Читать книгу Niccoló und die drei Schönen - Gunter Preuß - Страница 10

5.

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Auf dem Nachhauseweg schwiegen die beiden Freunde. Niccolò stand noch immer unter Schock. Ole fühlte sich anscheinend auch nicht gut. Er wurde schweigsamer, je näher er seinem Zuhause kam.

Niccolò ging mit Ole, obwohl das ein Umweg für ihn war. Der Freund wohnte mit seinen Eltern am anderen Ende der Siedlung, in der „Gammel- Bude“, wie Ole das heruntergekommene Einfamilienhaus nannte, das in einem großen verwilderten Garten stand. Das Grundstück wurde von einem Bahndamm begrenzt, hinter dem die Züge vorbeipfiffen. Wenige Meter entfernt führte eine neue gebaute Bundesstraße zur Autobahn und zum nahegelegenen Flugplatz.

Sie standen vor dem wackeligen Holzzaun und schwiegen. Ole lauschte zum Haus hin. Hastig trug er dem Freund eines seiner vielen Mathe-Rätsel vor, als wollte er verhindern, dass der ihn allein ließ.

„Hör doch mal zu, Alter, welche Nuss der gute Onkel Ole da wieder geknackt hat: Charly, ein abenteuerlustiger und stets zu Rätseln und Denkaufgaben aufgelegter Globetrotter, berichtet am Lagerfeuer: ‚Ich ritt auf dem Rücken eines Maulesels mit gleichbleibender Geschwindigkeit von Bixley über Pixley nach Quixley.‘ Nach 40 Minuten fragte ich Don Pedro, den eingeborenen Führer, wie weit wir inzwischen wären. Don Pedro antwortete: ‚Wir haben gerade halb soviel hinter uns, wie wir bis Pixley vor uns haben.‘ Nach weiteren 7 Meilen fragte ich: ‚Wie weit ist es noch bis Quixley?‘ Und er sagte: ‚Halb so weit wie von hier bis Pixley.‘ Eine Stunde später erreichten wir Quixley.“

„Ja und?“, fragte Niccolò, der wenig Interesse an Oles Leidenschaft zeigte.

„Und nun, mein Alter, sollst du aus diesen Angaben folgendes rauskriegen“, fuhr Ole eifrig fort. „Erstens: Wie viele Meilen ist Bixley von Quixley entfernt? Zweitens: Wie viele Meilen legte mein Maulesel in einer Stunde zurück? Drittens: Wie viele Meilen ist Bixley von Pixley entfernt?“

Niccolò tat so, als überlegte er angestrengt, bis er die angehaltene Luft zischend ausstieß und sagte: „Teuflisch schwer.“

„Kindisch einfach“, entgegnete Ole zufrieden, er präsentierte Niccolò auch gleich die Ergebnisse und den Rechenweg mit der Flüchtigkeit eines Genies.

Niccolò wusste, dass Ole zu Hause Probleme hatten. Früher hatten sie in Oles Bodenkammer Spielerporträts von ihren Lieblingsfußballern getauscht, an Oles Computer experimentiert und miteinander geschwatzt. Wenn dann Oles Eltern nach Hause kamen, hatte es zwischen ihnen lauten Streit gegeben. Der Vater war fast zwei Meter lang, kantig und wortkarg. Er arbeitete auf dem Bau und war zwischendrin immer wieder arbeitslos. Es hieß, dass er mehr in den Kneipen des Städtchens als zu Hause sei. Die Mutter war klein und muskulös, sie trainierte Bodybuilding und hatte schon Wettkämpfe gewonnen. In ihrer Jugend hatte sie zu den Punks gehört, noch immer färbte sie ihre Haare grellrot oder hellgrün. Sie arbeitete in einem Supermarkt als Kassiererin. Ole hatte auch eine Schwester, die „Große“, sie verschwand öfter von zu Hause und tauchte dann wieder auf, ohne ein Wort zu verlieren.

Die Nachbarn waren sich einig, dass die Grabows „Assis“ wären, eben Leute, die sich nicht in das normale Leben einfügen könnten. Balanca, Niccolòs Großvater also, hingegen meinte, dass solche Reden „verschimmelter Schlauquark“ seien. Manche Menschen passten eben nur nicht zusammen, und je eher sie sich trennen würden, um so mehr Unheil könnten sie verhindern.

Dass Ole überhaupt das Gymnasium besuchte, war wohl nur einem Lehrer zu verdanken, der frühzeitig die außergewöhnliche mathematische Begabung des Jungen erkannt hatte. Es war ihm gelungen, Oles Eltern zu überzeugen, dass sie nicht das Recht hätten, ihrem Sohn einen höheren Bildungsweg vorzuenthalten. Ole löste im Handumdrehen die schwierigsten Matheaufgaben, und wo andere sich quälten, begann bei ihm der Spaß.

Manchmal fehlte Ole tagelang in der Schule. Es hieß, er sei krank. Wenn Niccolò bei ihm zu Hause klingelte, öffnete niemand. Oles Zimmerfenster blieb dann auch geschlossen, wenn Niccolò kleine Steine gegen die Scheibe warf. Nur die Gardine wurde leicht bewegt.

„Ist noch was?“, fragte Ole, als Niccolò sich schon verabschiedet hatte und doch stehen blieb.

Niccolò stöhnte leise und druckste dann: „Sag mal, Ole, wie sehe ich eigentlich aus?“

„Wie sollst du denn aussehen? Wie immer, denk ich mal.“

„Versuch doch mal zu gucken, als ob du ein Mädchen wärst.“

Ole bohrte mit dem kleinen Finger in der Nase, ein sicheres Zeichen, dass er schwer am Überlegen war. Schließlich fragte er: „Wie guckt denn so ein Weib? Weißt du das vielleicht?“

Niccolò zuckte bedauernd die Schultern und sagte: „Guck einfach mal.“

Er hielt sein Gesicht dicht vor Oles Augen.

„Hast du überhaupt eine Ahnung, wie schwer das für einen Mann ist“, sagte Ole, hielt den Kopf schief und klimperte mit den Augenlidern.

„Nun? Wie findest du mich?“

„Tja“, sagte Ole und rieb sich das Kinn. „Wenn ich wie ein Mädchen gucke, siehst du ziemlich blöd aus. Aber wenn ich dich wie ein Junge ansehe, siehst du ganz normal aus.“

„So ist das also.“ Niccolò senkte betrübt den Kopf. „Danke, Ole. Nun weiß ich also die Wahrheit.“

„Was denn für eine Wahrheit, Mann?“ Ole war selbst schlechter Laune, wenn sein Freund nicht froh war.

Als Niccolò beharrlich schwieg, sagte Ole: „Denke nicht, dass ich völlig ahnungslos bin. Ich weiß nämlich, was mit dir los ist. Denn geisteskrank bin ich nicht.“

„Was soll denn mit mir los sein?“

„Du bist krank, Mann. Schwer krank bist du. Dich hat nämlich die Liebe gepackt!“

„Meinst du wirklich?“, fragte Niccolò zaghaft. „Na, wie geht denn so was?“

„Das geht ganz einfach“, antwortete Ole, als könnte er auf ein erfahrungsreiches Leben zurückblicken. Er angelte eine zerknitterte Zigarette aus der Jackentasche, zündete sie an, paffte wie eine alte Dampflok, hustete und spuckte angeekelt aus. „Willst du auch mal zie-ziehen? Schme-schmeckt einwand-frei.“

„Nein, danke“, sagte Niccolò. „Und wie einfach geht die Liebe nun?“

„Du musst dir einen Schnupfen vorstellen“, erklärte Ole und sog mit verdrehten Augen erneut an der Zigarette. „Manchmal kann es auch wie eine Grippe sein. Ich kenne das von Ramona, unserer Großen. Die ist jeden Monat mindesten dreimal liebeskrank. Manchmal will sie sogar sterben.“

„Das kann ich gut verstehen“, sagte Niccolò mit leidender Stimme. „Und weiter?“

„Sie stirbt aber eben nicht“, berichtete Ole weiter. „Manchmal wäre es mir ganz recht. Sie nervt nämlich mit ihrem Geseufze und Gestöhne. Vor allem will das Weib dann immer ein anderes Fernsehprogramm sehen als ich.“

Nun seufzte und stöhnte auch Niccolò. Er malte sich aus, wie er an der Liebeskrankheit sterben würde. Die drei Schönen würden an seinem Grab stehen. Imke Liebstöckel würde ein Kirchenlied rappen. Rebekka Mandelstern müsste sich auf den Grabstein stützen und würde ihm eines der Bücher, die er aufzuheben geholfen hatte, unter die kalte Erde schieben. Paula Klette schließlich müsste sich von ihren Eltern führen lassen, unter ihrer Herzbrille würden die Tränen wie kleine Bäche hervorströmen. In der Trauerweide, die an seinem Grab stand, würden die Krähen sitzen und lautlos mit den Flügeln schlagen.

Niccolò musste die aufkommenden Tränen unterdrücken, da sagte Ole: „Es gibt etwa sechs Milliarden Menschen auf der Welt. Wie konntest du dich nur in die dusselige Sehkuh Klette verlieben? Das hätte selbst ich nicht ausrechnen können. Aber keine Bange, der gute Onkel Ole wird sich was ausdenken, womit du dich grausam an ihr rächen kannst.“

Die Freunde schlugen zum Abschied die Handflächen gegeneinander. Ole stieg über den Holzzaun und verschwand auf dem schmalen Weg durch das Gesträuch zur Haustür. Niccolò stapfte müde nach Hause.

Niccoló und die drei Schönen

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