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WO WOHNE ICH DOCH GLEICH?

ÜBER DIE IDENTITÄT EINER ADRESSE

Eine Insel, ein Fels, eine Insel, ein Fels – Insel, Fels, Inselfels, Felseninseln und Meer. Meer, endloses Meer, von Tausenden Schären durchsetzt, diesen kleinen Inselchen, mal mit Bäumen, mal ohne, oft mit einem Haus, manchmal sogar mit zweien bestanden. Und auf dem ewig blauen Wasser die weißen Spuren der Boote. Menschen kann Greta nicht erkennen, obwohl sie einen Fensterplatz im Flugzeug hat und gebannt vor der Scheibe hängt. Und es gibt viel zu entdecken dort an der Küste vor Helsinki. Doch kann man das eigentlich Küste nennen? Ist das Schärenmeer nicht viel eher ein Lebensraum mitten im Wasser, ganz egal, wo die Küste liegt?

JEDEM SEINE INSEL – FINNLANDS SCHÄRENGARTEN

Was im Altnordischen sker und im Althochdeutschen scorro hieß, kennen wir heute noch von der englischen shore, der Küste. Der Begriff Schäre ist seit dem 17. Jahrhundert im deutschen Sprachraum vor allem für die zwischen Schweden und Finnland liegenden kleinen bis mittelgroßen Felseninseln im Gebrauch. Es gibt dort so viele, dass man fast trockenen Fußes über das Meer gelangt. Na, nicht ganz, die größte offene Strecke ist doch 40 Kilometer lang. Aber mitten zwischen den beiden nordischen Nachbarn liegt ein ganzer Inselhaufen, Åland genannt, der zu Finnland gehört, aus mehr als 6.500 Eilanden besteht und zahlreiche Selbstverwaltungsrechte zuerkannt bekommen hat, vor allem im Kultur-, Bildungs- und Umweltbereich. Schwedisch ist auf Åland einzige Amtssprache.

Große, behäbige Fähren ziehen langsam ihre Bahn, wie auf einem Band geführt bewegen sie sich durch die unüberschaubar grünblaue Landschaft. Das Flugzeug ist schon kurz vor der Landung, aber es schwebt nicht näher an die Inseln heran, nein, es überfliegt tatsächlich auch noch einige Streifen dicht bebautes Land. Land, von dem man kaum etwas sieht vor lauter Straßen und Häusern, aber genau dort lässt es sich nieder, zwischen der dichten Bebauung sinkt es hinab.

Die Fahrtstrecke der U-Bahn ins Stadtzentrum ist lang genug, um ein bisschen anzukommen, und auch unspektakulär genug, um die Zeit für einen Moment der Entspannung zu nutzen. Am Bahnhof den Bus zur Wohnheimvermittlung finden: auch kein Problem, wenn nur diese Hitze nicht wäre. 29 Grad im Schatten, ein Hoch über Russland, das die konstante Wärme bis an die Ostseeküste schickt. Greta zieht ihre Wanderjacke aus und legt sie quer über den Trolley. Viel los ist hier nicht, ein Donnerstag Anfang Juli, alle Kinder haben Ferien und die Erwachsenen scheinen auch wenig Lust zu verspüren, um halb vier durch die Straßen zu schlendern. Halb vier, nur noch eine halbe Stunde Zeit, bis das Wohnheimbüro schließt! Welcher Bus ist doch gleich der richtige ... Es quietscht, es surrt. Kein Geräusch mehr zu hören. Dann klackt etwas, es fängt wieder an zu surren, es wird lauter, doch schnell wieder leiser, da fährt sie dahin, die Straßenbahn, genau die richtige Nummer, genau die also, mit der sie hätte fahren müssen.

Auf die vorletzte Minute steht Greta etwas atemlos einer korrekt gekleideten Frau hinter einem wohlaufgeräumten Schreibtisch gegenüber. »Hei!«

»Hei.«

»Ich habe ein Zimmer gemietet in Skatudden.«

»Wie ist dein Name?«

»Greta Petersen.«

Die Dame am Schreibtisch lässt ihre Nasenflügel flattern. Sie blickt starr auf ihren Bildschirm. »Greetta ... Hast du eine Bestätigung? Wo sollst du wohnen?«

»In Skatudden.«

»Entschuldigung, wo?«

»Skatudden, hier steht’s.« Greta weiß nicht, ob sie unruhig oder ärgerlich werden soll. »Ist etwas nicht in Ordnung damit? Ist das Zimmer nicht frei?«

»Sooo, Greetta. Du hast ein Zimmer. Es liegt in Katajanokka. Wenn du hier unterschreibst, sind das deine Schlüssel.«

»Danke. Hmm. Der Preis stimmt, 273 Euro im Monat ... Wo steht die Adresse, bitte?«

»Hier. Katajanokanranta 21.«

»Komisch, ich sollte eigentlich am Skatuddsstranden wohnen.«

Greta sieht auf die Uhr. Es ist schon zehn nach vier. Sie will auf keinen Fall ohne Schlüssel gehen, und der Preis ist okay. Also warum nicht erst mal zusagen und dann weitersehen? Für heute Abend braucht sie ein Zimmer, extra Hotelkosten hat sie nun überhaupt nicht mit einberechnet.

Die Dame hinter dem Tresen packt schon ihre Tasche. »Möchtest du nun das Zimmer? Wir schließen jetzt.«

Ja, das weiß Greta. »Kann ich vielleicht«, Greta bemüht sich um ein verbindliches Lächeln, »das Zimmer erst mal ansehen? Ich meine, es ist ja nun ein anderes, als ich haben sollte, und wenn es weit weg ist ...«

»Nein, das geht nicht. Du kannst dieses Zimmer haben, alle anderen sind vergeben.«

Das fängt ja gut an. Greta unterschreibt und fühlt das überraschend intensive Gefühl in sich aufsteigen, dass sie wütend ist auf diese graue Frau hinter dem grauen Schreibtisch mit dem Schlüsselbund, mit dem sie nun auf ebenjenen Schreibtisch pocht. Greta bittet um eine Wegbeschreibung zum Wohnhaus.

»Straßenbahn 4 bis Katajanokka.«

Wenigstens ist es dieselbe Linie, mit der sie eigentlich fahren wollte. Also ist es vielleicht gar nicht so weit von der anderen Adresse entfernt. Erleichterung fühlt sich aber anders an. Dabei muss es doch gar nicht schlecht sein. Vielleicht ist es sogar besser? Größer, neuer, ja, gerade erst fertig geworden, und deshalb der Wechsel der Adresse?

Das Rattern der Straßenbahn beruhigt sie auch nicht, der Ausblick auf die immer schöner werdenden Häuserzeilen schon eher. Jugendstilfassaden, Gründerzeitbauten mit Charme, Großstadtflair vergangener Zeiten, und daneben der Hafen.

SCHÖNE ARCHITEK-TOUR – JUGENDSTILBAUTEN IN HELSINKI

An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist in mehreren Stadtteilen Helsinkis einzigartige Jugendstilarchitektur errichtet worden, die sehr bequem bei einer Straßenbahnrunde erkundet werden kann. Den Plan dazu gibt es in der Touristeninformation oder im Internet unter https://www.hel.fi/helsinki/en

Nur noch wenige Haltestellen bis Katajanokka. Wie hieß noch mal die Straße? Katajanokanranta ... Das steht tatsächlich auf einem Straßenschild. Greta blinzelt gegen die Sonne und reißt gleich darauf die Augen auf. Da steht nicht nur Katajanokanranta, da steht auch Skatuddsstranden. Auf demselben Schild! Greta holt die neue Bestätigung heraus. Katajanokanranta. Und die alte Bestätigung: Skatuddsstranden. Egal. Wenn der Schlüssel passt, ziehe ich da ein, beschließt sie. Wo ist die Nummer 21? Der Schlüssel gleitet spielerisch leicht in das Schloss des mehrstöckigen Hauses. Völlig problemlos gibt er den Weg frei. Nur wohin?

In ihre Wohnung. Dort passt der andere Schlüssel nämlich auch, unglaublich. Und nachdem sie die Tür geschlossen und sich mit einem tiefen Atemzug dagegengelehnt hat, öffnet sich sogleich eine weitere und ein fröhliches »Hei!« schallt ihr entgegen.

»Hei!«

»Minä olen Lauri.«

»Wie bitte?«

»Ah, entschuldige, ich wusste nicht, dass du kein Finnisch sprichst«, beeilt er sich auf Englisch zu ergänzen. »Ich bin Lauri. Willkommen!«

Greta kann sich vorstellen, dass es hier ganz so verkehrt nicht sein wird, ob nun Skatuddsstranden oder Katajanokanranta. »Ich bin Greta, hallo. Das klingt jetzt vielleicht komisch, aber wie heißt die Adresse hier? Also unsere Adresse? Am Straßenschild standen zwei Namen. Und die Frau im Büro kannte die eine gar nicht.«

»Alle Straßennamen sind zweisprachig beschriftet: finnisch und schwedisch, das ist natürlich verwirrend, kann ich mir vorstellen. Aber du hast’s ja gefunden.«

»Und welcher ist jetzt der richtige Name?«

»Das kommt drauf an, wen du fragst. Die Finnlandschweden verwenden den schwedischen Namen, die finnischen Finnen den finnischen.«

»Und du?«

»Ich mach’s mal so und mal so, je nachdem, mit wem ich rede. Meine Mutter ist Finnlandschwedin, sie kommt von einer kleinen Schäreninsel zwischen Turku und Stockholm. Aber ich bin in Jyväskylä aufgewachsen, also im Landesinneren, wo mein Vater herkommt und nur Finnisch gesprochen wird. Ich spreche beides.«

EIN LAND, ZWEI SPRACHEN UND IHR SLANGI

Dass man in Finnland Finnisch spricht, wird niemanden verwundern. Da Finnland aber bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts zu Schweden gehörte, war das lange Zeit anders. Einwanderer aus den westlichen Ostseegebieten hatten ihre Sprache mitgebracht und sich in den wirtschaftlich interessanten Küstenregionen niedergelassen. Noch heute sind dies die Gegenden, wo am meisten Schwedisch gesprochen wird. Allerdings haben landesweit nur noch etwa fünf Prozent der Finnen Schwedisch als Muttersprache. Seit 1922 regelt das kielilaki, das Sprachgesetz, dass je nach Bevölkerungsmehrheit die eine, die andere oder beide Sprachen offiziell verwendet werden müssen. Wenn mindestens acht Prozent oder 3.000 Einwohner einer Kommune die Minderheitensprache sprechen, ist die Gemeinde zweisprachig. Dies betrifft zurzeit etwa jede zehnte.

Der schwedische Begriff skatudden bedeutet ungefähr »spitze Landzunge«. Aus ihm ist spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts die finnische Form Katajanokka entstanden, wobei kataja zwar Wacholder bedeutet, aber wohl einfach eine lautliche Umformung des schwedischen skata ist, während nokka die Übersetzung von udde darstellt. Um die Verwirrung komplett zu machen, sei noch erwähnt, dass das schwedische skata außerdem Elster heißt, was wiederum mit der spitzen Form ihres Bürzels zu tun haben soll, aber ebenso wenig wie der Wacholder für Katajanokka namensgebend war.

In der Praxis geht es auch viel einfacher: Einheimische nennen die Halbinsel kurz Skatta. Das bewahrt das Schwedische s und erleichtert die finnische Aussprache durch das tt. Der Helsinkier Stadt-Slang geht noch weit darüber hinaus und verwendet zahlreiche Mischformen aus dem Schwedischen und Finnischen, zum Beispiel die Bezeichnung für Helsinki selbst: Stadi.

»Und Englisch natürlich.«

»Klar, und du?«

»Ich auch.«

»Na, ich meine, wo kommst du eigentlich her? Bist du Italienerin?«

»Nein.« Greta lacht. »Nur weil ich dunkle Haare habe? Ich komme aus Deutschland. Aber ich spreche auch ein bisschen Italienisch, wenn du möchtest.«

»Va bene, aber gerne, ich glaube, wir werden die internationalste WG von Helsinki.«

Sopii!

Darauf kann sie sich verlassen: dass Internationalität geachtet wird. Wie international Finnland selbst ist, wird oft unterschätzt. Die Zweisprachigkeit ist ein Phänomen, das oft verwundert. Allerdings hat das mit Internationalität insofern nichts zu tun, als die Finnlandschweden im Allgemeinen nicht der staatlichen Zugehörigkeit zu Schweden nachweinen. Es ist eine Minderheit, die weder prinzipiell assimiliert noch unterdrückt wurde, im Gegenteil nahmen Finnlandschweden bis ins 20. Jahrhundert hinein überdurchschnittlich viele politisch und wirtschaftlich bedeutende Positionen ein.

Zunächst einmal sind es auch die Finnisch sprechenden Finnen gewesen, deren Sprache und Kultur weniger geachtet war. Daraus resultiert noch manche reservierte Haltung gegenüber der finnlandschwedischen Kultur heute. Nicht alle Finnen sind so versessen darauf, Schwedisch zu lernen, schon gar nicht in küstenfernen Regionen, wo man die Sprache überhaupt nicht verwenden kann. Die wenigsten aber sind so biestig wie die Dame im Wohnheimbüro, die nicht einmal bereit war, das Missverständnis aufzuklären. Sie muss schließlich bemerkt haben, dass Greta sowohl unwissend als auch völlig neutral in dieser Frage war. Mit Lauri hat sie jemanden kennengelernt, der in beiden Sprach- und Kulturbereichen zu Hause ist, was häufig vorkommt.

Fettnäpfchenführer Finnland

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