Читать книгу Niccoló und die drei Schönen - Gunter Preuß - Страница 8
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ОглавлениеDie Lessing-Schule stand an der vielbefahrenen Fernstraße. Nur ein paar Schritte entfernt gab es einen Metzger und Bäcker, eine Drogerie und den Friseur- und Kosmetiksalon „Elegant“. Hinter dem roten Klinkerbau der Schule befanden sich ehemalige Bauernhäuser, die in den letzten Jahren neue Dächer und helle Anstriche bekommen hatten. Ein steil abfallender Weg führte an einer kleinen Kirche, deren Turm wie ein zum Klappern hochgereckter Storchenschnabel aussah, vorbei in den Auenwald.
Niccolò trabte über den asphaltierten Schulhof, wischte sich den Schweiß von der Stirn und drückte auf die von unzähligen Handgriffen polierte Eisenklinke der Schultür. Die Tür war verschlossen, also hatte der Unterricht schon begonnen.
Niccolò morste mit dem Klingelknopf SOS. Nach einer Ewigkeit öffnete der Hausmeister die Tür. Herrn Heidicke nannten die Schüler Bismarck, was er gern hörte. Der Hausmeister war etwa dreißig Jahre alt, ein Männlein, das sich zackig bewegte, mit goldenen Händen, denn was auch kaputtging, er konnte es reparieren. Vor Prüfungen standen an der Pförtnerloge, die dem Hausmeister als Verkaufsstand diente, die Schüler Schlange. Wer zur deutschen Geschichte eine Frage hatte, dem konnte Bismarck sie leicht beantworten. Er wusste genau, wann und wo was geschehen war. Es hieß, er habe zu Hause eine Sammlung alter Waffen, zu der sogar ein Sauspieß aus dem Bauernkrieg und eine Flinte aus Napoleons Russlandfeldzug gehörten. Bismarcks Markenzeichen war ein Schnauzbart, dessen Enden mit Hilfe von Pomade bis zu den Augen hochgezwirbelt waren. Er war Dritter Vorsitzender des neugegründeten sächsischen Vereins „Deutscher Mann und Bart“.
Bismarck blieb im Türrahmen stehen und fragte streng: „Ja und?“
Niccolò stellte sich stramm hin, wie es der Hausmeister gern sah, und sagte: „Entschuldigung. Guten Tag. Ich bin spät dran. Lassen Sie mich bitte schnell rein.“
Der Hausmeister musterte ihn kopfschüttelnd, beugte sich nach draußen, spähte nach links und rechts und trat dann zögernd beiseite. Niccolò sprang die breite Treppe hoch, er hörte Bismarck noch rufen: „Soll ich dich nicht erst einmal verarzten, Junge?“
Niccolò huschte ins Klassenzimmer, murmelte eine Entschuldigung, ließ Herrn Wedekinds strafenden Blick über sich ergehen und setzte sich neben Ole.
Niccolòs Freund rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Seine Langnase schnüffelte, als wollte sie Witterung aufnehmen. Er sah Niccolò immer wieder an; aber wenn der sich ihm zuwandte, blickte er weg.
Niccolò konnte sich nicht auf den Unterricht konzentrieren. In seinem Kopf schienen Wespen zu schwärmen, er fühlte sich matt und müde. Die leise Stimme des Lehrers, den sie Donnerhall nannten, störte ihn heute besonders. Es war Donnerhalls Sing-Sang anzuhören, dass er, wie er selbst sagte, gern Pfarrer geworden wäre. Aber dann hatte er in der damaligen DDR doch lieber Pädagogik, anstatt Theologie studiert. Er hätte sich nicht mit der Staatsmacht, der die Kirche ein Dorn im Auge war, anlegen wollen. Ein Held sei er nun mal nicht, sagte er, und im übrigen kenne er auch keinen.
Vor Niccolò saß Paula Klette. Ihm war, als tschilpten Spatzen aus ihren Stoppelhaaren. In seiner Phantasie versuchte er, sich in einen Sperling zu verwandeln und in Paulas Haarnest niederzulassen.
Niccolò flüsterte Ole zu: „Du musst nicht so herumrutschen. Das war in Ordnung, dass du dich nicht geprügelt hast.“
Ole raunte erleichtert zurück: „Was hätte ich denn auch tun können? Du hörst ja einfach nicht auf Onkel Ole. Die sind ja dann alle über dich hergefallen. Na, wenn ich einen von ihnen allein erwische, dann haue ich ihm alle fünfzig Zähne aus.“
„Zweiunddreißig“, korrigierte Niccolò und lachte schmerzhaft in seine Hand. „Bei einem Milchgebiss sind es zwölf weniger.“
Nun lachte auch Ole, sein Lachen war blechern, wie auf dem gefluteten Tagebau die Blesshühner bei Gefahr keckerten: „Kröck – pui, kröck – pui!“
Donnerhall rief auffahrend: „Bit-te!“ und sah Ole ein paar Sekunden lang durchdringend an.
Ole, der sich unwillkürlich geduckt hatte, flüsterte bald weiter: „Du siehst aus, als hättest du in einer Wäscheschleuder gesteckt. Tut das denn nicht weh, Alter?“
„Doch. Ja.“ Niccolò legte sich die kühle Hand auf die heiße Stirn. „Aber das ist nicht weiter schlimm.“
„Manchmal verstehe ich dich wirklich nicht, Niccolò. Ich an deiner Stelle wäre sauer wie eine Essiggurke. Ich würde mir wünschen, das Godzillamonster vor einem Millionenpublikum in der ersten Runde k. o. zu hauen. Hast du auch solche irre Angst, dich zu prügeln?“
Niccolò überlegte kurz. „Ich weiß nicht. Eigentlich nicht.“
„Aber Mensch, ja warum haust du dann nicht zu?“
„Mir ist es lieber, wenn es friedlich zugeht.“
Ole verdrehte die Augen. „Jaja, ich weiß. Du lässt dich lieber wegen einer blöden Katze zu Pflaumenmus verarbeiten.“
„Eine Katze ist nicht blöd“, entgegnete Niccolò. „Niemand ist blöd.“
„Und doch ist jemand blöd“, beharrte Ole.
„Wer denn?“
„Du, zum Beispiel. Weil du dir wegen einer blöden Katze ein blödes blaues Auge hauen lässt.“
Niccolò zuckte mit den Schultern. Vielleicht war er ja wirklich blöd. Aber was spielte das schon für eine Rolle. Er hatte ganz andere Sorgen. Seine größte Sorge saß eine Tischreihe vor ihm. Sie spuckte gerade auf die Gläser ihrer Herzbrille und polierte sie am Ärmel ihres gelbschwarz karierten Pullis. Paula Klette schien völlig vergessen zu haben, dass es ihn gab.
Niccolò beugte sich etwas vor und richtete seinen Blick auf Paulas Hinterkopf, um sie zu hypnotisieren. In einem Buch hatte er gelesen, dass man allein mit der Kraft seines Blickes einen anderen Menschen seinen Willen aufzwingen könne. Paula sollte sich umdrehen, die Sonnenstrahlen würden in ihrer Herzbrille golden aufflackern, und sie würde sagen: „Na, Niccolò? Wie geht’s denn so?“
„Gut“, würde Niccolò antworten. „Einwandfrei.“
Paula würde sagen: „Mir geht’s auch einwandfrei. Ich freue mich, dass es uns beiden gut geht.“
„Ich freue mich auch, Paula. Wirklich. Riesig.“
Niccolò, der das Kopfbrummen für Augenblicke nicht mehr gespürt hatte, fühlte erneut Schmerz. Ole knuffte ihn mit seiner knochigen Faust in die Rippen. Nun hörte Niccolò auch die gereizte Stimme des Lehrers: „Niccolò! Rosenbusch! Soll ich dir ein Rezept für ein Hörgerät ausstellen lassen?“
Die anderen lachten pflichtschuldig. Donnerhall war nicht gerade erfinderisch in seinem Spott. Aber er war beleidigt, wenn er keinen Beifall bekam.
Niccolò sprang auf und rief: „Hier!“
„Großartig, dass du noch da bist“, sagte der Lehrer. „Dann sei auch so gut und bewege dich zur Tafel.“
Niccolò ging nach vorn, verschränkte die Hände auf dem Rücken und sah in Donnerhalls kummervolles Gesicht. Darin war alles zu klein geraten und irgendwie starr, nur die hellen Augen wirkten lebendig. Sie huschten hin und her, nichts entging ihnen. Der Lehrer konnte anscheinend – wie manche Insekten – ohne den Kopf zu drehen in alle Richtungen sehen. Seine Hände fuhren über den kahl rasierten Schädel, als hätten sie eine schwer zu bändigende Haarfülle zu ordnen.
„Ich höre und höre, und ich höre immer noch“, sagte Donnerhall.
Niccolò wollte nur schnell auf seinen Platz zurück und den Hypnoseversuch fortsetzen. Eigentlich musste man dabei seinem Gegenüber in die Augen gucken. Aber Niccolò meinte, wenn er sich nur genügend konzentrierte, würde sein Blick auch durch Paulas Hinterkopf dringen.
Ole war von seinem Platz aufgestanden und gab ihm Flaggenzeichen, als wollte er ein Schiff davor bewahren, auf einen Eisberg aufzulaufen. Auch die anderen Mitschüler bemühten sich mit Grimassen, ihm anzuzeigen, was Donnerhall von ihm verlangt hatte.
Da sah Niccolò in Paula Klettes aufblitzende Brillengläser und begann wie auf Zuruf, ein Lied vorzusingen, das die Klasse auswendig lernen sollte. Es gehörte zu Donnerhalls Spezialitäten, seine Schüler Lieder aus dem Gesangbuch für die evangelisch-lutherische Landeskirche des Königreichs Sachsen lernen zu lassen. An jedem Montagmorgen musste die Klasse zu Beginn des Unterrichts ein neues Lied singen, wobei Donnerhall mit zuckenden Armen und artistischen Körperverrenkungen den Chor dirigierte. Bis zur Mittagspause hatten die Schüler das Lied modernisiert und rappten es ins Englische übersetzt auf dem Schulhof.
Niccolò sang für sein Leben gern. Seine Stimme war noch mädchenhaft hoch und doch schon männlich kräftig. Wenn er vorsang, hörten seine Mitschüler, die nur allzu gern über „Donnerhalls Musikantenstadel“ spotteten, gern zu. Der Lehrer bewegte sich nach kurzer innerer Gegenwehr zu Niccolòs Gesang wie eine Schlangentänzerin.
„Lasset uns mit Jesus ziehen,
seinem Vorbild folgen nach,
in der Welt der Welt entfliehen
auf der Bahn, die er uns brach,
immerfort zum Himmel reisen,
irdisch noch schon himmlisch sein,
glauben recht und leben rein,
in der Lieb den Glauben weisen.
Treuer Jesus, bleib bei mir,
gehe vor, ich folge dir.“
Als Niccolò endete, war es sekundenlang still. Donnerhall legte ihm die Hand auf den Kopf und sagte bewegt: „Danke.“ Die anderen klatschten, trampelten und pfiffen, bis der Lehrer ihnen energisch Ruhe gebot.
Niccolò setzte sich auf seinen Platz zurück und drückte Oles Hand.
„Du singst wie Robbie Williams, Alter“, lobte Ole. „Du wirst bestimmt mal ein Superstar. Ich werde dann dein Manager. Ist das okay so?“
Niccolò konzentrierte sich wieder auf die Hypnose von Paula Klette. Es konnte nur noch Sekunden dauern, bis sie sich umdrehen und ihn lachend ansehen würde. Ihre Schultern zuckten immer stärker, ihr Kopf nickte, drehte sich nach links und rechts ...
Nun aber musste sie sich endlich umdrehen und Niccolò ansehen – da ertönte der Pausengong und Paula Klette stürmte mit den anderen aus dem Klassenzimmer.