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WER BIST DU DENN?

WIE MAN KENNENGELERNT WERDEN KANN

Freitag, 16 Uhr: Begrüßung für alle neuen ausländischen Studierenden. Die Tutoren stellen sich vor. Anschließend Wassersport. So etwa steht es auf dem Plakat. Klar, Greta ist dabei.

Im Innenhof eines Instituts sind auf dem Rasen Tische und Bänke aufgestellt. Schade nur, dass es heute nicht so richtig warm ist, am Nachmittag hat es schon angefangen zu nieseln, und jetzt sieht alles aus wie im November. Entsprechend wenige sind auch gekommen. Drinnen gibt es ebenfalls ein paar Sitzplätze, und als es auch noch anfängt zu stürmen, sind alle schnell ins Gebäude geflüchtet. Ein ganzer Hörsaal ist geöffnet, und dort hält der Leiter der internationalen Abteilung nun seine Begrüßungsrede. Im Anzug, mit vielen freundlichen Blicken und Worten und ebenso freundlichem Applaus.

EINMAL FINNLAND FÜR ALLE

In Finnland leben derzeit über 250.000 Ausländer. Die mit Abstand größte Gruppe bilden die Esten mit über 50.000, gefolgt von den Russen mit etwa 30.000 Menschen. Studiengänge an den Universitäten international attraktiv zu machen, gehört seit Jahren zum Konzept. Die Internationalisierung der Jugendlichen und damit auch der jungen Wissenschaftler zu fördern, bedeutet schließlich, den Austausch mit der Welt zu verbessern, woran Finnland als geografisch fernem, ehemals politisch umstrittenem, kleinem, jungem Land besonders gelegen ist. In diesem Sinne werden auch Aufenthalte von jungen Leuten aus dem Ausland in Finnland unterstützt, sei es durch zahlreiche preisgünstige Sprachkursangebote, sei es durch das Centre for International Mobility CIMO.

Und nun treten die Tutoren ans Mikro, nicht ganz so feierlich, aber immer noch sehr korrekt.

»Ich bin Virva und ich bin für alle da, die den Master of European Studies machen wollen.«

Aha, die kleine Dunkelhaarige war Greta gleich aufgefallen. Ihre Vornehmheit fällt eher gering aus im Vergleich zu den meisten anderen. Mit schwarzer Netzstrumpfhose und rotem Minikleid erzählt sie in absolut flüssigem Englisch mit deutlichem britischem Akzent Greta und zwei litauischen Frauen anschließend vom Studienaufbau.

»Ich bin gerade aus London zurück und habe da zwei Jahre studiert. Also weiß ich ein bisschen, welche Fragen ihr haben könnt. Hier ist meine Handynummer, wenn ihr etwas braucht.«

Die organisatorischen Dinge sind schnell geklärt. Greta fragt sich, wie es weitergeht. Gar nicht? Nach ein paar netten Worten gehen alle ihrer Wege?

»Und, was ist mit dem Wassersportangebot?«

Virva zuckt mit den Schultern. »Heute? Bei dem Wetter? Wir hatten eh so wenige Anmeldungen.«

»Anmeldungen? Ich wusste gar nicht, dass man sich anmelden sollte.«

»Ich glaube, das stand in dem Brief.«

»Oh, den habe ich leider nicht bekommen. Vielleicht ging das anderen genauso! Komm, lass uns mal herumfragen, wer noch alles Lust hat!«

Virva steht schon an der Tür, aber sie dreht sich noch mal um. »Ich gehe noch einen Kaffee trinken mit ein paar Freunden – wenn du mitkommen möchtest ...«

Greta zögert. »Jetzt gleich?«

»Joo.«

Virvas Auto steht vor der Tür.

»Na gut. Wohin fahren wir denn?«

»Zum Regatta.«

»Ist das lecker da? Gehst du da öfter hin?«

»Ab und zu.«

»Ist das typisch Finnisch?«

»Ja und nein.«

»Wie jetzt?«

»Es ist traditionell. Ein bisschen wie von früher. Ganz nett zur Abwechslung.«

»Klingt schön. Es muss ja nicht alles so modern und schrill sein. In London war ich mal kurz für ein Wochenende, aber ich glaube, leben würde ich da nicht wollen. Finnland klingt irgendwie gemütlicher. In London ist alles so laut und groß, und ich mag die kleinen Städte lieber.«

Virva schweigt.

»Also, nicht dass Helsinki klein ist, aber doch irgendwie übersichtlicher, und mehr Natur.«

»Ja, das stimmt. Ich mag auch die Natur.«

»Wo wohnst du denn in Helsinki?«

»Am Itäkeskus. Das ist im Osten der Stadt.«

»Ist es schön da?«

»Ich weiß nicht. Es ist in Ordnung.«

EHER PRAKTISCH DENN IDYLLISCH – ITÄKESKUS

Es ist vielleicht nicht das oberste Ziel des Itäkeskus, schön zu sein. Schön neu ist es jedenfalls und heißt übersetzt schlicht »Ostzentrum«. Hauptmerkmal ist das riesige Einkaufszentrum mit rund 300 Läden und Restaurants, umgeben von immer noch wachsenden Wohnanlagen.

Die Nähe zum neuen Hafengebiet von Vuosaari macht diese Region Helsinkis für viele interessant. Ebenso schnell gelangt man in größere Parkanlagen oder auch außerhalb der Stadtgrenzen in die Natur.

Virva parkt parallel zur Straße ein.

Sie sind nur zehn Minuten gefahren und haben das Stadtzentrum noch nicht wirklich verlassen. Neben den Bäumen umschließt ein hoher Metallzaun einen sandigen Platz mit zwei Toren: Fußball in Kleinformat mitten in der Stadt. Nebenan eine kleine Rutsche. Die Häuser ragen sechs Stockwerke in die Höhe, für eine Großstadt nicht viel, für ein familiäres Wohnumfeld aber zu viel, findet Greta.

Doch nach 100 Metern und einer Straßenüberquerung behindert nichts mehr den Blick auf das Wasser. Nur einige Stege und unzählige Masten von kleinen Segelbooten schmücken die Aussicht, Bäume säumen die zahlreichen Halbinseln, die den Vorstoß in die blaue Weite wagen.

Auf dem Uferweg, ganz ähnlich wie zu Hause auf Katajanokka, sind Radfahrer und Fußgänger gemeinsam unterwegs. Und mitten auf der grünen Wiese steht ein kleines rot gestrichenes Holzhaus.

»Terve!« Virva hat schon eine Freundin begrüßt, als Greta noch den besten Fotopunkt sucht. Das Häuschen bringt schlagartig Dorfidylle in die Stadt.

WIE DER NORDEN ZUR ROTEN FARBE KAM

Die typisch nordische rote Farbe, in Mitteleuropa oft Schwedenrot genannt, ist tatsächlich schwedischen Ursprungs. In den Kupferbergwerken von Falun wurde sogenanntes Kupferwasser gewonnen und verschifft, das als wasserhaltiges Eisensulfat für die traditionelle Mischung der Farbe benötigt wurde. Darüber hinaus wurden Roggenmehl und roter Ocker beigefügt. In einigen Regionen verwendete man zusätzlich Teer. Aber erst im 19. Jahrhundert hat man diese Farbe im ganzen Land hergestellt und benutzt. Heute vermittelt unter anderem der Finnische Museumsverband Kenntnisse über traditionelle Farben. Künstlich erzeugte importierte Anstriche sind erst seit den 1930er-Jahren im Umlauf.

Die Bänke rundum sind nach dem kalten Wetter ziemlich leer, über den Himmel ziehen noch einige dunkle Wolken, und Virva steuert auf einen langen Tisch zu, wo bereits einige fröstelnde Personen sitzen. »Das ist Greta, sie kommt aus Deutschland und macht den Master of European Studies wie ich«, stellt Virva sie vor. Greta streift die Kapuze von ihrer Regenjacke hinunter und reicht jedem die Hand. Verlegenes Kichern und ernsthaftes Nicken schlagen ihr entgegen.

»Trinkst du Kaffee?« Virva ist schon auf dem Weg zu einem kleinen Häuschen. Greta folgt ihr. Das Café quillt über von alten Gießkannen, Besen, Gartengeräten und sonstigen Herrlichkeiten aus Uromas Zeiten.

»Genauso habe ich mir Finnland vorgestellt. So heimelig und persönlich«, schwärmt Greta.

»Ich glaube nicht, dass ganz Finnland so ist«, bemerkt Virva, schon wieder auf dem Weg nach draußen.

»Danke für den Kaffee. Das ist ein toller Platz hier. Es ist doch okay, wenn ich Englisch rede?«

»Sicher. Hast du schon viel von Helsinki gesehen?«

»Nein, eigentlich nicht, nur das Stadtzentrum und die Uni. Was muss ich denn unbedingt noch angucken?«

»Hm. Schwer zu sagen, kommt darauf an, wofür du dich interessierst. Es gibt viele bekannte Museen.«

»Und wo ist abends was los? Ich möchte gerne mal länger weggehen, und ich kenne ja noch nicht viele Leute.«

»Ja, zum Beispiel auf der Esplanade.«

»Und wo geht ihr so hin?«

»Das ist verschieden. Am Freitag ...«

»Ja, genau, das war nett da«, ruft Virvas Freundin sofort.

»Viime perjantaina?«, fragt jemand anderes nach und wirft einen Kommentar ein, dass alle schallend lachen. Greta beschäftigt sich mit ihrer Kaffeetasse, denn die anderen scheinen sie vergessen zu haben. Die Unterhaltung fließt auf Finnisch dahin.

»Ich hole mir noch einen Kaffee«, sagt Greta schließlich, stellt sich ans Kopfende des Tisches und fügt ein wenig zu laut hinzu: »Soll ich jemandem was mitbringen?«

Alle sind urplötzlich still.

»Das brauchst du nicht. Aber wenn du möchtest, ja, gerne.« Virva reicht ihr den Becher.

Greta fragt am Tresen nach einer zweiten Tasse.

»Bitte schön.« Ihr werden zwei Zehn-Cent-Stücke hingelegt.

»Ich wollte nur Kaffee ...«

»Ja, dort, bitte, bedien dich.«

Greta nimmt den Kaffee, lässt das Geld liegen und geht hinaus.

»Was war das denn?« Greta stellt Virva die Tasse hin. »Die Frau dort hat mir 20 Cent gegeben, als ich nach Kaffee gefragt habe. Was bedeutet das?«

»Du bekommst Geld zurück, für jedes Nachfüllen zehn Cent.«

»Warum sagst du mir das nicht vorher? Jetzt stand ich da wie blöd!« Ärgerlich geht Greta ins Café, holt das Geld und legt 10 Cent vor Virva auf den Tisch. Die lässt die Münze unbeachtet liegen.

Am Ufer schaukeln ein paar Boote vor sich hin, Kajaks, ein Ruderboot, Kanus. »SUP« ist auf einem Schild zu lesen.

»Sag mal, Virva«, fragt Greta unvermittelt, »sollten wir hier die Wassersportaktionen machen?«

Virva nickt.

»Was kostet das denn? Kann man das heute noch machen? Hat jemand Lust? Virva?«

»Tut mir leid, keine Ahnung.«

»Ich meine: Kommst du mit?«

»Nein, danke.«

»Sonst jemand? Ist doch cool!«

Kurzes, uninteressiertes Kopfschütteln ist die einzige Reaktion am Tisch. Greta geht ins Café und bekommt die Antwort, dass sie heute noch rudern könnte, eine Stunde 20 Euro. Die SUPs gibt es nur mit Guide, und paddeln kann sie nicht.

»Du, Virva, kannst du so lange auf meinen Rucksack aufpassen? Ihr seid doch noch ’ne Stunde hier, oder?«

Noojoo!

Im Gegensatz zu Lauris Filmabend (siehe »Willst du das wirklich?«) hat die Univerwaltung explizit zu einem Kennenlernfest eingeladen. Und sie steuert ihren Teil bei, akribisch, höflich, etwas distanziert, aber korrekt. Das hätte natürlich auch gemütlicher ausfallen können. Da Virva auslandserfahren ist, kann sie sich in Gretas Situation hineinfühlen und versteht, dass diese ein wenig enttäuscht ist. Und Greta kann eine Einladung mitzukommen auf jeden Fall annehmen. Nur sollte sie nicht erwarten, dass dann alles nach ihrem Plan läuft oder sie irgendwie als ausländische Besonderheit behandelt wird. Es ist ja auch kein offizieller Anlass, und sie muss durchaus nicht jeden per Handschlag begrüßen.

Dass die Finnen im Café schließlich wieder in ihre Unterhaltungen zurückgleiten, braucht Greta nicht – wie sagt man immer so schön – persönlich zu nehmen. Es muss sie weder verunsichern noch muss sie sich verpflichtet fühlen, interessiert dreinzublicken. Wenn sie nichts versteht, darf sie sich ruhig von der Unterhaltung distanzieren, ohne unfreundlich zu wirken. Sich allerdings aufzudrängen und beleidigt die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen wirkt kindisch. Niemand hätte ein Problem damit gehabt, wenn sie sich einfach zum Rudern verabschiedet hätte. Gemeinschaftlichkeit mit einem »Rucksackservice« erzwingen zu wollen und damit indirekt an das (nicht vorhandene) schlechte Gewissen der neuen Bekannten zu appellieren, hilft sicher nicht beim Aufbau einer Freundschaft.

Virvas Freunde mögen das nette kleine Café offenbar, das bewusst ländliche Elemente ins Großstadtgewimmel transportiert. Aber sie romantisieren es nicht. Und sie finden die dortige Sitte zwar amüsant, dass man für die erste Tasse den normalen Preis bezahlt und für jede weitere Geld zurückerhält, aber sie geben sich auch keine besondere Mühe, Greta theoretisch in alles einzuführen. Üblich ist, dass die zweite Tasse weniger als die erste oder gar nichts kostet. Gretas überschwängliche Begeisterung für die Idylle des Kaffeehauses teilt Virva nicht gerade. Sie hat London sehr bewusst gewählt und kann mit dem kuscheligen Skandinavienbild holzhausidyllisierender Mitteleuropäer nichts anfangen. Nach Virvas Meinung muss nicht alles »schön« sein, wenn es bloß nicht spießig ist. Sie vertritt damit die Haltung mancher Finnen der jüngeren Generation, denen die Bäuerlichkeit ihrer Vorfahren immer noch unangenehm ist. Sei es aus Ablehnung, Unsicherheit oder anderen persönlichen Gründen. Gleich bleibt in allen Fällen: Selbst ein Lob kommt nicht unbedingt positiv an.

Fettnäpfchenführer Finnland

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