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WO LIEGT HELSINKI?

IRGENDWO DA IM NORDEN, ZWISCHEN SINGSCHWÄNEN, RUSSEN UND PISA

»Wo nur liegt dieses Finnland? Ist das eigentlich noch Europa?« Ja, klar, Europa geht bis zum Ural. »Und bis zum Eismeer? War das nicht mal ein Teil von Russland? So wie Estland und die anderen Länder da?«

Finnland ist Finnland, hatte nie einen eigenen König und ist seit 1917 ein selbstständiger Staat, EU-Mitglied schon seit 1995. So viel kann Greta erwidern. Aber das sind natürlich nur Fakten. Wie viel davon im Alltag spürbar ist, weiß Greta noch nicht. In ihrem Alltag hat sie bisher wenig Kontakt mit Finnland gehabt – glaubt sie. Bestenfalls im Winter- oder Motorsport sind mal Finnen aufgetaucht und in der Musik. Aber was erfährt man da schon über das Land?

Greta ist nun selbst auf dem Weg nach Finnland, in Gedanken bereits hier und heute, ganz konkret in zwei Wochen. Finnland soll nicht nur ein Urlaubstrip sein, dann hätten ihre Freunde bestimmt in eine andere Klischeekiste gegriffen, um ihr in Gestalt interessierter Fragen wohlmeinende Tipps und komprimiertes Halbwissen mit auf den Weg zu geben. Dann hätten sie sie gewarnt, wahlweise vor zu wenigen oder zu vielen Lebewesen: »Da gibt’s doch kaum mehr Menschen als in Berlin!« Sachlich gesehen korrekt. »Vor lauter Mücken sieht man da die Sonne gar nicht mehr!« Aha. »Und erst die unendlichen Schneemassen: Da kannst du ab Oktober gar nicht mehr vor die Tür.«

Aber Greta will ja keinen Urlaub machen, sie will in Finnland studieren. »Toll! Die Unis da sind bestimmt genauso fantastisch wie die Schulen. Da fällt keiner durchs Raster, da werden alle mitgenommen, und diese Lesefähigkeit ...« Greta hatte eigentlich ohnehin nicht vor, durchs Raster zu fallen. Und lesen kann sie durchaus, sogar ziemlich lange schon und gar nicht so schlecht, für den Hausund Unibedarf allemal ausreichend, leider aber nicht auf Finnisch, das heißt, lesen kann sie es sogar etwas, weil das gar nicht so schwer ist. Immer schön vorne betonen und alle Buchstaben hintereinandersetzen: y-li-o-pis-to, Universität. Oder ke-sä-pä-i-vä, Sommertag. Fremdartig klingende Lautkompositionen, die Greta dazu veranlasst haben, im Studienführer zu überprüfen, dass der Master of European Studies wirklich komplett auf Englisch angeboten wird.

Wieso sie das ausgerechnet in Finnland studieren muss? »Mit einem Bachelor in Kommunikationswissenschaften kannst du doch nach England gehen oder in die USA und echte Auslandserfahrung sammeln, die einem auch nutzt. Denk doch mal, die vielen Kontakte, die du dort gleich aufbauen könntest.« Kontakti, das Wort gibt es auch auf Finnisch. Dieses Wort hat es Greta angetan, kontakti drückt für sie genau das Gefühl aus, das bei Formulierungen wie »zwischenmenschliche Interaktion« mit sofortiger Wirkung seine Existenz verleugnet und nur äußerst schwer wieder zum Leben zu erwecken ist.

»Aber die Finnen sprechen doch so wenig miteinander, wie willst du da kontakti knüpfen?« Manche Freundinnen klingen ehrlich besorgt. Um das Gegenteil zu erproben, ist Gretas finnischer Wortschatz bisher zu eingeschränkt, eben auf kontakti, hei, hallo, und kiitos, danke. Offenbar wissen die Finnen aber um dieses Problem und sind bemüht, sprachunkundigen Neuankömmlingen den Einstieg zu erleichtern, indem sie sie einige Wochen lang mit allen grammatikalischen Spezialitäten versorgen, die man sich auf Deutsch nicht vorstellen kann. Also sprechen sie ja doch, die Finnen. Greta hat einen solchen Sprachkurs an der »Sommeruniversität« schon gebucht, genau vor Beginn ihres Masterstudiums. Und das eine wie das andere soll in Helsinki stattfinden. »Ach, da, wo die Sonne untergeht?«, hatte ein Kommilitone gefragt und ihre verständnislos stummen Augen auch mit der amüsierten Erklärung »Na: Hell ... sink ... i« nicht zum Lachen gebracht. Greta war kurz davor gewesen, dem Kommilitonen etwas von der Mitternachtssonne zu erzählen, die sie allein mit Elchen, Lachsen und weizenblonden Finnen zu verbringen gedenkt, aber da hatte er sich schon jemand anderem zugewandt.

Finnland. Auf der anderen Seite der Ostsee. Das weite Land voller Seen und Wälder, von dem sie eigentlich nichts weiß, und das deshalb so verlockend geklungen hat. Okay, ein bisschen voreingenommen ist Greta vielleicht doch, denn ihre Cousine ist schon mal am Nordkap gewesen, und die Fotos sind einfach traumhaft. Die wunderbar schillernden Farben des Himmels gießen darauf miteinander ein Sommerbild, das die Schönheit aller Blumen zugleich widerzuspiegeln scheint.

Nach diesem Gedanken hat Greta sich aber jegliche Romantisiererei verboten, um zunächst die realen Dinge anzusteuern: Studienbewerbung rechtzeitig abschicken, WG-Zimmer suchen, Flug buchen, Geld tauschen – Stopp: Die haben ja den Euro, mit Singschwänen und Moltebeerenblüten auf der Rückseite. Genau, deshalb will sie nach Finnland, wegen der Singschwäne und Moltebeeren. In den Monaten vor der Abreise sind ihr erstaunlich viele finnische Euromünzen in die Hände gelangt. Ob so viele Finnen nach Deutschland kommen? Oder doch so viele Urlauber nach Finnland fahren? Merkwürdig, was einem im Alltag sonst nicht auffällt. Svenja, die Cousine, hat immer nur vom »Norden« an sich gesprochen. Ob Nordkap, Lappland, Oslo oder die Schärenküste, einem bestimmten Land hat sie nichts zugeordnet. Der Norden mit seinen Blockhäusern, seinen Blumenwiesen und seiner Mitternachtssonne ist überall herrlich, so Svenja. Aber ob Moltebeeren allein einen Studienort rechtfertigen?

Sopii!

Ja, warum nicht nach Finnland? Im Zweifel für den Angeklagten! Wie romantisch, tiefgefroren, überraschend, karrierefördernd oder skurril der Aufenthalt dort oben tatsächlich wird, hängt vielleicht auch davon ab, wie viel Sensibilität, Wetterfestigkeit und Humor man mitbringt. Lassen wir uns überraschen: Nicht nur vom hohen Norden, sondern auch von Greta und all den Erlebnissen, die auf sie einstürmen werden. Sie hat mit dem Frühsommer eine undramatische Jahreszeit gewählt, um kontakti zu knüpfen mit dem Land. Und sie ist ja nicht wirklich die Erste, die diesen Weg beschreitet. Zumindest literarisch hatte ihn vor rund 2.000 Jahren bereits der römische Geschichtsschreiber Tacitus (56–117 n. Chr.) in Angriff genommen und für überlieferungswürdig gehalten, dass die Männer und Frauen der fenni gemeinsam mit Pfeil und Bogen wilde Tiere jagen, sich in Felle kleiden, auf dem Boden schlafen und Kräuter essen. Da sie so wenig Eigentum besäßen und sich weder vor Menschen noch Göttern fürchteten, könnten sie ein zufriedenes Leben führen, weil sie sich nichts anderes wünschten.

In den Kommentaren ihrer Bekannten findet Greta oft dieselbe Tendenz wieder: Finnland ist ein wildes Land, reduziert auf das Wesentliche. Falls einem das reicht, gut, falls nicht: oje, werde ja nicht depressiv in der Dunkelheit!

Wenn Gretas Freunde überlegen, ob sie sich inmitten des fremden Landes wohlfühlen kann, stellen sie unbewusst eine sehr finnische Frage: Wie sehr muss und kann man sich einer neuen Umgebung anpassen, wie viel Eigenständigkeit darf und will man behalten? Diese Problematik kennt man in Finnland durch die Lage zwischen Russland und Schweden, beziehungsweise der Sowjetunion und Westeuropa, sehr gut. Wenn sie aber wirklich Bedenken haben, trauen sie Greta einfach zu wenig zu. Denn genau genommen geht es ja gar nicht um Finnland, sondern um sie selbst.

POLITISCHE UND GEOGRAFISCHE POSITIONEN

Als der damalige norwegische Außenminister Jonas Gahr Støre 2007 in Berlin war, hielt er eine Rede an der Humboldt-Universität. Er wollte seine Hörerschaft für die Bedeutung des Eismeeres sensibilisieren, für die Bedeutung der Ressourcen, die unter ihm schlafen, und die Frage, wer technisch in der Lage und politisch berechtigt sein soll, sie zu wecken. Fast alle Arktisbewohner erheben Ansprüche. Aber wer sind die überhaupt? Wer wohnt dort, jenseits des Polarkreises? Nicht immer hat der norwegische Außenminister mit seinem frostigen Ansinnen so interessierte Zuhörer gefunden wie an diesem Abend. Einmal, so erzählte er nämlich, habe ein Professor ihn tiefgründig angesehen und erwidert: »Herr Außenminister, für mich ist der hohe Norden Schleswig-Holstein.«

Und was hat das alles nun mit Finnland zu tun? Nichts, das ist es ja gerade. Finnland hat keinen Zugang mehr zum Eismeer. In grenzfreien Zeiten vergangener Jahrhunderte und während einer kurzen Phase zwischen 1920 bis 1944 war das einmal anders.

Welcher Norden ist es also, dem Finnland heute angehört? Dort drüben, auf der anderen Seite der Ostsee wohnen diese knapp fünfeinhalb Millionen Finnen, gewissermaßen als Nachbarn aller Ostseeanrainer. Allerdings nicht irgendwo dort drüben, sondern im Nordosten.

Im Mittelalter hatten die Schweden die finnische Küste besiedelt und sie samt dem kaum bekannten Inland seitdem selbstverständlich als Teil ihres Reiches betrachtet. Nach langen kriegerischen Auseinandersetzungen wurde Finnland Anfang des 19. Jahrhunderts jedoch ein russisches Großfürstentum (siehe »Was bedeutet presidentti?«). Die finnischen Bemühungen um eine Ablösung von Russland führten fast dazu, dass 1918 ein Schwager Kaiser Wilhelms II., Friedrich Karl von Hessen, auf den finnischen Thron gebeten wurde. Der Ausgang des Ersten Weltkrieges verhinderte dies jedoch, und so besteht seit 1917 die Republik Finnland. Diese war allerdings zwischenzeitlich erneut gefährdet. Nachdem Finnland sich im sogenannten Winterkrieg 1939/40 überraschend gut gegen die Sowjet-union verteidigt hatte, konnte zwar die Souveränität gewahrt bleiben, aber weite Landstriche im Osten mussten abgetreten werden. Deshalb ging Finnland eine militärische Allianz mit dem Deutschen Reich ein. Der Fortsetzungskrieg von 1941 bis 1944 führte jedoch zu noch größeren Landverlusten und hohen Reparationszahlungen an die Sowjetunion. Die Wahrung der Selbstständigkeit war fortan das oberste Ziel der finnischen Außenpolitik. Seit dem Ende des Kalten Krieges geht die Orientierung eindeutig gen Westen; eine Mittlerposition nimmt Finnland jedoch gerne und bewusst ein, sei es zwischen Ost und West, sei es zwischen kleineren und größeren Staaten allgemein.

Auch klimatisch betrachtet liegt Finnland in einer Übergangsregion. Der Einfluss des Atlantiks reicht selten bis zur östlichen Grenze, wo kontinentales Klima für warme Sommer und strenge Winter sorgt. Die Tagesmitteltemperaturen von Hamburg und Jyväskylä, einer beschaulichen Stadt im mittelfinnischen Seengebiet, sind im Juli fast identisch. Im Januar dagegen ist es in Jyväskylä durchschnittlich etwa zehn Grad kälter, im Maximum sogar fast 20. Das ganze Jahr hindurch erlebt Hamburg mehr Niederschlag als Jyväskylä, außer im August. Von Februar bis Juli scheint die Sonne in Jyväskylä mehr als in Hamburg. Im Mai und Juni sind die Höchsttemperaturen in beiden Städten etwa gleich.

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