Читать книгу Niccoló und die drei Schönen - Gunter Preuß - Страница 11

6.

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Als Niccolò zu Hause ankam, ließ auch er das Gartentor unbeachtet und stieg über den Zaun, wie sich das gehörte.

Das „Affenhaus“ seines Großvaters war nicht so fein herausgeputzt wie die meisten Nachbarhäuser. Die Siedlung war vor dem Krieg von arbeitslosen Eisenbahnern erbaut wurden, meist einstöckige Doppelhäuser mit ein paar kleinen Räumen und angebauten Hühner- und Kaninchenställen. Die Gärten waren schmal und lang, und wo jetzt Tannen und Ziersträucher wuchsen, wurden früher Gemüse und Futterrüben für ein Schwein angebaut. Jeder Quadratmeter Erdboden wurde genutzt, selbst noch um die Stämme der Obstbäume hatte man Kohl gepflanzt.

Die Urgroßeltern hatten auf der ehemaligen Müllhalde Stein auf Stein gesetzt, bis endlich das erträumte Haus stand. Wenn Niccolò nach „damals“ fragte, ließ der Großvater mit ein paar Bleistiftstrichen auf einem Blatt Papier Bilder entstehen, dass Niccolò sich gut vorstellen konnte, wie es hier ausgesehen hatte.

Das Affenhaus, dem der Großvater den Namen gegeben hatte, weil Niccolòs Mutter mit ihrem oft überschäumenden Temperament manchmal „verrückt spielte“, hatte zwei Gesichter. Während die Vorder- und Rückseite noch den oft ausgebesserten grauen Putz zeigte, war die Giebelseite frisch verputzt und lindgrün angestrichen. Die eine Dachhälfte war mit glasierten roten Ziegeln neu gedeckt, während auf der anderen Hälfte bei Sturm die alten Schindeln klapperten. Einige Fenster waren erneuert und der Schornstein neu gesetzt worden. Aber die Haustür war aus altersschwachem Holz und von einem Dieb, wie Balanca lachend meinte, mit einem Büchsenöffner zu knacken.

Nach dem Deutschland wieder eins wurde, hatte auch in der Siedlung eine rege Bautätigkeit begonnen, und aus manchem armseligen Häuschen war eine Villa geworden. Aber während in den Villen immer wieder einmal eingebrochen wurde, blieb das Affenhaus verschont. Die Diebe ahnten wohl, dass bei den Rosenbuschs keine Schätze zu finden waren.

Niccolò schloss die Haustür auf, blieb aber unentschlossen stehen. Heute verspürte er keine Lust, sich in seinem Zimmer an den Schreibtisch zu setzen und Hausaufgaben zu erledigen. Es zog ihn auch nicht an den Computer oder zu den Bolzern, die täglich auf dem Rasenflecken hinter dem „Kulturhaus“, der Siedlungskneipe, kickten.

Niccolò überlegte, ob er Manuela anrufen sollte. Aber die Mutter hatte ihm gesagt, dass er das nur in Ausnahmefällen, wenn es „lebenswichtig“ war, tun dürfe. Niccolò rief sie trotzdem täglich ein paarmal an. Aber heute wusste er nicht, was er ihr sagen sollte.

Und „Balanca“, so nannte Niccolòs Großvater sich seit seiner Zirkuszeit, war auch in der Arbeit. Er versuchte die Welt zu retten, wie er schmunzelnd sagte, dass sie nicht in ihrem eigenen Dreck, den sie täglich produzierte, erstickte. Er war beim Stadtreinigungsamt als Kehrwalzenfahrer angestellt; er aber nannte sich einfach nur Straßenkehrer. Manuela hörte das nicht gern, doch Balanca entgegnete, die Straße zu kehren sei eine ebenso ehrenwerte Tätigkeit wie als Clown im Zirkus aufzutreten oder als Bundeskanzler Deutschland zu regieren.

Niccolò setzte sich auf einen Baumstumpf und ließ sich von den Vögeln, die im Geäst der Birke hockten, etwas vorzwitschern. Er beneidete sie, wie sie ihr Gefieder in der Sonne plusterten und mit sich und der Welt zufrieden waren. Passte ihnen etwas nicht, erhoben sie sich in die Luft und flogen einfach davon.

Doch lange hielt Niccolò das Stillsitzen nichts aus; er schlenderte durch den Garten und blieb vor Großvaters „Atlantik“, dem Goldfischteich, stehen. Er nahm etwas Trockenfutter aus der Büchse, die zwischen Kieselsteinen steckte, ließ es auf die Wasseroberfläche rieseln und beobachtete die rot und silbern glänzenden Fische, die danach schnappten.

Als sich das Wasser wieder glättete, sah er vom Grund das Gesicht eines Jungen auftauchen. Es musste sein Gesicht sein, und doch erschien es ihm fremd. Wenn er bisher in einen Spiegel gesehen hatte, dann nur flüchtig und ohne mehr wahrzunehmen als eben irgendein Gesicht.

Doch heute sah er genauer hin.

„Na, Niccolò“, sagte er aufmunternd zu dem Gesicht im Teich. „Nun lass dich doch mal ansehen.“

Das Gesicht, das da von bunten Fischen umspielt wurde, wirkte blass gegen die schwarzlockigen Haare. Niccolò spuckte auf seine Handflächen und versuchte, die ungeliebten Locken zu glätten. Aber so sehr er sich auch mühte, die Haare wellten und kringelten sich bald wieder.

Nicht nur der Locken wegen erschien ihm sein Gesicht zu „niedlich“ oder gar „süß“, wie es manchmal Manuelas Kundinnen sagten, wenn die Mutter ihn als ihren Sohn vorstellte. Er wünschte sich auszusehen wie der vollbärtige und narbige Seeräuber „Stachelrochen“ aus dem Film „Kalt kommt der Tod auf hoher See“. Nur gegen seine Augen hatte Niccolò nichts einzuwenden. Sie waren fast so groß und dunkel wie die von Rebekka Mandelstern. Insgesamt aber fand er sein Aussehen einfach zu mädchenhaft. Er hoffte auf Großvaters Voraussage, dass bald die ersten Barthaare um sein Kinn und über der Oberlippe sprießen würden. Aber solange konnte er nicht warten, um Paula Klette zu erobern.

Niccolò wischte mit der Hand über das Wasser, dass es sich kräuselte. Die Fische huschten davon, das Spiegelbild erzitterte und verschwand schließlich. Als er aufstand war das Wasser grau und undurchsichtig, als sei es eine glänzende Steinplatte.

Niccolò musste etwas tun. Vielleicht war er ja wirklich liebeskrank, wie Ole behauptete. Bestimmt hatte er hohes Fieber und phantasierte stark. Jedenfalls fühlte er sich so. Man hatte ihm gelehrt, dass die mittlere Anzahl der Knochen eines jungen Menschen 200 beträgt, und nun erfuhr er, dass jeder einzelne ihm weh tat. Was aber sollte ein Mensch mit zweihundert kaputten Knochen und zweiundvierzig Grad Fieber tun? Balanca, der behauptete, sich in der Welt auszukennen wie in seiner Brieftasche, würde wohl sagen: Das Allerdümmste ist, sich selbst im Weg zu stehen.

Niccolò warf die Schultasche in den Hausflur, schloss die Tür wieder ab, zog sein Fahrrad aus dem Schuppen und fuhr eilig zur „Bolzacker“ hinter dem Kulturhaus. Er kam gerade recht zur Aufstellung der Mannschaften. Für die Nachmittagsstunden vergaß er alle Sorgen und Schmerzen. Selbst Paula Klette war in weite Ferne gerückt. Sein ganzes Leben schien an diesem runden Ding zu hängen, das meist dort herum sprang, wo man selbst nicht war. Er musste ihm nur pausenlos nachjagen, um es dann doch einmal zu erwischen und kräftig zu treten, dass es wie eine Kanonenkugel in die Maschen donnerte und alle „Tooor!“ schrien. Für das Glück eines Jungen bedurfte es eben nur – wie Niccolòs Großvater Manuela aufgeklärt hatte, wenn sie wieder einmal über das „idiotische Mannsgezappel“ schimpfte – eines aus einem Stück Leder gefertigten Hohlballes von achtundsechzig bis siebzig Zentimeter Umfang und vierhundertzehn bis vierhundertfünfzig Gramm Gewicht. Balanca selbst war zwar nie Fußballer gewesen, aber als Drahtseilartist hatte er einen blauen Ball auf der Spitze seines Zeigefingers drehen lassen, dass jeder sehen konnte, wie wunderbar die Erde sich im All bewegte.

„Gib doch ab!“, schrie Niccolò seinem Mitspieler zu. „Her mit dem Leder! Sei bloß nicht so ballverfressen!“

Als er den Ball endlich hatte, dribbelte er keuchend, die Rufe der anderen, den Ball doch endlich abzuspielen, missachtend, auf das gegnerische Tor zu.

Niccoló und die drei Schönen

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