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1.1 Renaissance als Begriff

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Die Verwendung des Begriffs Renaissance (frz. für Wiedergeburt) zur Abgrenzung einer geistesgeschichtlichen Epoche geht auf den Schweizer Historiker Jacob Burckardt zurück, der in seiner Studie „Die Cultur der Renaissance in Italien“ von 1860 den Zeitraum des 15. und 16. Jahrhunderts als Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit einordnet, was er vor allem kulturgeschichtlich begründet. Die Bedeutung des Begriffes als Wiedergeburt bezieht sich dabei auf die Wiederentdeckung von Schriften und Kunstgegenständen der Antike und im Zuge dessen auf die Rückbesinnung auf die kulturellen Leistungen der Antike, die vor allem in der bildenden Kunst seit dem 14. Jh. zu beobachten ist.

In der Musikgeschichtsschreibung war die Anwendung des Begriffes in diesem spezifischen Sinn als Rückbesinnung auf antike Vorbilder von vornherein problematisch, da es an musikalischen Zeugnissen aus der Antike mangelt. Lediglich die theoretischen Schriften der Griechen, in denen die Grundlagen des Tonsystems dargelegt werden, konnten erschlossen werden. Aber es war nicht möglich, von diesen auf eine musikalische Realität zu schließen. Wie die Musik in der Antike tatsächlich geklungen hat, zu welchen Anlässen, ein- oder mehrstimmig, vokal oder instrumental, ließ sich nicht rekonstruieren. Während also andere Kunstdisziplinen wie die Bildhauerei, die Architektur oder die Malerei sich unmittelbar von antiken Vorbildern inspirieren lassen konnten, war dies in der Musik nicht möglich.

Renaissance und Musikgeschichte

Die Verengung des Begriffs auf den Antikenbezug und seine Auswirkung auf die bildende Kunst hat in der Musikgeschichtsschreibung insofern ihre Spuren hinterlassen, als eine Renaissance für die Musik grundsätzlich in Frage gestellt wurde. In Burckhardts grundlegender Untersuchung wird die Musik bewusst völlig ausgeklammert. Auch in der epochalen Musikgeschichte von August Wilhelm Ambros (erschienen 1862–68) wird die Musik der Renaissance gegenüber den Errungenschaften der bildenden Künste als nicht gleichwertig angesehen, weil es ihr vorläufig noch an den Mitteln des Ausdrucks mangele. Diese Skepsis hat Friedrich Nietzsche zu seiner „Verspätungsthese“ geführt, die besagt, dass die Entwicklung der Musik derjenigen anderer Kunstdisziplinen stets hinterherhinke. Noch Ludwig Finscher hält die Definition von „Renaissance“ als einer musikgeschichtlichen Epoche für unmöglich (FINSCHER 1989, S. 9). Er plädiert dafür, den Renaissance-Begriff auszuklammern und das 15. und 16. Jahrhundert als eine Epoche des „euphonen Kontrapunkts“ (= wohlklingender Kontrapunkt) darzustellen (ebd. S. 19), in der die relative Autonomie der Musik betont wird und die Entwicklung der Kompositionsgeschichte an den Ideen der Renaissance zu messen und ggf. von ihnen abzugrenzen ist.

Ein Befürworter des Begriffes Renaissance in der Musik ist Laurenz Lütteken. Er ordnet die Musik der Zeit in ihren kulturgeschichtlichen Kontext ein und führt zahlreiche Analogien an, die die Musik durchaus als Produkt ihrer Zeit ausweisen und sie zu einer spezifischen Renaissancemusik machen (LÜTTEKEN 2011). Er fasst den Begriff Renaissance weiter, indem er ihn nicht auf die buchstäbliche Rückbesinnung auf die Antike beschränkt, sondern ihn als Bezeichnung einer kulturgeschichtlichen Epoche auffasst. Die verschiedenen Kunstdisziplinen dieser Epoche weisen viele gemeinsame Merkmale auf, die sich auch im Musikleben der Zeit widerspiegeln, etwa das Ansehen des Komponisten als Künstler, die Komposition als künstlerisches Produkt, die Funktion der Musik im gesellschaftlichen Leben oder die Musik als Wirtschaftsfaktor. Diese Merkmale, die also genauso auch für andere Kunstdisziplinen der Zeit gelten, sind typische Merkmale der Renaissance-Epoche. Sie machen die Musik zu einem gleichwertigen Bestandteil der kulturellen Entwicklung, ohne dass sie in einem direkten Bezug zur Antikenrezeption stünden. In diesem Sinne argumentiert Lütteken, der angesichts dieser kulturgeschichtlichen Perspektive den Begriff Renaissance auch in der Musik befürwortet.

Ungeachtet der kulturhistorischen Bedenken hat sich im Sprachgebrauch der Terminus Renaissancemusik für die Epoche als praktikabel erwiesen, und man bezieht sich mit ihm auf einen Zeitraum, der von ca. 1420 bis 1600 reicht.

Zeitliche Eingrenzung von 1420 bis 1600

Auch wenn es in der musikwissenschaftlichen Literatur unterschiedliche Ansätze gibt, die Zeitspanne vom Spätmittelalter bis zum Generalbasszeitalter inhaltlich zu gliedern, hat sich dieser zeitliche Rahmen als inhaltlich signifikant erwiesen. Dabei ist die Tatsache nicht zu unterschätzen, dass auch zeitgenössische Autoren bereits diese beiden Daten als Meilensteine der musikalischen Entwicklung ansehen. Der in Neapel am aragonischen Hof tätige Musiker und Musiktheoretiker Johannes Tinctoris (ca. 1435–1511) spricht erstmals in seiner Schrift Proportionale musices (1472) von einer „ars nova“, die sich 40 Jahre zuvor unter dem Einfluss des englischen Stils und dessen Hauptprotagonisten John Dunstable (ca. 1390–1453) in Europa ausgebreitet habe. Als Wegbereiter dieses neuen Stils nennt er die Komponisten Guillaume Dufay (ca. 1400–1474) und Gilles Binchois (ca. 1400–1460). Ein anderer Zeitzeuge, der burgundische Hofdichter Martin le Franc (ca. 1410–1461), schreibt einige Jahre zuvor in seinem Champion des Dames von 1441, dass Dufay und Binchois eine neue Art lebhafter Zusammenklänge („nouvelle pratique de faire frisque concordance“) praktizierten, die auch er als eine englische Art, eine „contenance angloise“ einordnet.

Sowohl Tinctoris als auch le Franc beziehen sich auf einen stilistischen Bruch, der die neue von der alten Musik mehr oder weniger klar trennt.

Eine ähnliche Situation ergibt sich am Ende des fraglichen Zeitraums. Um das Jahr 1600 kommt es zu der berühmten Kontroverse zwischen dem Musiktheoretiker Giovanni Maria Artusi (1540–1613) und seinem Kontrahenten Claudio Monteverdi (1567–1643), dem jener vorwirft, gegen die Gesetze des Kontrapunktes zu verstoßen. Monteverdi entzieht sich der Kritik, indem er seine Musik einer „seconda pratica“ zuordnet, die sich nicht mehr an den Gesetzen der „prima pratica“, also dem vergangenen polyphonen kontrapunktischen Ideal messen lassen kann.

Zeitliche Eingrenzung aus heutiger Sicht

Der stilistische Bruch um das Jahr 1600, der die Epoche des polyphonen Kontrapunkts mit neuen Konzepten wie Monodie oder Generalbass beendet, ist für unsere Ohren leichter nachzuvollziehen als derjenige am Anfang der Periode, welcher die „euphone“ kontrapunktische Phase einleitet. Der Hinweis der beiden Zeugen auf eine englische Praxis, eine contenance angloise, bezieht sich auf eine häufigere Verwendung von vollen Dreiklängen anstelle von terzlosen Quint- und Oktavklängen. Diese klangvollere Anlage ist besonders im Fauxbourdon-Satz gegeben, einer englischen Improvisationstechnik, bei der ein einstimmiger cantus firmus von zwei weiteren Stimmen so zu einem dreistimmigen Satz erweitert wird, dass vor allem Sextakkord-Klänge entstehen.

Neben der volleren Klanglichkeit, welche die Musik ab ca. 1420 auszeichnet, ist die sensiblere Behandlung von Dissonanzen ein weiteres Kriterium, welches in der musikalischen Entwicklung ab diesem Zeitpunkt eine Rolle spielt. Die häufigere Verwendung von Durchgangsdissonanzen ermöglicht dabei eine glattere Linienführung der Stimmen, und der planvolle Einsatz von Vorhaltsdissonanzen ermöglicht ein Klangbild, das weniger Schärfen bereithält als die eher willkürlichen, aus einer spontanen Improvisierpraxis heraus entstehenden Dissonanzen der früheren Zeit.

Die Entwicklungslinien des musikalischen Stils, die zwischen den beiden zeitlichen Polen verlaufen, werden gespiegelt von einer ganzen Reihe anderer Entwicklungslinien, die der Zeitgeschichte entsprechend von der Musik abhängend oder auf sie einwirkend verlaufen:

– Spezifizierung der musikalischen Gattungen Messe, Motette und Chanson bzw. Madrigal und die Annäherung des Verhältnisses von Sprache und Musik

– Herausbildung von Regional- und Personalstilen und damit die Individualisierung des Künstlers und des musikalischen Kunstwerkes

– Entwicklung des Faches Musiktheorie von einer spekulativen Wissenschaft zu einer praktisch orientierten Kompositionslehre

– internationale Verbreitung des Kapell-Wesens, die Verbreitung von Musikalien und die Ausbreitung der Musik in andere soziale Schichten (von Hof und Kirche auf das Bürgertum)

– Entwicklung der Klanglichkeit und Dissonanzbehandlung im Kontrapunkt

Die einzelnen Punkte werden in den folgenden Kapiteln näher beleuchtet. Erst in der Summe führen sie zu dem, was wir heute unter Renaissancemusik verstehen.

Die Musik der Renaissance

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