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3. Ziegenpeter

Die Mutter eilt quer über den Marktplatz hinter der Eisenbahnbrücke, Uli an ihrer Hand. Kein Markt heute, der Platz ist leer und schon von Weitem sehen die beiden ein paar Mütter mit ihren Kindern vor der Arztpraxis stehen.

„Wieder nicht die Ersten!“ ärgert die Mutter sich, beschleunigt noch einmal den Schritt.

Sie sei eine Kapazität, hatte die Nachbarin den Eltern versichert, als sie für ihren Erstgeborenen eine Kinderärztin brauchten. Noch war die Umgebung nicht vertraut, die zugeteilte Neuköllner Wohnung zwei Jahre nach dem Ende des Krieges gerade erst bezogen worden. Uli war noch nicht geboren. Der Bruder, ein Säugling, machte der Mutter Sorgen.

„Aber ich warne Sie“, hatte die Nachbarin nach einigem Zögern hinzugefügt. „Sie ist gefürchtet! Sie maßregelt die Mütter.“

Ulis Mutter, entschlossen sich nicht maßregeln zu lassen, begriff schnell, dass dieser Vorsatz nicht zu halten war.

„Wie auch“, verteidigte sie sich zu Hause. „Ein Kind ist kein Spielzeug für eine alte Frau, die nicht mehr alle Tassen im Schrank hat!“ zitierte sie die Ärztin. „So kanzelt sie die Mutter eines kleinen Jungen ab. Wenn die Frau putzen geht, muss der Junge zu seiner Großmutter.“

Vor der Praxis reiht die Mutter sich in die Warteschlange ein, ungeduldig schon jetzt, wo die Warterei doch erst beginnt, wenn alle im Wartezimmer sitzen, einem stickigen Raum mit abgeschabten Stühlen.

Hinter dem rautenförmigen Fensterchen in der Eingangstür erscheint ein Kopf mit weißem Kraushaar und bringt Bewegung in die Schlange. Der Kopf gehört der Schwester. Die Frau Doktor sei noch unterwegs: Hausbesuche!

Die Schwester lässt nur die Ersten, die ein Rezept brauchen, in den Flur. Es weht ein kalter Wind. Ziegenpeterzeit. Und endlich kommt sie.

Die Frau Doktor trägt einen einfachen dunkelgrauen Mantel mit einem Gürtel, wie ein Soldat. Dabei ist sie wie ein General. Beklommen schauen die Mütter auf ihre schwarze schwere Ledertasche, die Gespräche sind verstummt. Flüchtig mustert die Ärztin die Wartenden vor der Tür. Noch richtet sich ihr Blick aus den grauen, leicht hervorstehenden Augen nicht auf Einzelne.

Nur einmal, in der U-Bahn, hatte die Mutter sie ganz anders erlebt. Mit ein paar jungen Leuten war die Ärztin zugestiegen. Es war eine aufgekratzte Runde, laut und ausgelassen, zu später Stunde. Vielleicht hatten alle etwas getrunken. Die jungen Frauen, herausgeputzt mit Lippenstift und rotlackierten Fingernägeln, steckten sich Zigaretten an, auch die Ärztin rauchte. Bis sie die Mutter entdeckte, die mit verlegenem Blick ein Kopfnicken andeutete, das unerwidert blieb. Die Mutter, erleichtert an der nächsten Station aussteigen zu müssen, hatte sich beim Vater eingehakt.

„Sie wird es mich spüren lassen.“

„Was denn?“ wollte der Vater wissen.

„Dass ich sie beobachtet habe.“

„Alle Bescheidsager in den Flur“, befiehlt die Ärztin mit tiefer Stimme, und als es heißt, die Schwester habe die Bescheidsager schon hereingelassen und ihre Rezepte vorbereitet, werden die Gesichtszüge für einen flüchtigen Moment weich.

Die Schwester beschwichtigt schluchzende Mütter und vertröstet die Wartenden. Erscheint ihre spitze Nase unter dem weißen krausen Haarschopf im Türspalt zum Sprechzimmer, halten alle den Atem an.

„Wieder nicht!“ Die Mutter seufzt und Uli starrt gelangweilt auf die Laubsägefiguren an der Wand. Rotkäppchen und der Wolf, dem eine rote Zunge aus dem Maul hängt, ein dürres Männlein mit einer roten Kappe und Stulpenstiefeln, ein rotwangiger Junge, Flöte blasend, auf einem dreieckigen Rasenstück. Uli verabscheut das dürre Männlein und auch das Bambi gefällt ihr nicht. Diese ovalen weißen Glotzaugen mit langen Wimpern.

„Warum solche Augen?“, fragt Uli die Mutter und die sagt: „Walt Disney eben! Mickey Maus.“

Neben dem Walt-Disney-Bambi geht die Tür zum Wartezimmer auf und eine Schönheit tritt ein, einen winzigen Säugling auf dem Arm. Dem größeren Sohn steckt ein Wattebausch in jedem Ohr. Uli schaut weg, weil sie mit dem Jungen aus ihrer Klasse nicht reden mag. Was soll sie auch reden mit einem, der auf einem Gehöft am Richardplatz zwischen Brautkutschen, Pferden und einem weißen Mercedes aufwächst. Still und anmutig wiegt seine Mutter den schlafenden Säugling auf den Armen. Sie ist so schön, dass Uli die Augen nicht von ihr wenden kann, so vollkommen, dass die Gespräche der anderen Mütter verstummen. In gereiztem Tonfall weisen sie ihre Kinder zurecht, ihre Kommandos kommen wie ein Blitz aus heiterem Himmel und werden erschrocken befolgt.

„Wieder nicht!“ zischt die Mutter, nachdem die Tür aufgegangen ist und die Schönheit mit ihrem Neugeborenen den Vortritt hat.

Endlich im Sprechzimmer erwartet Uli die übliche Routine. Ein kaltes Metallteil wird auf ihren Scheitel gepresst: Normal groß, aber viel zu dünn. Ein Holzspatel drückt ihre Zunge herunter. Keine Drüsenschwellung mehr, der Ziegenpeter ist längst überstanden. Ein- und Ausatmen beim Abhorchen der Lunge. Unter dem TBC-Pflaster der juckende Ausschlag: Das heißt, alles ist in Ordnung bei ihr, die schon als Kleinkind gegen Tuberkulose geimpft wurde.

Aus Sicherheitsgründen, denn die Krankheit war in der Familie. Der Vater mit einer Tuberkulose im Jugendalter wurde vom Wehrdienst ausgeschlossen und durfte kein Soldat werden.

„So hat er den Krieg überlebt“, sagt die Großmutter manchmal, immer mit einem „Gottseidank!“ hinterher. Und die Mutter spöttisch: „Und keine Heiratserlaubnis vom Staat für einen mit TBC.“

„Wäre der Krieg nicht verloren gegangen“, hat sie den Kindern erzählt, „gäbe es euch gar nicht.“ Aber die Kinder verstehen nicht, wer sie nicht hatte haben wollen und warum, noch weniger, was erbgesunder Nachwuchs heißt. Halblaut, ohne die Kinder anzusehen, hatte die Mutter gesagt: „Wie gut, dass es anders gekommen ist.“ Uli kann sich nicht vorstellen nicht zu sein. Sie findet es großartig aus einem Kopf herauszuschauen, der nur ihr gehört, einen Raum für Gedanken zu haben und abertausend Bilder. Es wäre doch schade um diese Bilder, gäbe es sie nicht.

Der forschende Blick aus den hervorstehenden Augen, der prüfende Fingerdruck der Ärztin, ihre tiefe Stimme: alles ein wenig unheimlich. Die Ärztin ist größer als die Mutter, die selbst keineswegs klein ist, und viel größer als die zierliche Schwester. Die kommt mit dem Besteck für die Blutabnahme. Ein Blutstropfen aus Ulis Zeigefinger wird mit dem Glasröhrchen angesaugt, Uli sieht einen dünnen roten Strich zu den zusammengepressten Lippen der Ärztin aufsteigen und fragt sich, wo das endet.

„Ob sie das trinkt?“

Dann tupft die Ärztin etwas Blut auf eine hauchdünne Glasplatte und klemmt sie unter das Mikroskop. Für das Stillhalten bekommt Uli einen Sahnebonbon.

Die Ärztin hätte das Kind gern etwas robuster und weniger blass, sie schreibt Lebertran Kapseln auf und rät der Mutter:

„Versuchen Sie es mal mit Höhensonne!“ Etwas mehr Gewicht wäre auch von Vorteil. Gute Esser, schlechte Esser, so sei das bei Kindern. Wie es damit stünde?

„Die Kinder frühstücken schlecht“, gesteht die Mutter und erwähnt den Kakao, den die Großmutter morgens kocht. „Den mögen sie sehr.“

„Kakao?“ Das gedehnte Echo der Ärztin mit hochgezogenen Augenbrauen. Die grauen Augen werden eisig. „Von jetzt ab bestimmen Sie, was auf den Tisch kommt!“ befiehlt sie. „Und lassen Sie das mit dem Kakao! Kakao ist für Affen und Negerkinder.“

Die Mutter kniet vor Uli und schnürt ihr die Schuhe zu, zieht fester an den Bändern als sonst.

Uli blickt auf den Rücken der Ärztin, die sich zum Schreiben gesetzt hat, das Stethoskop umschließt ihren Hals wie eine Zange, deren Enden in ihrem grauen Haarknoten verschwinden.

„Negerkinder haben’s gut!“ denkt sie neidisch.

Die Schwester kommt an den Schreibtisch, beugt sich herunter und spricht mit der Ärztin. Die hebt ihren Kopf und schaut die Schwester an. Es sieht aus, als ob sie lächelt. Uli entgeht es nicht.

„Was die alles darf!“

Sie sagt es der Mutter auf dem Heimweg.

„Aha“, antwortet die Mutter zerstreut.

Am Hauseingang treffen sie Frau Hüsch, die Nachbarin.

„Alles in Ordnung?“ fragt sie. Uli nickt: „Ich habe kein TBC.“

„Das wäre ja noch schöner!“ Frau Hüsch lacht und dann fragt sie die Mutter mit gedämpfter Stimme, als würde sie belauscht: „Kommen Sie denn zurecht mit ihr?“

Die Mutter schulterzuckend: „Es ist schwierig. Ohne einen Rüffel geht es niemals.“

Frau Hüsch, als hätte sie es geahnt, betont: „Sie verachtet die Mütter.“

Gleich nach dem Ende des Krieges sei die Praxis eine Zeit lang geschlossen gewesen, sagt Frau Hüsch. Man tuschelte über ein Berufsverbot für die Ärztin.

„Umerziehung für Parteigenossen, vermutete man.“ Frau Hüsch hebt ihre Schultern. Genau wüsste sie es natürlich nicht.

„Ach was“, sagt die Mutter halblaut.

Vom Pfannen säubern in einer Klinik will die Nachbarin gehört haben. Und nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: „Immer noch besser als Trümmerberge abräumen.“ Dabei schaut sie auf ihre eigenen Hände.

„Nun ja, wir haben den Krieg verloren!“ Mehr fällt der Mutter nicht ein.

„Es dauerte nicht lange, bis sie zurückkam“, fährt die Nachbarin fort, „und alles ging weiter wie zuvor. Und wissen Sie, was die Leute noch gesagt haben? Sie soll ihre kleine Jüdin versteckt haben!“

„Ach was“, sagt die Mutter noch einmal.

Frau Hüsch schweigt. Sie beobachtet die Mutter und fragt: „Ist sie noch da, die Schwester?“

„Noch da?“ Die Mutter schaut Frau Hüsch verwundert an. Natürlich sei eine Schwester in der Praxis. „Zum Glück!“ meint sie. „Eine ausgesprochen freundliche Person.“

„Ja, gewiss!“ Frau Hüsch spitzt ganz leicht die Lippen. „Sagt man nicht auch: die bessere Hälfte?“

Oben, als sie vor der Wohnungstür steht, tippt die Mutter sich kopfschüttelnd an die Stirn.

„Was ist denn?“ will Uli wissen.

„Bessere Hälfte! Was manche sich so ausdenken“, sagt sie, ohne Uli eine Antwort zu geben.

Die Pockenschutzimpfung für Uli wird nicht bei der Kinderärztin, sondern beim Hausarzt der Großmutter durchgeführt, wo es keine zermürbenden Wartezeiten gibt. Im Sprechzimmer sitzt eine Schwester am Labortisch, darauf eine riesige Glasglocke, in der es von weißen Mäusen wimmelt. Kleine rosa Pfötchen stemmen sich gegen die Glaswand, winzige zitternde Schnauzen suchen vergeblich ein Schlupfloch ins Freie.

Sprachloses Staunen von Uli beim Anblick der Glasglocke. Die üppige, hochgewachsene Schwester trägt einen blütenweißen Kittel mit kurzen Ärmeln. Sie wendet Uli ihr großes, hübsches Gesicht zu, öffnet ein wenig die rot geschminkten Lippen und lächelt. Dann nimmt sie einen Gummischlauch zwischen Daumen und Zeigefinger und schließt ihn an das Innere der Glocke. Unter kurzem Zischen öffnet sie das Ventil einer Flasche am anderen Ende des Schlauches und mit einem Schlag fällt der wimmelnde Haufen in sich zusammen. Eine reglose Masse weißer Mäuse liegt übereinandergeschichtet auf dem Boden des Glases, hier und da zuckt noch ein Beinchen.

Uli rührt sich nicht. Sie sagt nichts. Dass die Mäuse tot sind, sieht sie selbst.

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