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6.

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Auf dem Garagenhof ist es ruhig, kaum zu glauben, kein Gaffer weit und breit. Hoch oben über dem Rosental steht ein einsamer Drache, täuscht mir den freien Flug vor; dann erkenne ich die Schnur, die ihn an die Erde fesselt. Aus dem Gartenverein zieht Bratwurstmief herüber. Auf der anderen Seite des Garagenhofs türmen sich bröcklige rote Steine zu Häusern. Dahinter liegt die Rennstrecke, es ist Abend, Berufsverkehr, tonnenweise scheppert Blech, aus allen Himmelsrichtungen haben die Sirenen der Rettungsfahrzeuge sich wichtig.

Ich sitze auf der Schaukel, sehe auf Jokers Hände. Der Zauberer ist völlig weggetreten, wie immer, wenn er spielen kann. Er hockt auf dem schmutzigen Hof vor einem Haufen Teile, die er wieder zu einem Motorrad zusammenbauen will. Jokers Hände sind für mich die eines Zauberers, sie brauchen keine Tricks, um mich staunen zu lassen. Es sind schmale Hände, die sogar den Hünen Kongo in die Knie zwingen können, sie haben Risse, Narben und Furchen, die schwarz sind von öligem Dreck, nicht wieder sauber zu kriegen. Sie geben mir das Gefühl, dass mit ihnen etwas anzupacken ist, das ich allein nicht zu fassen kriege, schon gar nicht in Bewegung setzen kann. Jokers Hände sind konzentriert ohne Verbissenheit, es gefällt mir, wie er manchmal in der Hocke schaukelt, sich mit dem Handrücken über die Stirn reibt, dabei nachdenkt.

Die Mannschaft ist auch beschäftigt: Irre Wanda mit sich selbst; sie dreht und wendet sich vor einem goldrahmigen fleckigen Spiegel, drückt an ihrer Larve herum, stößt Zischlaute aus. Lolito, schöner Mann, lackiert einen dreckigen Lastwagen, leistet sich immer wieder mal einen Luftsprung, ein satanisches Quieken, dass Irre Wanda ihm mit ihrem beeindruckenden Hintern zuwackelt. Rübezahl hüllt sich in eine bleigraue Nikotinwolke, hackt Holz, als stünde ein langer Winter bevor. Kongo bläst mit ein paar Eisenkugeln seinen Body auf. Marx wandelt, die Hände auf dem Rücken, gramgebeugt, durch den Müll, denkt, dass sich ihm die Adern blau aus der Stirn drücken.

Ich versuche, mich vom Abend beruhigen zu lassen, den ganzen Tag schon hat es mich herumgeworfen. In der Nachplapperanstalt, die sie Gymnasium nennen, bin ich von Typ zu Typ gerannt, habe überall „Ich, ich, ich!“ zu hören bekommen. Luisa hat gesagt, ich würde wie meine eigene Mumie herumlaufen, ich solle doch endlich Parterreakrobatik trainieren, die sei gut für die Durchblutung, die Nerven, den Teint, überhaupt für alles. Ich war nahe dran, Fabian in seinem Büro anzurufen, ihn zu fragen, ob er einen Spruch für mich übrig hat. Eva war wieder einmal mit Möbelrücken in der Millionenlaube beschäftigt. Zwischendrin telefonierte sie mit einem TV-Chef, der Fabian wieder einmal für eine Talkshow haben will.

Ich schaukle hinauf, dass es mich fast herunter bläst. Rübezahl setzt einen Axtschlag aus, sieht mich an, als wüsste er, was in mir vorgeht, von dem ich nichts weiß. Ich bremse ab, es zerreißt mich fast, ich schreie.

Joker blickt auf, schüttelt den Kopf, lächelt, nickt, beugt sich wieder über sein Puzzle. Irre Wanda lacht ihr irres Lachen, das man ihr angeblich bei einer Therapie beigebracht hat, die die Seele vom Müll befreien sollte. Die übrige Mannschaft ist von Irre Wandas Gelächter mehr beeindruckt als von meinem Schrei, sie betrachten mich wohl als ihr Garagenhofkind, dem alles erlaubt ist, vor allem ein bisschen pubertäre Verrücktheit.

Ich will, dass was passiert, heute, jetzt, es muss, ich kann heute nicht allein sein, ich überstehe sonst nicht die Nacht. Marx schaltet die Hofbeleuchtung ein, zwei Scheinwerfer blenden auf, die Schatten werden deutlicher als die Körper. Lolito wird noch zappeliger, er erzählt Witze aus Neandertal, quiekt, zwitschert. Irre Wanda aber hypnotisiert Joker mit ihrem Schlangenblick, der Zauberer hebt wieder den Kopf, nickt ihr zu, hebt eine Hand mit zwei ausgestreckten Fingern. Irre Wanda schrillt kurz auf, schreitet davon.

Ich muss mir jetzt was einfallen lassen, auch die anderen machen ihren Abgang. Ich schaukle mich wieder hoch, lache hinunter, der Zauberer steht auf, blickt auf sein Werk, sagt: „Was ist, Hühnchen? Nicht, dass die Bullen dich schon suchen.“

„Cheerio, Joker!“

Ich springe von der Schaukel, ich bin ein Tier, eine Füchsin, verdrücke mich ins Dunkel. Jetzt muss alles schnell gehen, ich habe einfach keine Zeit mehr. Irre Wanda finde ich im Café am Eck, was so ziemlich der mieseste Schuppen der Stadt ist. Außer einem Glas Milch kann man hier alles bestellen, ein Mord steht auf der Karte gleich neben dem Jägerschnitzel.

Irre Wanda sitzt vor der Theke auf einem Hocker, die Spitze ihres Zeigefingers zwischen den Korallenlippen, einen Eckensteher vor sich, ein Gebräu, das mich einmal fast das Leben gekostet hat. Sie schaut gierig auf einen Kiffer, an dem selbst der Jeansanzug totenblass ist.

„Irre Wanda“, sage ich. „Sorry, wo ist denn Lolito?“

„Du, Kleines.“ Sie flüstert, als hätte sie nur Geheimnisse mitzuteilen, rau und doch sanft, nickt zur Hintertür, durch die es auf den Hinterhof zu den Toiletten geht. „Glas Muttermilch, Kleines?“

„Nein, danke, Irre Wanda.“

Ich muss zur Sache kommen, bevor Lolito wieder an ihr haftet.

„Ich soll dir was sagen, Irre Wanda.“

Ich mag die schwarze Spinnenfrau. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn meine Eltern so eine große Schwester zustande gebracht hätten. Ich will Irre Wanda nicht verletzen, aber ich muss es jetzt wohl tun.

Da betritt auch schon Lolito, schöner Mann, die Bühne, ich sage schnell: „Joker lässt dir sagen, das klappt heute nicht. Du weißt schon. Er - er hat was anderes vor.“

Irre Wanda beißt sich fast den kleinen Finger ab, ich spüre den Schmerz, ich weiß, wie sehr sie den Zauberer braucht, seit dem sie nicht mehr kifft.

Lolito ist heran, legt eine Hand auf Irre Wandas Schulter, blickt mich bohrend an. „Was ist denn, du Laus?“

„Nichts ist.“

Die Füchsin N Punkt verdrückt sich nach draußen, ich bleibe auf der Spur, diesmal lasse ich mich nicht jagen, ich jage selbst.

Es ist wohl alles für einen Augenblick vorbereitet, mein ganzes dummes Leben. In Luisas Künstlergarderobe, ein alter Schuppen im Garten ihrer Eltern, habe ich die Auswahl: Röcke, Hosen, Pullis, Schuhe, Stiefel, gespenstisch teure Dessous, Peitschen, Ketten, Handschellen, eben solche Behelfskonstruktionen. Ich ziehe mich schnell aus, langsam wieder an. Ich muss nicht mehr überlegen, so oft habe ich es schon in Gedanken getan. Diesmal schminke ich mir kein Clownsgesicht, das fühle ich, denn ich habe die Petroleumlampe nicht angezündet. Mein Gesicht ist das einer Frau, ich bin ganz zufrieden mit mir.

Als ich aus dem Schuppen trete, zu rennen beginne, verwandelt sich die Füchsin in eine Wölfin. Auf dem Garagenhof packt mich für einen Moment die Angst, ich lache leise Irre Wandas Lachen, taste die Stiege zum Wohnwagen hoch. Die Tür ist einen Spalt geöffnet, drinnen ist es dunkel, ich höre Musik, leise, irgendwas gespenstisch Orientalisches, wie es Irre Wanda mag.

„Nun komm schon. Oder willst du, dass ich kaputt gehe?“ Jokers Stimme, anders als sonst, mit einem Klang, brutal und zärtlich zugleich, der mich erschreckt und lockt. Einen Augenblick zögere ich, dann trete ich ein in Zauberers Reich. Ich bin wie blind, taste Joker auf der Liege, bleibe vor ihm stehen.

„Irre Wanda. Wanda?“

Joker richtet sich ruckartig auf, ich öffne die Augen, vor mir sitzt er, der Zauberer, nackt, bis auf den durchlöcherten Cowboyhut, starrt mich an, sagt: „Du?!“

Der Mann steht unter Schock, ich auch.

„Ja“, sage ich. „Ja. Ich bin es.“

„Was ist denn? Ist was passiert?“ Joker zieht den Hut, legt ihn auf seinen Schoss.

„Ja. Ja, Joker.“

„Was denn, verdammt noch mal! Nun rede schon!“

Ich möchte mich setzen, mir geht es nicht so hervorragend, was soll ich denn jetzt sagen?

„Ja“, mein debiles Ja sage ich.

„Ist was mit Irre Wanda? Was ist denn?!“ Seine Stimme klingt besorgt, viel zu besorgt.

„Irre Wanda ist okay“, sage ich. „Völlig okay.“

Joker greift aus dem Regal eine Weinflasche, lässt es gluckern, rülpst leise, fragt ruhiger: „Und warum ist sie nicht hier?“

Ich setze mich auf die äußerste Kante der Liege, sage: „Ich bin ja da, Joker.“

Der Zauberer scheint allmählich zu begreifen, er schaltet eine Wandlampe ein, wechselt von Rotlicht auf Blaulicht, sagt: „He, was soll das denn, Hühnchen?“

„Ich bin kein Hühnchen, Joker. Das siehst du falsch. Wirklich.“

„Was hast du denn da verschüttet, Hühnchen? Du riechst ja schärfer als ein französischer Puff.“

Ich muss Geduld haben mit so einem Mann, auch wenn er ein Zauberer ist, es dauert, bis er begreift, was ihm gut tut.

Bleu Feu. So gut wie das Beste, was auf dem Markt ist.“

„Was hast du denn da übergestreift, Mädchen?“ Joker drückt seinen Hut an den Schoss, lacht. „Ist denn irgendwo Fasching oder was in der Richtung?“

Männer sind Sadisten, vor allem haben sie keinen Geschmack, was Kleidung betrifft. Luisa meint, man muss ihre Unzulänglichkeiten ignorieren.

Joker nickt zur Spüle. „Wasch dir erst mal den Farbfilm ab.“

Ich beuge mich über das Spülbecken, halte mein Gesicht unter den dünnen Wasserstrahl. In meinem Kopf ist ein Wespennest, mir ist, als hätte ich Fieber, ich fühle mich sterbenselend. Als ich mich wieder umdrehe, sitzt Joker auf der Liege, er hat ein langes Jeanshemd angezogen, den Cowboyhut in die Stirn gedrückt.

„Joker“, sage ich, „Joker.“

„Am besten, du trittst jetzt den Rückzug an“, sagt Joker. „Wir vergessen das Ganze.“

„Rede nicht so, so vorsichtig“, sage ich. „Ich bin nicht schwachsinnig, keinesfalls, Joker. Und sage nicht ständig Hühnchen zu mir, das langweilt. Vor allem bin ich kein Kind mehr, wenn du verstehst, was ich damit sagen will. Sorry, ich habe Vergangenheit, Joker, ich kann durchaus auf Erfahrungen zurückblicken, Joker, ich weiß Bescheid.

„Geht schon in Ordnung“, sagt Joker, nickt, schüttelt den Kopf, lässt mich das Graugrüngelb in seinen Augen nicht erkennen.

„Ja“, sage ich. „Ja.“ Jetzt also sterbe ich.

„Kipp mir nur nicht um.“ Joker schiebt mir mit seinem Fuß einen Hocker hin. „Was ist denn eigentlich los? Du siehst verdammt grün aus, Hühnchen.“

Ich setze mich nicht, ich will das durchstehen. Des Zauberers Stimme klingt besorgt, aber nicht so, wie wenn es um Irre Wanda geht, anders eben, ganz anders klingt sie. Er ist einfach zu weit weg von mir, viel zu weit.

Ich schluchze, ich habe noch nie so geschluchzt, ich heule, so habe ich noch nie geheult, ich zittere, so gezittert habe ich in meinem Leben noch nicht.

„Verdammt“, sagt Joker. „Verdammt, verdammt.“

Joker rutscht auf der Liege hin und her, Geschluchze erschüttert mich, Tränen rinnen mir heiß und kitzelnd den Hals bis zu meinen Brüsten hinunter.

„Verdammt, verdammt!“, ruft Joker. „Noch mal verdammt!“

Er springt auf, setzt sich wieder, rutscht an mich heran, von mir weg, wieder heran, die eine Hand presst wieder den Cowboyhut auf die Oberschenkel, als hätte er dort einen Schatz zu behüten. Mit der anderen Hand umfasst er meine Hand, drückt fest zu. Ich schreie leise auf, es ist, als hätte ich einen elektrischen Zaun berührt, doch dann spüre ich den Strom warm durch meinen Körper ziehen.

„Du musst dich nicht aufregen“, sagt Joker. „Hühnchen. Soll ich dir einen Kaffee kochen? Oder brauchst du was Härteres?“

„Erzähl mir was“, bitte ich den Zauberer. Ich würde zu gern meinen Kopf auf seine Schulter legen, ich möchte, dass er seine Hand auf meiner Haut wandern lässt, dort und dahin, überall hin.

„Was soll ich dir denn da sagen, Hühnchen?“

„Erzähle mir von dir, Joker.“

„Verdammt, verdammt. Von mir? Was denn da?“

„Alles will ich wissen, Joker. Einfach alles.“

Ich habe es geschafft, tatsächlich, mein Kopf liegt auf Jokers Schulter, seine Hand, die meine Hand hält, löst sich langsam, fährt über meinen Handrücken, das Handgelenk, über den Unterarm zum Oberarm hoch. Ich spüre, wie unzählige Härchen sich auf meiner Haut aufrichten, wie ich leichter, immer leichter werde. Was da noch von mir übrig bleibt, schenke ich dem Zauberer.

Jokers Hand bleibt auf meinem Nacken liegen, als wüsste sie nicht, ob sie nach oben oder unten, da oder dort hinübergehen, ob sie überhaupt weiter wandern soll. Sie liegt heiß und schwer auf mir, sie wird immer heißer und schwerer. Ich fühle, der Zauberer ist an dem unsichtbaren Punkt angelangt, wo sich viel, vielleicht alles entscheidet.

Wie von Geisterhand öffnet sich die Tür. Irre Wanda hat ihren Auftritt, sie sieht von mir zu Joker und zurück, viel Weg muss ihr Blick da nicht zurücklegen, so eine Frau begreift schnell. Sie stimmt ihr Wahnsinnslachen an, schluckt es runter, legt mir einen Arm um die Schulter. Wir sind Schwestern, für einen Augenblick sind wir Schwestern, ich lehne meinen Kopf an ihre Brust. Eben noch verbrannte ich, jetzt friert´s mich. Alles mit mir geht langsam, wie in Zeitlupe, ich denke, dass ich nur noch einen halbwegs professionellen Abgang hinkriegen muss, sonst nichts.

Irgendwie habe ich es geschafft, ich stehe auf dem Garagenhof im Scheinwerferlicht. Irre Wandas Stimme kratzt an meinem Trommelfell. „Kleines? Wird's gehen? Ach, Scheiße.“

Ich bin ein Tier, eine Katze, nicht umzubringen, ich hinke davon, wird schon gehen, es geht schon, geht.

Zwei im Spinnennetz

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