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„Aber ein Mensch kann doch nicht einfach verschwinden! Joker doch nicht! Auf keinen Fall der Zauberer!“

Jemands Stimme aus der Sprechanlage: „Nun beruhige dich erst einmal, N Punkt. Und eins nach dem anderen. Das kriegen wir schon hin.“

„Komm mir jetzt nur nicht mit Beruhigungsscheiß, Mann. Fühle dich nur nicht so überlegen. Wenn du jetzt Entschuldigung sagst, kotze ich.“

Jemand schweigt, ich schreie: „Sag was! Sag endlich was!“

Jemand zügelt jedes Wort: „N Punkt. Du kommst und gehst, wie dir gerade zumute ist. Du sagst, was du gerade sagen willst. Und wenn du nicht weiter weißt, heißt es: Weiß nicht was.

„Ich gehe“, sage ich, nach ein paar Sekunden: „Ich gehe jetzt“, dann: „Willst du es nun wissen oder nicht?“

„Ich höre dir zu, N Punkt.“

„Keine Ahnung, was ich sagen soll.“

„Also willst du doch nur eine Beruhigungspille. Es wird alles wieder gut. Schlaf erst einmal darüber. Morgen sieht das schon ganz anders aus. Auf Regen folgt Sonnenschein...“

„Joker“, sage ich, „die Todesfahrer, Big Crash, der Garagenhof, du wirst nicht verstehen, was ich damit sagen will.“ Ich begreife es ja selbst nicht, sonst wäre ich nicht hier, mein Sturz, das Feuer, absoluter Blackout. Ich habe nachgelesen, es gibt mehrere Erklärungen dafür, diese trifft es: plötzliches Abdunkeln der Szene bei Bildschluss im Theater. Danach ein paar Tage Krankenhaus, der besorgte Mann, die besorgte Frau, bis auf ein paar Kratzer und blaue Flecke die alte N Punkt, das war´s, nicht mehr, nicht weniger.

Ich schildere Jemand den Garagenhof, die Todesfahrer, ich versuche, ihm etwas über den Zauberer zu sagen.

„Hörst du mir überhaupt zu?“, frage ich gereizt.

„Was ist denn nun eigentlich passiert?“

„Keine Ahnung“, sage ich, erzähle von Mayday, vom Big Crash, wie N Punkt den Zauberer gejagt hat, dann alles schwarz wurde.

„Und dieser Joker? Was ist mit ihm?“

„Das ist es ja. Er ist verschwunden. Alle Todesfahrer sind weg. Der ganze Garagenhof ist leer!“

„Vielleicht ist die Truppe auf Tournee. Wenn sie Artisten sind, werden sie einen Auftritt haben.“

Jemand kann das nicht verstehen, kein bisschen.

„Unsinn“, sagt Jemand. „Es gibt immer einen, der dich verstehen kann.“

„Jetzt kommst du mir mit dem lieben Gott“, sage ich. „Das Wort zum Sonntag oder so was. Darauf kann ich verzichten.“

„Im Moment kannst du auf gar nichts verzichten, N Punkt. Aber ich rede nicht von einem Gott, ich rede von den Menschen.“

Mir gefällt unser Gesäusel nicht, kein bisschen, mir wird schwindlig von unserer Selbstumkreisung. Mir geht es um Joker, um nichts anderes, ich gerate in Panik, alles an mir flattert.

„Ja“, darauf kann ich nun mal nicht verzichten.

„So treten wir immer weiter auf der Stelle, N Punkt.“

Das Rauschen der Sprechanlage, die surrenden Drähte des Spinnennetzes, ich rufe: „Was ist? Ist was? Sag was!“

Der Summer ertönt, ich öffne die Zwischentür, stehe zwischen Tür und Angel, warte, höre aus der Sprechanlage: „Nun komm schon“, setze mich in Bewegung, drücke im Fahrstuhl auf den obersten Knopf, steige im fünfzehnten Stockwerk aus. Hinter mir schließt kreischend die Fahrstuhltür, ich sehe in einem langen Gang, an dessen Ende eine Tür aufsteht. Wie auf einem Seil balanciere ich los, an der offenstehenden Tür bleibe ich stehen.

Ich blicke durch einen kurzen Flur in ein leer stehendes helles Zimmer, in dessen Mitte ein Mann im Rollstuhl sitzt. Wir sehen uns an, er sagt erstaunt, aber nicht überrascht: „Du bist also N Punkt.“

„Sie sind ...“

„Martin Steinrück. Die Bilder, die wir von uns haben - sie passen nicht zusammen, was? Enttäuscht?“

„Ja“, sage ich. „Ja.“

Einen Hütchenspieler habe ich angespuckt, als ich mitkriegte, wie leicht er mir mein Taschengeld abnahm. Jemand ist ein Krüppel, selbst seine Stimme klingt jetzt anders, sie ist nicht mehr die ruhige, leicht zerkratzte Stimme, sie klingt redegewandt, abiturientenhaft, obwohl der Mann finsteres Mittelalter ist, ich schätze, über Mitte dreißig.

„Komm doch rein“, sagt der Mann, der Krüppel, der nicht mehr Jemand, sondern Martin Steinrück ist.

Ich rühre mich nicht, fotografiere mit den Augen ein paar Filme ab, aber es bleibt bei dem einen Bild: Ein kräftiger Oberkörper in einem weißen T-Shirt, ein großer geröteter Kopf mit spärlich wachsenden Stoppelhaaren, einem wilden schwarzen Vollbart, über dem Unterkörper und den Beinen liegt eine Schlafdecke. Herkules im Rollstuhl. Barbarisch.

Meine Neugier ist wach, mein Instinkt funktioniert wieder, er lenkt mich durch die Wohnung: Küche, Bad, drei Zimmer, kein Möbelstück, kein Teppich, keine Vorhänge, nichts. Eine Treppe führt in die obere Etage, eingeengt durch einen Aufzug für den Rollstuhl. Ich frage nicht, ich steige nach oben, trete in einen Raum, in dem ein paar Möbel stehen: Bett, Tisch, Stuhl, Schrank, Kühlschrank, alles in Nähe einer breiten Fensterfront. Weder Funk noch Fernsehen, keine Bücher, kein Bild an der Wand, nichts. Noch zwei leere Zimmer, ein Bad, darin Seife, Zahnbürste, Handtücher. Ich drehe den Wasserhahn auf, das Wasser läuft; ich drücke den Lichtschalter, das Licht brennt.

Ich gehe in den bewohnten Raum, sehe durch das große Fenster, kann fast die ganze Stadt überblicken, ein Modell auf einem schmutzig grauen Reißbrett. Mir wird schwindlig, ich trete einen Schritt zurück, in diese Turmzelle, setze mich auf den einzigen Stuhl.

Der Mann, Martin Steinrück, kommt im Rollstuhl mit dem Aufzug herauf, er fährt zum Fenster, sagt: „Nun?“

„Ja.“ Was soll ich jetzt auch anderes sagen. Martin Steinrücks Bart versteckt etwas, ob er denn echt ist, vielleicht ist er gefärbt, ich lache, auch der Mann im Rollstuhl lacht, er sagt: „Menschenskind!“

Seine Augen, keine Ahnung, was ich von seinen Augen halten soll, sie sind dunkel, man tappt hinein, sie sind tief, man fällt lange. Sie blicken fragend, unsicher vielleicht, sie blicken nicht durch mich, als gäbe es mich nicht, wie die meisten Augen, die ich kenne. Für einen Moment glaube ich in Jokers graugrüngelbe Augen zu sehen, doch dann sind sie ohne Farbe, mich friert.

„Komm mit“, sage ich, eher aus Mitleid für den Krüppel.

„Wohin denn?“

„Auf den Garagenhof, was weiß denn ich.“

Martin Steinrück zieht sich die Schlafdecke bis an den Hals, schiebt die Arme darunter, er sagt, seine Stimme klingt schwach, aber bestimmt, wie es nur Kranke drauf haben: „Ich kann nicht weg.“

„Kein Problem“, sage ich. „Dein Rollstuhl fährt von ganz allein. Wenn die Batterie leer ist, schiebe ich ihn.“

„Das verstehst du nicht, N Punkt.“

„Es gibt immer einen, der dich verstehen kann“, wiederhole ich seinen Spruch, wir lachen, das klappt ganz gut zusammen.

„Ich kann hier nicht weg“, wiederholt er bestimmt.

Ich sehe mich um. „Warum denn nicht?“

„Ich habe zu tun. Tut mir leid.“

Auf dem Tisch liegen Briefpapier, jede Menge Kugelschreiber, Farbstifte, Füllfederhalter. Mir fällt die Annonce ein: Herzschmerzen? Ich bringe in Worte, was Du fühlst... Martin Steinrück, ein Liebesbriefschreiber. Eine Seite Papier ist zur Hälfte beschrieben, ich kann erkennen: Liebste Helga, Du musst Dich nicht wundern...

Der Mann Krüppel an den Tisch heran, schlägt beide Hände auf das Papier, ruft: „Das geht dich nichts an!“

„Entschuldigung“, sage ich, peinlich das Ganze.

„Ist schon in Ordnung.“

„Na dann“, ich will jetzt nur noch den Krüppel abschütteln, „ich muss los.“

„Bleib doch.“ Er bewegt die Hände auf dem Papier; es sind bleiche Hände, die trotz ihrer beachtlichen Größe schlapp wirken. „Wir können reden“, sagt er. „Über diesen Joker.“

„Schon gut, ist okay, wirklich.“ Ich gehe die schmale Treppe hinunter, öffne die Wohnungstür, höre ihn schreien: „N Punkt!“

Die Fahrstuhltür öffnet sich, eine Frau tritt heraus, ihre Blicke stechen, stempeln mich ab, endlich schließt die Tür, der Kasten rumpelt mit mir abwärts.

Zwei im Spinnennetz

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