Читать книгу Zwei im Spinnennetz - Gunter Preuß - Страница 4

3.

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Ich bleibe ruckartig stehen, meine Arme verlieren langsam an Höhe.

Der Motorenlärm täuscht auf dem Garagenhof Stille vor, eine Menschenmenge starrt auf den stählernen Käfig, in dessen Rund sich zwei Todesfahrer auf ihren Maschinen jagen. Die zwei sind auf den Silberpfeilen, in der schwarzen Lederkleidung, den mächtigen Schutzhelmen nicht zu unterscheiden, doch ich fühle, wer von beiden der ist, den sie Joker nennen. Es ist erst ein paar Wochen her, dass ich ihn bei den Todesfahrern gefunden habe, aber ich brauche nicht seine Fingerabdrücke, um ihn unter fünf Milliarden Menschen zu identifizieren.

„Joker!“, rufe ich. „Joooker!“

Für ein paar Augenblicke werde ich ruhig, als ich Joker im stählernen Käfig seine Runden drehen sehe. Ich denke an ein Modell eines Planetensystems, in dem Gestirne umeinander kreisen. Dahinein wünsche ich mich, in den Käfig, der das All ist, auf Jokers Maschine, die ein Stern ist, der auf seinem Weg Kreise und Ellipsen zieht.

Der Garagenhof hat mich gleich von Anfang an, auf meiner Suche nach weiß nicht was, fasziniert, ein Abenteuerspielplatz für Erwachsene, etwas abseits vom Stadtbeton, an einem Gartenverein und dem schwindsüchtigen Stadtwald, den sie Rosental nennen, gelegen.

Die schmale Straße zum Garagenhof ist von den Lastkraftwagen und Wohnwagen der Todesfahrer zugeparkt. Vor zwei Hallen, die unverputzt jede Sorte Stein sehen lassen, denen stellenweise das Dach fehlt, liegt herum, was viele wegwerfen und einer zusammenträgt: Eisenträger, Sand, eine Feuerwehr, Feldsteine, ein kompletter uralter Tante-Emma-Laden, ein Bagger ohne Räder, Verkehrsschilder, eine Theke, Großmutters Sofa ... das geht so weiter in den Hallen. Über allem spannt sich ein Hochseil von Mast zu Mast, auf den Podesten stehen zwei nackte Kleiderpuppen, die Indianerstutz tragen und Piratenflaggen wehen lassen.

Joker ist ein Jäger, er jagt seinen Partner, es muss der Doktor sein, den sie Marx nennen. Oder hetzt Marx Joker?

Die Geschwindigkeit der Motorräder ist zu hoch, der Vorderreifen von Jokers Rakete klebt förmlich an der Maschine von Marx' Hinterreifen. Marx versucht sich zu lösen, rast auf und ab, um Joker vor sich hertreiben zu können. Die Motoren röhren, spucken, es stinkt großartig nach Benzin. Bleigraue Wolken stehen im Garagenhof, mir wird übel, ich kann da nicht mehr hinsehen, ich kann auch nicht die Augen schließen.

Rings um den Käfig, in achtungsvollem Abstand, haben sich Zuschauer eingefunden. Vielleicht ist mir schlecht von ihrem fauligen Schweißgeruch, es sind allesamt Stinker, die bei jeder Volksbelustigung wie Autounfälle, Großbrände, Überschwemmungen zu finden sind.

Aus dem Käfig kracht es, Schreie aus dem Publikum, der Geruch nach heißen Reifen.

„Aufhören!“

Um mich dreht sich der Garagenhof, schneller, enger ziehen sich die Kreise, jeden Moment kippe ich in die Horizontale, wo denn festhalten?

Vor dem Käfig entdecke ich die anderen von der Mannschaft, konzentriere mich auf sie: Irre Wanda, ganz in schwarz, hautenges Lederkostüm, die Augen hinter einer monströsen Sonnenbrille verborgen, an den schwarzen Rasterlocken jede Menge schwarze Plastikspinnen; sie ist hochgewachsen, Beine, die von der Erde bis in den Himmel reichen, steht einmalig lässig, dabei doch gerade, ein First Class Model, wenn andere gehen, schreitet sie. In Griffnähe, Lolito, schöner Mann, fetter Buddha mit Froschkönigblick, finsteres Mittelalter, mindestens schon über die dreißig, ehemalige Lachgröße beim Wrestling, ungemein beweglich, scharfzüngig. Ein zweites Pärchen bilden Kongo und Rübezahl. Kongo ist Schwarzer, Muskelpaket, spricht brutales Sächsisch, gutmütig wie Onkel Toms Hütte, liefert Tanznummern ab wie ehemals Patrick Swayze. Rübezahl ist der Mechaniker der Mannschaft, Pole, Bergmännlein ganz aus braunen Sehnen und Falten, blaue Kinderaugen, Gorillapranken, mindestens tausend Jahre alt, eisgrauer Vollbart, Kettenraucher, ein großer Schweiger vor dem Herrn.

Ich riskiere einen Blick zum Käfig. Marx und Joker jagen einander noch immer, sind nicht mehr zu unterscheiden, nur noch Blitze, die umeinander zucken. Marx, Doktor, Professor gar, Todeskandidat, alle wissen, dass er den schmalen Grat zwischen freien Flug und Absturz sucht, soll Mitte dreißig sein, macht aber den Eindruck, als hätte er das Doppelte auf dem Buckel. Er ist das Abbild eines intellektuellen Mickerlings, eine Fundgrube für Magenspezialisten, er fühlt sich immer noch im grauen Anzug wohl, mit weißem Hemd, schwarzem Schlips; bei den Roten war er an der Uni Dozent für Philosophie und Parteisekretär, die Kapitalisten haben ihn nach der Wende mit seinem Doktorhut per Eilpost nach Hause geschickt.

„Joooker!“

Ich erlebe den Schock ein paar Sekunden vorher - dann ein Kratzen, das wie kantiges Eis unter die Haut geht, Motoren heulen auf, würgen ab, ich sehe in eine Stichflamme.

Kein Finger will sich rühren, alles außer Betrieb, die Zuschauer rennen in Deckung. Auch die Mannschaft prallt zurück, keine Schreie, nichts, absolute Stille, der Käfig ist in einer schwarzen Rußwolke verschwunden.

Rübezahl, Berggeist ohne Nerven, kommt mit einem Feuerlöscher gehinkt, das Ding funktioniert nicht, natürlich nicht, hier ist alles nur Attrappe. Was denn nun?! Was denn jetzt?!

Die schwarze Wolke hebt sich, langsam, wie ein Vorhang, die Käfigtür dreht auf - heraus treten Joker und Marx. Die beiden sehen topfit aus, sie ziehen die Schutzhelme wie Zylinder vom Kopf, vollbringen eine einwandfreie Verbeugung.

„He, hallo!“, ruft Joker, der Zauberer, lacht, dass man ihm jede Schandtat vergibt und sich selbst gleich viel besser fühlt. Marx steht gebeugt daneben, als trüge er die ganze Welt auf den Hähnchenschultern; sein gelbsüchtiges Gesicht erscheint wie eine knittrige chinesische Maske mit trüben blauen Augen.

Jetzt rieche ich den Beschiss, er stinkt gewaltig. Nichts als Feuerwerk, Theatergewitter, für ein paar Mark zu haben. Ich renne los, da ich weder Schwinger noch Haken schlagen kann, hole ich zu einer bewährten Ohrfeige aus.

Jokers Hand umspannt meinen Unterarm, er sagt, noch immer lachend, zur Mannschaft: „Na, wie waren wir?“

Als ich mich beruhigte habe, lässt er mich los.

Die schwarze Wolke zieht ab, gibt den Käfig frei, in dem die beiden Silberpfeile in altem Glanz nebeneinanderstehen. Das Publikum verzieht sich enttäuscht, die Stinker haben wohl auf ein paar Liter Blut und ein paar abgerissene Arme und Beine gehofft.

Die Todesfahrer sind nun unter sich, mich dulden sie als Fan, den man Kaffee kochen lassen und Brötchen holen schicken kann. Sie wissen nichts von mir, keiner fragt mich was, keine Ahnung, ob sie mich vermissen würden, wenn ich weg wäre.

Big Crash“, sagt Joker. „So könnte die neue Nummer heißen. Da ist Marx doch was eingefallen. Den Knaller kann man ausbauen. Ich verspreche euch, damit kommen wir in die Schlagzeilen und ins große Geschäft. Nun sagt schon was, Leute.“

Joker, der Zauberer, steht im Garagenhof vor der Mannschaft, die es sich auf einem Stapel alter Autoreifen bequem gemacht hat. Obwohl Joker tiefer steht, als die anderen sitzen, ist es, als schauten sie zu ihm hinauf. Joker steht wie immer auf großer Bühne und hat seinen Auftritt. Das wirkt bei ihm nicht eitel und mittelpunktsüchtig, denn er muss nicht in Panik geraten, übersehen zu werden. Joker ist einfach Number One, er wäre es auch in Hollywood, ohne Schminke und Toupet. Dabei ist er kein Schönling, aber er ist selbst von einem Blinden nicht zu übersehen, obwohl er weder einen aufgeblasenen Body noch Dackelaugen hat. Ich denke mal, Joker ist im besten Alter, so über die zwanzig, er ist schmal, aber kein Hänfling, er hat umwerfend graugrüngelbe Augen, einen Mund, der eine Frau zum Lächeln zwingt, schulterlange braune Haare, in denen man seine Hände wärmen kann. Wenn er nicht in der Motorradkluft steckt, ist er ganz Cowboy, er trägt einen Hut, der von Indianerpfeilen durchlöchert ist. Nur ein pickeliger Spießer wird auf den Gedanken kommen, dass die Kopfbedeckung unter den Motten gelitten hat. Das ungefähr ist Joker.

Irre Wanda langt sich aus dem Tante-Emma-Laden eine Sektflasche, lässt den Korken knallen. Sie gibt dem Zauberer die Flasche - so muss Eva dem Adam den Apfel überreicht haben - Joker gönnt sich einen Schluck, dann geht die Buttel von Mund zu Mund. Als alle getrunken haben, hält Rübezahl mir die Flasche hin, ich nehme einen langen Schluck, obwohl ich auf das Schwindelwasser leicht verzichten kann. Das Prickeln steigt mir aus dem Bauch in den Kopf, ich setze mich auf ein Trapez, lasse mich sanft schwingen, höre den Todesfahrern zu, die über die neue Nummer reden.

„Kostüme“, meint Irre Wanda. Sie flüstert, ihre Stimme ist heiser, die Sätze sind zerhackt. „Richtige Verpackung, schon halb verkauft. Schwarz, alles in Schwarz. Darauf: phosphoreszierende Skelette. Die Helme als Totenköpfe.“

„Power, vor allem Power müssen wir zwischen die Seile bringen. Das Publikum nimmt alles ab, was einfach nicht zu fassen ist“, ruft Lolito neben Irre Wanda, hampelt mit Armen und Beinen. „Also Feuerwerk, dann Finsternis, holladihidiii!“

Man könnte meinen, Irre Wanda knabbert an den Fingernägeln, wenn sie noch einen aufzuweisen hätte. „Meinung, Joker?“

„Okay, Schwarz sticht!“

Kongo springt auf, lässt seine Muskelpakete anschwellen, bis er blauschwarz anläuft. Rübezahl, eine Selbstgedrehte im Bartgestrüpp, legt Kongo eine Gorillapranke auf die Schnürstiefel. Die Berührung war kurz und sanft, doch Kongo geht sogleich in die Hocke, lächelt verlegen, sagt in seinem unnachahmlichen Afrikan-Sächsisch: „Nu-uuh, isses doch wohhr.“

Marx doziert: „Nun ja, bei der Wahrheit kann man nicht bleiben, man muss sich ihr immer wieder neu nähern. Es ist eben so: Die lautesten Trommler gelten als die besten Musikanten.“ Der Doktor hält mangels Studenten nur noch Selbstgespräche, keine Ahnung, wovon er sich überzeugen will.

Big Crash - der totale Horror!“, flüstert Irre Wanda. „Plakate, in alle Welt. Die Show, abheben ins Nirwana. „

Ich sitze auf der Schaukel, lasse mich tragen vom Singsang. Ich höre den Todesfahrern gern zu, freue mich, wie sie in die Luft greifen, sich etwas zusammenspinnen, Geschichten, die in den nächsten Tag tragen.

„Joker“, sage ich lockend, ich singe es fast. „Joker.“

„Was liegt denn an, Hühnchen?“

„Nichts, Joker, gar nichts, nur so.“

Jokers Hände, die Figuren in die Dämmerung malen wie zu Urzeiten an Höhlenwände. Ein Hauch, ein Kitzeln, warm, leicht, auf meinem Gesicht, den Nacken hinunter, über die Arme, die Brüste, es nimmt sich den ganzen Körper, ich lasse es zu. Die Dunkelheit rückt den Sommer nahe, sie nimmt die lästige Schwere, es ist die Stunde der Schatten. Mitten im Wohlgefühl erschrecke ich, etwas packt mich, Angst. Jetzt spüre ich die Kühle der Nacht, ich gleite von der Schaukel, beginne zu rennen, weiß eine Zeit lang nicht, wo ich zu Hause bin.

Zwei im Spinnennetz

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