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WER VERTEIDIGT DIE FINNISCHEN SÜMPFE?

DIE GEFLÜGELTE ARMEE

Finnair gibt es wirklich, eine eigene Airline bei nur fünfeinhalb Millionen Finnen. Greta ist beeindruckt. Tägliche Direktflüge von Helsinki nach Asien bieten sie an, aber auch von Frankfurt nach Helsinki, und einen Platz in einer solchen Maschine hat Greta gebucht.

GANZ OBEN: DIE FINNISCHE AIRLINE

Hervorgegangen aus der bereits 1923 gegründeten Aero, liegt Finnair in der Sicherheitsstatistik des Jet Airliner Crash Data Evaluation Center (JACDEC) regelmäßig auf den obersten Plätzen. Da bleibt nur weiterhin zu wünschen: Hyvää matkaa! Gute Reise!

Allein ist sie nicht, es gibt offenbar eine ganze Menge Menschen, die gen Norden wollen, manche in lässig-eleganter Businesskleidung, ein paar schwitzende Familien mit Reisegepäck, ein Mann in einer ausgebeulten olivfarbenen Wanderhose mit ehemals schwarzem T-Shirt, das die breite Aufschrift »Finnish Army« ziert, sitzt neben ihr. Er diskutiert gerade ausführlich auf Deutsch über den Gang hinweg mit jemandem über die sinnvollste Flugverbindung nach Lappland: »Rovaniemi ist zwar am Polarkreis, aber wenn Sie wirklich ins richtige Lappland wollen, sind’s allemal noch 150 Kilometer mehr. Also Kittilä ist mein Geheimtipp, da gibt’s kaum Menschen, ohnehin nur Finnen, und man ist sofort mitten in der Natur.« Der Nachbar zuckt nur mit einer Augenbraue und sagt mit leichtem finnischen Akzent: »Natur ist auch in Vantaa.«

Vantaa, so hört Greta, sei ein Vorort von Helsinki, eigentlich eine Stadt, die mit Helsinki und Espoo zusammen die Hauptstadtregion bildet, wo Helsinkis Flughafen liegt und etwa ein Viertel aller Finnen lebt. Greta ist froh über den Kommentar, schließlich möchte sie ja auch in Helsinki schön Rad fahren, wandern und massenweise frische Luft tanken. Doch der Enthusiasmus des Wanderers lässt ihr ebenfalls keine Ruhe. Wo ist sie denn nun, die echte, unverfälschte Natur? Und was bitte hat die finnische Armee damit zu tun?

Sie schielt hinüber zu dem breitbeinig dasitzenden, kraftvolle Vorfreude ausstrahlenden Kerl. Irgendwie erinnert er an einen Astronauten kurz vor dem Countdown. Er sieht aus, als ob die Schwerkraft gleich seinen ganzen Körper fordern würde, aber er hält das aus, ja, er ist einer der harten Jungs, die das trainiert haben. Seine Mission ist Kittilä.

Als sie in der Luft sind, muss er aber zunächst einem akuten Ruf der Natur folgen. Er steht auf, streckt sich und blickt sich suchend um. Da entdeckt Greta, dass auf seinem T-Shirt tatsächlich kein NASA-Emblem zu sehen ist, sondern etwas Kleines mit Flügeln und einigen Beinen, in mehreren Ausführungen und weißer Farbe, sehr zahlreich aufgedruckt. Ihr Blick bleibt so lange darauf haften, dass es dem Enthusiasten auffällt. Er grinst.

»Noch nie in Lappland gewesen, was? Na, dann viel Spaß! Einsprühen hilft nicht, die überfallen dich hinterrücks. Finnlands echte Armee besteht aus Milliarden von Mücken.«

TRAUMLAND FÜR MOSKITOS

Ohne Wasser könnte keine kleine Mücke groß werden. Das wissen die werdenden Mückenmamas und platzieren ihre Eier in freudiger Erwartung irgendwo dort, wo Feuchtigkeit zur Verfügung steht oder zu erwarten ist. In manchen traurigen Ländern sind das nur Astlöcher oder andere kleine Höhlungen mit wenigen Quadratzentimetern Fläche. Finnland ist mit menschlichen Zweibeinern dünn besiedelt und gibt der Mücke umso mehr Raum. Manche werden trotzdem nur in lächerlichen Tümpeln aufwachsen, denn alle Wasserflächen unter 500 Quadratmetern gelten nicht als järvi, als See. Da es aber auch von den Seen fast 200.000 gibt, brauchen die sorgsamen Mückeneltern keine Schwierigkeiten bei der Wahl ihres Eiablageplatzes zu fürchten. Erfahrungsgemäß ist das auch nicht der Fall.

Sollte Ihnen eines oder mehrere dieser Exemplare begegnen, wäre es angezeigt, die Buschigkeit der Fühler zu erkunden. Bei den Männchen ist diese nämlich besonders stark ausgeprägt. Und da die Herren Stechmücken keine Eier produzieren und infolgedessen auch kein Blut benötigen, werden sie Sie nicht stechen. Möglicherweise dauert diese Untersuchung aber länger, als ein Weibchen braucht, um Ihren Geruch zu identifizieren. Je länger Sie gewandert sind, desto besser duften Sie für Frau Mücke. In ihrer Gesellschaft braucht sich niemand seines Schweißes zu schämen. Er wird sie an sofortiger enger Kontaktaufnahme nicht hindern, im Gegenteil.

Er lacht schallend. »Nein, keine Panik, so schlimm ist es gar nicht. Du darfst nur nicht direkt in den Sümpfen wandern oder dort zelten. Und wenn du empfindlicher bist, kauf dir ein Spray, das bringt schon was, wenigstens wenn man dran glaubt, und überhaupt ist die Landschaft so wahnsinnig schön, da vergisst du die Mücken ganz, oder du machst es wie ich ...«

Der Finne auf der anderen Seite schläft, wenigstens soll man es wohl glauben.

Greta fragt geduldig nach: »Wie machst du’s denn?«

»Ich gebe der Mücke nur ein kleines Stück Haut frei, sagen wir mal hier am Arm, da darf sie sich setzen, ganz gemütlich. Und da darf sie trinken.«

Greta erschaudert.

»Nein, wirklich, das ist voll okay. Halt im Einklang mit der Natur, weißt du, ich meine, die Mücke wohnt ja da, und genau genommen bin ich nur zu Besuch, also wenn man sie lässt, dann juckt’s auch nicht so höllisch.«

Es summt, es schwirrt in Gretas Kopf, ihre Gedanken kreisen surrend um die Notfalleinkäufe, die sie in der heimischen Apotheke hinter sich gebracht hat. Jeder hat ihr etwas anderes empfohlen gegen Mücken. Svenja war in der Hinsicht keine Hilfe, sie hat sich gar nicht an irgendwelche Insektenschwärme erinnert. Aber die ist ja auch nur mit dem Auto unterwegs gewesen, und Greta will schließlich wandern.

»Wo ist denn ein schöner Nationalpark?«, fragt sie. »Ich wohne nämlich in Helsinki, also jetzt noch nicht, aber ich fliege gerade hin, ich will da studieren, aber auch viel draußen sein.«

In dem Moment springt der Outdoorfreak ohne zu antworten auf und eilt nach vorn, ein rotes WC-Lämpchen ist erloschen. Doch nun regt sich der Sitznachbar und öffnet ein Auge.

»Eine halbe Stunde«, sagt er.

»Entschuldigung?«

»Eine halbe Stunde ist es bis zum nächsten Nationalpark, Sipoonkorpi heißt er, 2011 gegründet, nicht sehr groß, nur etwa 19 Quadratkilometer, aber ein zusammenhängendes Waldgebiet.«

»Ehrlich? Das klingt ja toll. Darf da jeder einfach rein?«

»Natürlich. Dafür ist er ja da. Also zum Schutz der Natur, aber auch zur Freude der Menschen.«

»Und die Mücken?«

»Mücken gibt es. Mal mehr, mal weniger. Am Wasser mehr, im trockenen Wald weniger.«

»Sind die schlimm?«

»Das weiß ich nicht. Manchmal. Finden Sie Mücken schlimm?«

»Zu Hause? Nein, da nicht, ich meine, die haben wir doch jeden Sommer. Und wenn’s zu viele sind, muss man halt ins Haus gehen.«

»Sehen Sie. So ist es in Finnland auch.«

Noojoo!

Die arme Greta. Bevor sie überhaupt angekommen ist, muss sie sich schon mit der alles entscheidenden Frage auseinandersetzen: Wie begegne ich den Mücken, den unzähligen, bösartigen, omnipräsenten Plagegeistern, die selbst die Finnen so sehr quälen, dass die Bevölkerungszahl noch lange nicht die Sechs-Millionen-Grenze erreicht hat, während die Mücken schon weit darüber hinaus sind? Zugegeben, die Mücken haben es etwas leichter mit der Vermehrung, und wahr bleibt auch, dass dieses Land für sie ein Paradies ist mit seinen vielen Sümpfen und Seen. Und für die Menschen nicht?

Eigentlich sollte man es niemandem erzählen und schon gar kein offenes Wort in einer Publikation darüber verlieren, also überlesen Sie es bitte, oder glauben Sie es einfach nicht: Vereinzelte Individuen haben schon einen Sommerurlaub in Finnland genossen, ohne anschließend einen mehrmonatigen Klinikaufenthalt einschieben zu müssen. Mitunter sticht die Mücke, und man merkt es gar nicht. Ab und zu schwillt die Einstichstelle an, juckt, und schon hat man es wieder vergessen. Wie langweilig! Was hat man dann zu Hause zu erzählen? Nein, der Wildnisaufenthalt sollte doch mit einigen dramatischen Angriffen ausgeschmückt werden können, die man nur dank seiner überaus stabilen körperlichen Grundkonstellation ausgehalten hat. Wobei die Allergiker bitte gesondert zu betrachten sind, denn leider gibt es ja auch gegen stechende Insekten Empfindlichkeiten, die tatsächlich höchst unangenehm werden. Gefahren solcherart sollten wirklich nur mit ärztlichem Rat ermessen werden.

Ansonsten: Freuen Sie sich an den ängstlichen Mitmenschen, die Ihnen einen Aufenthalt ermöglichen, der zwar ein paar Mückenschwärme mit einschließt, aber mit Sicherheit keinen überfüllten Strand, keine kilometerlangen Clubpartys und stickigen Einkaufshöllen. Lassen wir den unbelehrbaren Teil unserer Mitmenschen doch einfach in dem Glauben, dass Finnland das insektenverseuchteste Land Europas ist, und stimmen Sie ein in das stolze Schulterklopfen nach überstandenen Torturen: Ja, ich war in Finnland. Ohh, es war schon heftig. Aber (jetzt bitte ein verlegenes Lächeln einschieben, das die Glaubwürdigkeit Ihrer nächsten Aussage massiv unterstützt und die Fantasie Ihres Gegenüber garantiert beflügelt): War schon okay. Den optischen Beweis dafür kann man kaufen und stolz herumtragen: Das T-Shirt mit lauter Stechmücken und der vielsagenden Aufschrift »Finnish Army« gibt es wirklich.

Wenn Greta beharrlich bleibt, obwohl der Informant zwar erfahren, aber wenig seriös wirkt, hat sie schon mal die schwierigste Hürde auf dem Weg zur Finnlandversteherin genommen: die Scheu vor der Frage an sich.

Fettnäpfchenführer Finnland

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