Читать книгу Café Messerschmidt ist weggezogen - Gudrun Parnitzke - Страница 8

Оглавление

4. Ziegenbockseele

Früh morgens um halb sechs singen sie nicht, jetzt zur Mittagszeit, in der strahlenden Sonne eines klaren Himmelfahrtstages, an dem, nicht ungewöhnlich für die Jahreszeit, ein frischer Wind weht. Kein Tag für Sommerkleider und Uli, die sich gerade aus einem Katarrh herausgequält hat, soll auf dem Balkon eine Mütze tragen. Von dort blickt sie auf eine Menschenmenge, die sich nach und nach auf dem Platz vor der Feuerwache versammelt.

Bis tief in die Nacht haben die Zimmerleute getrunken, gesungen und getanzt, unten in der Kneipe. Das ganze Haus hat gebebt, bis in das Dachgerüst hinauf, unter dem rhythmischen Stampfen ihrer schweren Schuhe und dem schallenden Abklatschen. Dazu endlose Gesänge.

Früh morgens um halb sechs dröhnte es aus einem offenen Fenster. Darum aufgeschaut, fest Gerüst gebaut.

In dem von Bierdunst geschwängerten Gastraum drängten sich weit über hundert Leute, vorwiegend Männer, kräftige Kerle, einige sind mit ihren Familien gekommen.

„Wo die geschlafen haben bis in den Vormittag hinein?“ fragen sich die Eltern. Beide haben in der Nacht kein Auge zugetan.

Einen Tag zuvor war der Wagen der Berliner Kindl-Brauerei mit den beiden Kaltblütern vorgefahren und die stämmigen Bierkutscher mit ihren langen Lederschürzen vor dem Bauch hievten die schweren Holzfässer vom Wagen und rollten sie durch eine Klappe in den Keller der Kneipe, während die Pferde ihre Mäuler in die Hafersäcke tauchten, die man ihnen umgehängt hatte, und dösig auf den Körnern herummalmten. Hubert und andere Jungen auf der Straße standen daneben und starrten wie immer nur auf das Glied der Tiere, wie es lang und länger wurde, bis es wie ein kleiner Rüssel zwischen den Flanken hing und dann in kräftigem Strahl den Urin ausstieß, der sich schäumend am Rinnstein sammelte und in einen Gully abfloss. Kaum war die Bierkutsche fort, fuhr der Eismann mit heiserem Hupen im dreirädrigen Lieferwagen vor und parkte am Straßenrand zwischen den dampfenden Pferdeäpfeln. Durch die hintere Klappe des Autos fuhr er mit einem Eisenhaken in den Laderaum, eine längliche Eisstange schlingerte nach vorne, wurde in einen Lederschurz gehüllt und von dem Mann im Eiltempo an die Kelleröffnung getragen, etliche Male.


„Wo die alle herkommen?“ Die Eltern sehen immer mehr Zimmerleute zur Kneipe strömen, alle mit Bündel und Wanderstab, sehr adrett die weißen Hemden.

Die Nachbarin Frau Reiss ist einfach heruntergegangen und hat sich unter die Leute gemischt. Man kann aus der Kneipe frisch gezapftes Bier holen, Hubert wird hin und wieder vom Vater mit einem Bierkrug nach unten geschickt.

Ein paar Gäste aus Holland seien dabei, berichtet Frau Reiss, ansonsten kämen einige aus dem Ruhrgebiet und aus dem Norden und mehrere aus Ostdeutschland. Die wollten ihrem Regime zeigen, dass sie selbstständige Handwerker sind, die sich nicht in eine staatliche Genossenschaft pressen lassen, und ihre Verbindungen zum Westen halten.

„Die Funktionäre im Osten nennen sie Krauter und legen ihnen alle möglichen Steine in den Weg,“ erzählt Frau Reiss. Umso besser, findet sie, dass alle ihre typische Kluft mit den schwarzen Schlaghosen tragen, mit Wams und Hemd, einem Schlapphut oder Zylinder und manche mit einem goldenen Ohrring.

„Ehrliche Leute, heißt es“, schwärmt die Großmutter, voller Sympathie für ihre Traditionen. „Und das vor unserer Haustür!“

„Mit zünftigen Gesellenliedern“, ergänzt der Vater schmunzelnd. Und die Mutter: „Hauptsache, nicht zotig!“

Frau Reiss lacht kurz auf, dann sagt sie: „Der goldene Ohrring ist für die Beerdigung.“

„Wie bitte?“ Die Eltern machen große Augen.

Als Wandergesellen dürften die Zimmerleute kein Geld bei sich tragen, hat Frau Reiss erfahren. Das Gold aber wäre für den Sarg, im Fall ihres Todes. „Täglich in schwindelnder Höhe!“ gibt sie zu bedenken. Da könne es schnell mal aus sein.

„Wer schon vorher reichlich trinkt, kann ja nicht mehr viel versäumen“, bemerkt die Mutter spitz. Die gestörte Nachtruhe hat sie reizbar gemacht.

Unten auf dem Platz ist ein Gewimmel von Menschen, viele Kinder darunter, die sich gegenseitig jagen. Ein Kreis bildet sich, wieder Männergesang.

Uli will auf die Straße, trotz der gerade überstandenen Krankheit, und die lästige Mütze, ohne die sie nicht gehen darf, nimmt sie in Kauf. Ihre rechte Hand umklammert eine kleine Holzpuppe, von der sie sich nicht trennen wollte, solange sie mit Fieber im Bett lag, einen kleinen Sternsänger, der zum Weihnachtsschmuck gehört. Bevor er mit den anderen Figuren in Seidenpapier gewickelt in einem Karton verschwinden sollte, hatte Uli ihn an sich genommen. Sie liebt ihn wegen seiner sanften Miene und der Hingabe zum Gesang, die sich darin ausdrückt.

In der Mitte des Platzes stehen sich zwei Reihen von Zimmerleuten zum Abklatschen gegenüber, Uli kennt das von den größeren Mädchen, wenn sie auf der Straße ihre Geschicklichkeitsspiele vorführen.

Unter den Kindern ist eins, das nicht mithalten kann beim Jagen, ein Junge mit schmalem Kopf, von schmächtigem Körperbau. Zwei eng zusammenstehende Augen mustern Uli.

Was sie hier zu suchen habe, fragt der Kleine und Uli erschrickt vor seinem Blick. Mit blassen, dünnen Händen versucht er sie fortzuschieben und Uli weicht einen Schritt zurück.

„Spinnenhände“, denkt sie. Natürlich hat sie sofort bemerkt, dass der Junge hinkt. Mit der rechten Fußspitze berührt er knapp den Boden, zieht das Bein nach. Kraftlos wie ein schwächeres Geschwisterkind hängt es neben dem gesunden Bein herunter, der verkümmerte Fuß steht schief.

Wieder wird Uli von dem Kind zur Seite geschoben, die spitzen Gelenkknochen der schmalen Fäuste bohren sich durch ihre Jacke.

„Du gehörst nicht hierher!“

Dass Uli hier zu Hause ist, scheint er nicht zu begreifen. Uli ist die Fremde und bekommt es zu spüren. Vergeblich versucht der Junge sich an ihr hochzuhangeln, um ihr die Mütze vom Kopf zu reißen und sie wagt nicht das Kind zurückzustoßen. Es könnte straucheln und am Boden liegen bleiben mit verdrehten Gliedern.

Als der Junge entdeckt, dass sie schützend ihre linke Hand über die Holzpuppe hält, greift er nach der Figur. Uli dreht ihm den Rücken zu, aber er lässt sich nicht abschütteln, als sei er wütend, dass Uli etwas beschützt. Und dann gelingt es ihm doch der Puppe einen Arm abzureißen. Uli bückt sich rasch zwischen den Beinen der Leute, taucht wieder auf, das Ärmchen in der fest geschlossenen Faust geborgen. Sie sieht wie der Junge sich zwischen den Erwachsenen davonmacht, fühlt sich noch einmal von seinem tückischen Blick berührt, als er sich umdreht, und empfindet einen Ekel.

„Ziegenbockseele“, geht es ihr durch den Kopf. Beklommen zieht sie sich aus der Menschenmenge zurück.

Oben auf dem Balkon gesellt sie sich zu den Eltern. Die Zimmerleute lassen das Bier in gläsernen Stiefeln kreisen und trinken unter dem anfeuernden Beifall der Menge so viel wie ihren Kehlen fassen können. Einer von ihnen, ein bärengleicher Kerl, der alle überragt, stemmt einen besonders großen Stiefel in die Höhe.

„Das sind doch mehr als zwei Liter“, vermutet der Vater.

Der Zimmermann trinkt und trinkt, er wankt kurz, trinkt weiter, leert unter immer lauter werdendem Johlen und Applaus den Stiefel, setzt ihn ab, schwankt für einen Moment und steht.

Den hinkenden Unhold mit der Ziegenbockseele kann Uli in der Menge nicht mehr ausfindig machen. Das mit der Ziegenbockseele weiß sie vom Vater. Böse Menschen haben eine. „Ob sie damit auf die Welt kommen?“ Uli hätte es gerne gewusst. Noch nie hat sie den Vater gefragt, vielleicht weil sie ahnt, dass er auf solche Fragen nicht vorbereitet ist.

Café Messerschmidt ist weggezogen

Подняться наверх