

„Die winzigen Flammen tanzen vor Freude“, behauptet der Vater.

„Warum vor Freude?“

„Weil alle Leute an diesem Abend so friedlich sind.“

„Ich weiß ja nicht!“ Die Mutter denkt an einen erbitterten Streit der beiden Großmütter unter dem Christbaum. Nichts war so begehrenswert an diesem Abend wie der kleine bunt lackierte Puppenwagen von den Großeltern aus Moabit. Die Geschwister balgten sich um seinen Besitz und die Großmütter redeten auf sie ein. Jede hatte einen anderen Standpunkt zu der Frage, wer mit Puppen spielen darf und wer nicht. Was der aufbrodelnde Wortwechsel der beiden Großmütter an Feindseligkeiten offenlegte, konnte an diesem Fest von keinem ignoriert werden. Nur die Geschwister hatten sich längst versöhnt.

Hubert formt aus dem Schneematsch unter den Laternen einen festen Ball und wirft ihn an die verschnörkelte Wand des grünen Pissoirs vor dem Friedhof mit dem schmiedeeisernen Torbogen, auf dem in goldener Schrift Gottesacker steht.

„Eine elektrische Eisenbahn, wetten!“ sagt er zu Uli.

Uli träumt von einer roten Federtasche, einer roten Zeugnismappe und einem roten Hut, der oben kreuzweise eingekerbt ist wie eine Tiroler Frühstückssemmel. Und von einem kleinen Hund der Marke Steiff.

„Warum man sich ausgerechnet in der Christnacht beschimpfen lassen muss!“ wettert die Großmutter.

„Wovon redest du?“ fragt die Mutter.

„Von der Predigt. Was hab ich denn mit den Juden zu tun?“

Der kleine Hund der Marke Steiff bewegt sich im flackernden Licht der Christbaumkerzen wie ein lebendiges Wesen. Uli drückt ihn an ihre Brust und spürt sein Herzklopfen. Den roten Hut hat das Christkind verweigert und die rote Zeugnismappe ist braun.

„Die hast du doch bis zum Abitur“, begründet die Mutter den Entschluss des Christkinds.

Das braune Kunstleder hat Pockennarben und sieht aus wie ein Kuhfladen, der Blasen wirft.

Café Messerschmidt ist weggezogen

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